Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Freitag, 8. November 2019 MEINUNG & DEBATTE 17


Experten rechnen für das laufendeJahr mit einem Schrumpfen deschinesischen Automarktes um rund 12 Prozent. SASCHA SCHUERMANN /GETTY

Die Autoindustrie bebt


Chinas Automarkt bricht aufgrund de s Handelskrieges ein. Das trifft viel e Hersteller hart.


Zudem geschieht der Schlagabtausch der Supermächte während der grössten Veränderungen


im Autosektor seit über 100 Jahren. Die Hersteller reagieren mit Fusionen und Kooperationen.


Von Michael Rasch, Frankfurt


In derAutomobilbranche hat der Kampf um die
Existenz begonnen.Das gilt für die Hersteller und
die Zulieferer sowie für die Anbieter in China,
Europa und den USA. Zwar wird dasAuto auch
künftig noch vierRäder haben, doch sonst steht
in der Branche fast alles auf dem Prüfstand. Mit
Fusionen und vorallem Kooperationen versuchen
sich dieKonzerne für eine Zukunft zu stählen, die
du rch den Umstieg vomVerbrennungsmotor auf
den Elektroantrieb,das (teil)autonomeFahren
und die Digitalisierung gekennzeichnet sein wird.
Und genau in dieser Stunde der grössten Heraus-
forderung hat der amerikanische Präsident Donald
Trump einen Handelskrieg mit China angezettelt.
Wenngleich vieleAutohersteller auch mit haus-
gemachten Problemen kämpfen, so zeigen sich die
Folgen bereits heute sehr stark imFahrzeugsektor
und wirken sich über diese Branche hinaus auf die
gesamte Industrie und dieWeltkonjunktur aus.


Rezession im deutschen


Industriesektor


In früherenWirtschaftsabschwüngen hat sich eine
Rezession oder eineKonjunkturverlangsamung
mit einer gewissen zeitlichenVerzögerung auf die
Autoindustrie übertragen. Das galt beispielsweise
für die weltweiteFinanz- undWirtschaftskrise in
denJahren 2008/09 und auch 2012 während der
europäischen Staatsschuldenmisere. Doch diesmal
ist es anders. Der von den USA ausgelösteWirt-
schaftskonflikt mit China, der primär mit einem
gegenseitigen Schlagabtausch von Zollerhöhungen
geführt wird, hat den Automobilsektor (undden
Maschinenbau generell) so stark getroffen, dass
ganzeVolkswirtschaften mit in den Strudel geris-
sen werden.Das gilt vor allem für Deutschland, die
Autonation par excellence. Zwischen Nordsee und
Alpen befindet sich die Industrie bereits seit einem
Jahr in einerRezession, und die grosse Schwäche
im verarbeitenden Gewerbe droht sich inzwischen
auf den Dienstleistungssektor zu übertragen.Die
Experten des CenterAutomotiveResearch der
UniversitätDuisburg-Essen schätzen, dass auf-
grund desWirtschaftskrieges in derAutobranche
bereits 700 Milliarden Euro an Umsatzerlösen ver-
loren gegangen sind.
In vielen Industrienationen sind die sogenann-
ten Einkaufsmanagerindizes für das verarbei-
tende Gewerbe, die ein guterFrühindikatorfür
die Entwicklung der Industrie sind, deutlich zu-
rückgegangen.In etlichenLändern zeigen sie be-
reits eine Schrumpfung derWirtschaftsleistung in
diesem Bereich.Doch nirgends ist der Einbruch
mit nur noch knapp 42 Zählern so dramatisch wie
in Deutschland. Selbst die einschlägigen Indika-
toren fürJapan undKorea – zwei ebenfalls sehr
offene Volkswirtschaften mit starkerAutomobil-
industrie, die vom möglichst ungehinderten inter-
nationalenWarenfluss sehr abhängig sind – weisen
mit rund 48 Punkten noch deutlich bessereWerte
auf.Zahlen unter50Punkten zeigen dieKontrak-
tion des Sektors an, während solche über 50 auf
eine Expansion hinweisen.
Ein wichtiger Unterschied zu den beiden vor-
hergehendenWirtschaftsabschwüngen zeigt sich
am Automarkt in China selbst.Während sowohl die
Finanz- als auch die Staatsschuldenkrise am chi-
nesischenAutomobilmarktkeine nennenswerten
Spuren hinterlassen haben und die Käufe trotz-
demJahr fürJahr kontinuierlich gestiegen sind,
zeigt sich diesmal ein anderes Bild. Der Absatz
von Autos ist imReich der Mitte imJahr 2018 mit
–4 Prozent erstmals seit über einem Dezennium
gesunken.Für 20 19 rechnen Experten sogar mit
einem Einbruch von rund 12 Prozent. Das ist ein
herberRückschlag für die Branche in demLand,
das für deutsche Hersteller von enormer Bedeu-
tung ist – trotz einer grundsätzlich guten Diversi-
fikation über dieTriade-Märkte Europa, USA und
China/Japan. DerAutomarkt in China war mit 23,
Millionen verkauftenFahrzeugen im letztenJahr
rund 50 Prozent grösser als jener derVereinigten
Staaten. Zugleich tragen der Handelskrieg und die
Probleme desAutosektors sowie derenWechselwir-
kungen zur generellen Konjunkturverlangsamung
in China wesentlich bei.
Die Volksrepublik mit ihren 1,4 Milliarden Ein-
wohnern ist für den gesamtenAutomobilmarkt
von erheblicher Bedeutung. Der globale Markt ist
in den vergangenen knapp15 Jahren um 52 Pro-
zentgewachsen, ohne China wären es nur 9 Pro-
zent gewesen. DieVerkäufe der deutschen Her-
steller, die in demLand besonders stark sind,
haben sich seitdem versiebenfacht, wogegen sie
in der EU um 2 Prozent gesunken sind. In den
asiatischen Schwellenländern im Allgemeinen und
in China im Speziellen ist dieAutobranche noch
ein Wachstumsmarkt,dagegen sind dieMärkte in
Europa, den USA undJapan ges ättigt und bewe-
gen sich vor allemrelativ synchron mit derKon-
junktur. Entsprechend wichtig ist die weitere Ent-
wicklung derAutokonjunktur imReich der Mitte.
Die Folgen einesVerlusts desVertrauens in die
internationalen Handelswege lassen sich mittelfris-
tig noch gar nicht abschätzen. Manche Ökonomen
befürchten, dass sich eine anhaltende Deglobali-
sierung auf dasPotenzialwachstum Deutschlands
negativ auswirken wird.


Während der Handelskrieg die deutschen Her-
steller besonders hart trifft, müssen sich zugleich alle
Hersteller und Zulieferer auf das äusserst heraus-
fordernde Branchenumfeld einstellen. Der Umstieg
vomVerbrennungsmotor auf den elektrischen An-
trieb inklusive desAufbaus einerLadeinfrastruktur
und des Angebots von Mobilitätsdienstleistungen ist
eine tektonischeVerschiebung, wie es sie seit der Er-
findung desAutomobils vor mehr als hundertJahren
wohl nicht gegeben hat. DieVorbereitung auf das
(teil)autonomeFahren und die immer stärker voran-
schreitende Digitalisierung tun ein Übriges. Diese
drei grossenTrends erfordern Milliardeninvestitio-
nen, die sich nicht jederKonzern leisten kann.

Zunehmende


Zahlungsausfallrisiken


WährendVolkswagen trotz den immensenKosten
des Dieselskandals in Höhe von rund 30 Milliarden
Eurovor Kraft strotzt und in denkommendenJah-
ren mehrereDutzend Milliarden Euro in die Elek-
tromobilität, das autonomeFahren und die Digita-
lisierung investieren will, stossenKonzerne wieFiat
undFord an ihre Grenzen.Fiat hat es zwar unter
dem verstorbenenKonzernchef Sergio Marchionne
geschafft, die erdrückende Schuldenlast abzubauen.
Doch dies ging zulasten von technischen Innovatio-
nen und neuen Modellen. SowohlFord in Europa
als auchFiat sind in Sachen Elektromobilität blank
und haben auch nichts in der Pipeline. Fo rd will erst
gegen Ende 2020 ein entsprechendesFahrzeug aus
den USA importieren, um es in Europa auf den
Markt zu bringen.
Derlei Defizite versuchenKonzerne durch sinn-
volleKooperationen auszugleichen. Unter diesem
Blickwinkel sind auch der in der letztenWoche an-
gekündigte Zusammenschluss von PSAPeugeot
Citroën undFiat ChryslerAutomobiles (FCA) sowie
die in diesemJahr bekanntgegebene intensive glo-

bale Zusammenarbeit von VW undFord bei leich-
ten Nutzfahrzeugen und Pick-ups sowie bei der E-
Mobilität und dem autonomenFahren zu sehen. In
eine ähnliche Richtung zielen ferner dieKoopera-
tionen von BMW undDaimler bei Mobilitätsdiens-
ten sowievon BMW undJaguarLand Rover beim
Elektroantrieb. Die Gründe für solcheKoopera-
tionen sind vor allem der Zugang zuTechnologie,
Know-how und neuen Märkten, dieReduktion der
in der Branche sehr hohenFixkosten durch Skalen-
erträge und dieTeilung von Risiken durch gemein-
same Investitionen.
Wie wichtig das Heben vonSynergien imderzeiti-
gen Umfeld ist, zeigt auch die Entwicklung des Zah-
lungsausfallrisikos in der Branche. Laut dem Kre-
ditversicherer Atradiuskönnen immer mehr Unter-
nehmen im strukturellenWandel derAutobranche
nicht mehr mithalten. Besonders grosse Unsicher-
heiten beträfen derzeit Zulieferer und Händler in
Europa und China.Danach dürften in denkom-
menden zwölf Monaten die Insolvenzen am stärks-
ten in der britischenAutomobilbranche (+7 Pro-
zent gegenüber demVorjahr) zunehmen.Danach
folgen China und Italien (+5 Prozent),Frankreich
undPolen (+3 Prozent) und schliesslich Deutsch-
land (+2 Prozent). Diese Prognose ist ein weiteres
Alarmsignal, nachdem dieWorte «Kurzarbeit» und
«Stellenstreichungen» in der Branche immer häufi-
ger aufgetaucht sind.
DieseWarnsignale sollten endlich auch die
Regierungen der klassischenAutonationen hören,
besonders dieAdministration in den USA. Die in
zahlreichen Staaten bedeutendeIndustrie fährt ge-
rade in den perfekten Sturm.Damit möglichst viele
Hersteller und Zulieferer aus diesem heil heraus-
kommen, benötigt die Branche nicht weitereAuf-
lagen, sondern Unterstützung. Insofern sollten die
USA und China ihren Handelskonflikt möglichst
schnell beilegen.Kooperation ist nicht nur das Ge-
bot der Stunde für dieAutokonzerne, sondern eine
neuerliche Evolution derKooperation ist vor allem
zwischen den Staaten überfällig.

Der globale Markt


ist in den vergangenen


knapp fünfzehn Jahren


um 52 Prozent gewachsen,


ohne China wären es


nur 9 Prozent gewesen.

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