Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8.November 2019 ∙Nr. 260∙240. Jg. http://www.nzz.ch∙€3.20∙£2.


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Automobilindustrie: Die Branche braucht dringendHilfe Seite 17


«Carlos» bleibt

hinter Gittern

Gericht ordnet kl eine Verwahrung für BrianK. an


Wegen 29 Delikten ist der unter
dem Pseudonym «Carlos»
bekannt gewordene Straftäter
schuldig gesprochen worden. Die
ausgesprocheneFreiheitsstrafe
wird aufgeschoben – zugunsten
einer Massnahme.

FLORIAN SCHOOP, FABIANBAUMGARTNER

Das Bezirksgericht Dielsdorf hat am
Mittwoch den 24-jährigen Straftäter
BrianK.zu einerFreiheitsstrafevon
4 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Es
sprach den unter dem Pseudonym «Car-
los» bekannt gewordenen Straftäter in
allen Anklagepunkten schuldig.
Die Freiheitsstrafe wird jedoch zu-
guns ten einer Massnahme aufgescho-
ben. Das Gericht ordnete einestationäre
therapeutische Massnahme nachArtikel
59 des Strafgesetzbuches an. Diese wird
auch «kleineVerwahrung» genannt.Da-
bei wird alle fünfJahre überprüft,ob die
Therapie anschlägt oder ob weitere fünf
Jahre notwendig sind.

Verteidigunggeht in Berufung


Das Gericht sprach sich für die statio-
näre Therapie aus, obwohl sich der junge
Straftäter in derVergangenheit immer
geweigert hatte, eine solche zu absol-
vieren. Der imVerfahren beigezogene
Gutachter bezeichnete dieWahrschein-
lichkeit für den Erfolg einer Massnahme
denn auch als gering. Dennoch sieht das
Gericht in ihr die am ehesten Erfolg
versprechende Lösung.Auf die von der
Staatsanwaltschaft geforderte ordent-
licheVerwahrung verzichtete das Ge-
richt hingegen.
Während der Staatsanwalt mit dem
Urteilsspruch grundsätzlich zufrieden
ist, kündigte Brian K.sVerteidiger um-
gehend an,gegen das Urteil in Berufung
zu gehen.
Klar ist bereits jetzt: Der Fall «Car-
los» wird dieJustiz weiter beschäftigen.
Es geht dabei nicht nur um die am Mitt-
woch vom Bezirksgericht Dielsdorf be-

urteilten Straftaten,die allesamt hinter
Gefängnismauern stattfanden. Meh-
rere weitere Strafverfahren sind eben-
falls noch hängig. Die 29 Delikte, für
die Brian K. nun verurteilt worden ist,
decken nur den Zeitraumvon Januar
2017 bis Oktober 20 18 ab.Auch danach
kam es aber immer wi eder zuAusein-
andersetzungen. Der Staatsanwalt er-
öffnete deshalb bereits ein neuesVer-
fahren.

Ungeheizte ZelleohneMatratze


Auch zu früherenVorfällen sind wei-
tere Untersuchungen hängig. In meh-
rere n Verfahren wird der junge Straf-
täter als Geschädigter geführt. Im April

diesesJahres etwareichte Brian K. An-
zeige gegen Mitarbeiter derJustizvoll-
zugsanstaltPöschwies ein.Zudem klagte
er wegen einesVorfalls bei einem Ge-
fangenentransport.
Noch immer hängig ist zudem eine
Strafuntersuchung gegen mehrereÄrzte.
Hintergrund dafür bildet eine Mass-
nahme aus demJahr 2011. Bria nK.
wurde damals als 15-Jähriger in die
Psychiatrie eingeliefert, weil er versucht
hatte , sich das Leben zu nehmen. Dort
fesselte man ihn dreizehnTage lang ans
Bett und stellte ihn mit Medikamen-
ten ruhig.In einem anderen hängigen
Fall soll der junge Mann im Gefängnis
Pfäffikon in eine ungeheizte Zelle ohne
Matratze verfrachtet worden sein. Dort
habe man ihm zeitweise nur Brot und
Wasser gegeben.DerVorfall hat bereits
den ZürcherRegierungsrat beschäftigt.
Eine Untersuchung kam zum Schluss,
dass Brian K. erniedrigend behandelt
worden sei. Der damalige Gefängnis-
direktor musste sein Büroräumen.

Die deutsche Regierung lobt sich selbst


Die grosse Koalition zieht Bilanz zur Halbzeit der Legislatur


JONAS HERMANN, BERLIN


Die deutsche Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) undVizekanzler Olaf
Scholz (SPD) haben am Mittwoch in
Berlin eine Halbzeitbilanz derRegie-
rungskoalition gezogen. Ihr Urteil fiel
erwartungsgemäss wohlwollend aus.
Von 300 geplantengrossen Massnah-
men seien zwei Drittel vollendet oder
auf denWeg gebracht worden, sagte
Merkel: «Das zeigt, dass wir arbeits-
fähig undarbeitswillig sind.»
DerAnfang 2018 vereinbarteKoali-
tionsvertrag enthält drei grosseVer-
sprechen. DieParteien CDU, CSU und
SPD,die mit der Neuauflage der gros-
sen Koalition eineVernunftehe einge-


gangen waren, die schon bald an eine
Zwangsehe erinnerte, kündigten darin
einen «neuenAufbruch für Europa»
an, eine «neue Dynamik für Deutsch-
land» und einen «neuen gesellschaft-
lichen Zusammenhalt».

Gefangen im Klein-Klein

Statt sich indes mit den grossen Linien
zubefassen,verheddertesichdieKoali-
tion oft im Klein-Klein.So war es beim
Ringen um einenAsylkompromiss, der
im Alltag nichts änderte,oder beim
Konflikt um den ehemaligenVerfas-
sungsschutzchef Hans-Georg Maas-
sen, dessen unbedachteÄusserungen
von der SPD zurFrage von nationaler
Bedeutung erklärt wurden.
Auch die Zwischenbilanz derKoali-
tion fällt kleinteilig und detailversessen
aus.Auf 83 Seiten listet sie alleVerein-
barungen undVorhaben auf, bleibt aber
den Nachweis schuldig,Antworten auf
diedrängendenpolitischenProblemege-
funden zu haben. Die unregulierte Zu-
wanderung ist nach wie vor nicht unter
Kontrolle, das Verhältnis zu zahlreichen
internationalen Bündnispartnern istan-
gespannt, und die ökologisch-soziale
Frage steht unbeantwortet imRaum.
Die Zwischenbilanz zeigt, dass auch
diese grosseKoalition stark sozialdemo-
kratischgeprägtistundGeschenkeanbe-
stimmte Bevölkerungsgruppen verteilt.
Die Parteien loben sich darinetwa für
das Baukindergeld und die Mütterrente.
FürdasBündnisspricht,dassesinnur
eineinhalbJahren zahlreiche Punkte
des Koalitionsvertrags umgesetzt hat.
So wurde beispielsweise ein Zuwande-
rungsgesetz verabschiedet, das endlich

die Einwanderung vonFachkräften er-
leichtert. In der Zwischenbilanz neh-
men dieKoalitionäre auch für sich in
Anspruch, entschlossen aufEnt wick-
lungenreagiert zu haben, die nicht ab-
sehbar gewesen seien.Damit ist zum
Beispiel die weltweite Klimabewegung
ge meint.DerProtestbrachtedieRegie-
rung dazu, innerhalb wenigerMonate
ein Klimapaket zu verabschieden.Man
werde die internationalen Klimaziele

für dieJahre 2030 und 2050 einhal-
ten, heisst es nun im Zwischenfazit der
Koalitionäre, obwohl dies zumindest
für dasJahr 2030 unrealistisch scheint.
Es is t nicht das einzige ambitionierte
Ziel: In einem anderen Kapitel heisst
es, dass man langfristigVollbeschäfti-
gung anstrebe.

Steigt die SPD bald aus?

Ebenfallsauf derAnkündigungsliste fin-
det sich die Grundrente,über dieCDU,
CSU und SPD seit Monaten streiten.Die
Fronten sind derart verhärtet, dass der
Konflikt an den Grundfesten derKoali-
tion rüttelt. Sollte das Bündnis halten,
würden Union und SPD bis etwa Ende
2021 gemeinsam weiterregieren. Mög-
licherweise wird sich die SPD aber vor-
her aus derKoalition zurückziehen.Auf
einemParteitag Anfang Dezember wol-
len sich die Genossen darüber beraten.

SONIA MOSCA / CONTROLUCE / AFP

Das grösste Problem


liegt abseits des Spiels


Die Fanklubs im italienischenFussball werden seitJahrzehnten durchRechtsradikale
unterwandert. Buhrufe und Affenlaute gegen Spieler wie MarioBalotelli sind an der
Tagesordnung. Zwar gibt es auchWiderstand, wie beispielsweise imFebruar 2016, als
sich Napoli-Anhänger mit ihrem Spieler KalidouKoulibaly solidarisierten (im Bild),
doch dieWirkung bleibt insgesamt marginal. Sport,Seite

Das Urteil
KleineVerwa hrung:Der Richter gibt
«Carlos» noch eine Chance. Seite 31

Kommentar:EineResozialisierung
im Gefängnis wirdschwierig. Seite 19

«Das Mitspracherecht


der Eltern ist fragwürdig»


Erziehungsexpertin Margrit Stamm zum Gymi-Übertritt


dgy./ase.·Die wohl renommier-
teste Erziehungswissenschafterin der
Schweiz, Margrit Stamm, kritisiert das
Mitspracherecht der Eltern beim Über-
tri tt ihrer Kinder ins Gymnasium. «Ich
halte dies für fragwürdig, denn die
Lehrpersonen werden dadurch einem
ungeheuren Druck ausgesetzt», sagt die
69-jährige emeritierte Professorin an
der UniversitätFreiburgimInterview
mit der NZZ. Zudem werde dadurch
auch die Chancengleichheit beeinträch-
tigt. «Typischerweise sind es Eltern mit

akademischen Berufen oder mit Kader-
funktionen,die sichauch in den Schu-
len durchzusetzen wissen», sagt Stamm.
«Es wäre notwendig, solchen Effekten
entgegenzuwirken.»
Die Bildungsforscherin kritisiert dar-
üb er hinaus die zunehmende Akademi-
sierung derAusbildungen. «Für immer
mehr Berufe benötigt man nicht nur
einen tertiären Abschluss, sondern so-
gar einen Master.»Das verstärke die
Sogwirkung der Gymnasien.
Schweiz, Seite 27

Angela Merkel
lähmt ihr Land
Kommentar auf Seite 19

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