Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


36 SPORT Freitag, 8. November 2019

Die Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft reist


mit vi elen Komparsen an den Deutschland-CupSEITE 37


Die Golferin Albane Valenzuela ist ab 20 20


auf der lukrativsten Profitour spielberechtigt SEITE 37


Rassismus als Teil des Spiels


Der Wutausbruch des Stürmers Mario Balo telli weist auf ein langjähriges un d tief sitzendes Problem im italienischen Fussball hin


TOM MUSTROPH, MAILAND


Am Sonntagnachmittag führteder Bre-
scia-Stürmer MarioBalotelli vor, welch
grosse Kraft in seinemFuss steckt. Er
schoss einenBall an den Pfosten und
erzieltespäter dasTor, das den2:1-Sieg
im Match gegen HellasVerona bedeu-
tete. Doch die wichtigste Geschichte
um Balotelli handelte von einem ande-
ren Schuss. Kurz nachWiederanpfiff
zur zweiten Halbzeit war nicht dieTor-
konstruktiondas Ziel.Vielmehr drosch
Balotellieinen Ball in dieFankurve von
HellasVerona, aus der errassistische
Schreiereien vernommen hatte.Danach
machteBalotelli Anstalten, sich vom
Spielfeld zu entfernen. Er wollte wahr
machen, was er schon vor sechsJahren,
damals imTrikot derAC Mil an, nach
einerWelle von Beleidigungen angekün-
digt hatte: den Platz zu verlassen. Mit-
spieler und auchGegenspieler versuch-
ten,ihn daran zu hindern. Sie redeten auf
ihn ein. Andere wandten sich derFan-
kurve zu, um auch hier die Gemüter zu
beruhigen.Schliesslich wurde der Match
für zehn Minuten unterbrochen.
MarioBalotelli, geboren inPalermo
als MarioBarwuah, Sohn ghanaischer
Migranten, war in jedem seiner Karrie-
reabschnitte in Italien Ziel vonrassis-
tischen Beleidigungen.2009 wurde er,
beim FC Internazionale spielend, von
Juventus-Anhängern geschmäht. Der
Vorfall sorgte fürAufsehen, löste gar
eineRegeländerung aus. Schiedsrich-
tern war es fortan erlaubt, beirassisti-
schenVorfällen in Absprache mit dem
Sicherheitsverantwortlichen derPoli-
zei im Stadion einen Match zu unter-
brechen.


Buhrufe undAffenlaute


Die Anordnung veränderte wenig. Buh-
rufe undAffenlaute gab es weiter an fast
jedem Spieltag. Sogar bei sogenannten
Freundschaftsspielen. Berühmt gewor-
den ist dieReaktion vonKevin-Prince
Boateng vomJanuar 2013.Wegen Belei-
digungen durchFans des unterklassigen
Vereins ProPatria schossauchereinen
Ball wütend in Richtung derPöbler und
verliess dann denRasen. SeineTeam-
kollegen solidarisierten sich, gingen
ebenfalls vom Platz.
Doch selbst diese Szenen hatten
keine nachhaltigeWirkung. Das musste
ein paar Monate später wiederBalo-
telli erfahren. Bei der erstenRückkehr
in die Heimat – er war von Manchester
City zurAC Milan gewechselt – wurde
Italiens damals grösstes Stürmertalent
so massiv beleidigt, dass er androhte:
«Beim nächstenVorfall verlasse ich den
Rasen.»Das Klimawar derart vergiftet,
dass Balotelli nicht nur der Schutz ver-
sag t wurde. Marcello Nicchi, Präsident
der Schiedsrichtervereinigung AIA,
sagte gar:«Wer das Spielfeld aus Grün-
den des Protests verlässt, gilt als ausge-
schlossen vom Match.»
SechsJahre später modifizierteNic-
chi , wei terhin Italienshöchster Schieds-
ri chterfunktionär, seine Haltung. Nach
einem der vielenVorfälle in dieser Sai-
son, den rassistischen Rufen gegen
den Sampdoria-ProfiRonaldoVieira
durchAS-Roma-Fans beim Match des



  1. Spieltages, ermunterte Nicchi die
    Spieler dazu, in solchenFällen Hilfe
    bei denReferees zu suchen. Er forderte
    aber gleichzeitig die Mitglieder seines
    Verbands dazu auf, einen Match nicht in
    Eigeninitiative zu unterbrechen. «Es ist
    nichtAufgabe der Schiedsrichter, fest-
    zus tellen, aus welcher Ecke im Stadion
    ein Laut kommt oder welchesBanner
    ausgerollt wird», sagte Nicchi.
    Maurizio Mariani, der Schiedsrichter
    im Match zwischenVerona und Brescia,
    hielt sich am letzten Sonntag nicht an
    dieseVorgabe des Chefs. Er unterbrach


den Match. Er zog, einmalig bisher in
Italien, sogar eine gelbe Karte gegen
Balotelli zurück. Der Spieler hatte bei
seinem Protestschuss denBall in die
Hand genommen. Mariani verwarnte
Balotelli zunächstregelkonform,korri-
gierte aber die Entscheidung, nachdem
er die Motive erfahren hatte.
Die Aktion deutet auf einen Menta-
litätswechselzumindest bei den aktiven
Schiedsrichtern hin.Auch beimFussball-
verband tut sich etwas über die übliche
Beschwichtigungsrhetorik hinaus.

Die Täteridentifizieren


NachdemimHerbstdieErmittlung«Last
Banner» gegen die Anführer derFan-
organisationen desJuventus FC auch
gerichtsnotorisch belegt hatte, dass Fans
mitrassistischenBeleidigungengernihre
Vereine erpressen und sich über das Mit-
tel der drohenden SanktionierungFrei-
tickets und andereVorteile verschaffen,
schränkte derVerband die direkteVer-
antwortung der Klubs für Hassgesänge
in den eigenenFankurven ein.Klubs, die
konsequent helfen, die jeweiligen Täter
zu identifizieren, werden mit Strafnach-
lass belohnt. Bisher waren automatisch
Sanktionen gegen die Klubs verhängt
worden. Abhörmassnahmen derPoli-
zei gegenFananführer vonJuventus
demonstrierten hingegen deutlich: Ein-
zelneExponentenderCurvaSudfreuten
sichdarüber,dassalsReaktionaufrassis-
tischeGesängedieFankurvefüreinSpiel
geschlossenwurde.IhreSpekulation:Mit
dem Druck aufJuventus steigen dieAus-
sichten aufFreitickets wieder.
Die Verantwortlichen des italieni-
schenRekord meistersJuventus, die in

der Vergangenheit noch auf Angehö-
rige eines ’Ndrangheta-Clans gesetzt
hatten, um dieKurve unterKontrolle
zu bekommen, setzten in diesemFalle
auf denRechtsstaat. Sie erstatteten An-
zeigebei derPolizei. ZwölfFananführer
wurden festgenommen,Transparente
beschlagnahmt, Hausdurchsuchungen
durchgeführt.Weite Teile derJuventus-
Fanszene sind seitdem verärgert.«Wieso
sollen wir einenVerein unterstützen,der
uns verraten hat?», sagteein Ultra der

Gruppe«Tradizione», deren Chef eben-
falls in Haft sitzt. Nach der Brachial-
massnahme bliebenrassistische Gesänge
im Stadion derJuventus immerhin aus.
Der Verbandspräsident Gabriele
Gravina regte nach den jüngstenVor-
fällen an, in Zukunft Richtmikrofone,
wie sieAntimafiaermittler einsetzen,
in den Stadien zu installieren. So sol-
len die Hasssänger aufgespürt werden.
«Wir können das in Absprache mit dem
Innenministerium bereits beimLänder-
spiel gegen Armenien ausprobieren»,
sagte Gravina. Der Qualifikationsmatch

für die Europameisterschaft ist für den
18.November angesetzt.
Abschreckungsmassnahmen wie
diese können dierassistischen Arti-
kulationen einschränken. Die ideolo-
gischenVorlieben in denKurven sind
aber schwierig zukorrigieren.Luca Cas-
tellini,Fan-Bossvon Hellas Verona und
zugleich Exponent derrechtsradikalen
Partei Forza Nuova, sprachBalotelli am
Montag in einem Interview mit einem
Radiosenderab, jemals Italiener sein zu
können. «Er hat zwar die italienische
Staatsangehörigkeit, aber er wird nie-
mals ein richtiger Italiener sein»,sagte
Castellini. Infol ge dieses Interviews
wurde er vomVerein mit einem Stadion-
verbot bis 2030 belegt.
Die Hellas-Fans aber sagten sich
noch nicht von Castellini los. Sie fielen
in derVergangenheit durchrassistische
Sprüche auf – und dadurch, ihreAutos
in Hakenkreuzformation zu parkieren.
Castellini, der in derVergangenheit so-
garalsBürgermeisterkandidatvonForza
Nuova in der Stadt vonRomeo undJulia
antrat,ist nurein Beispiel für die jahr-
zehntelange Unterwanderung derKur-
vendurchRechtsradikale, Rassistenund
Antisemiten.
BereitsimSommer1989protestierten
die Ultras von Udinese Calciogegen die
Verpflichtung des israelischen Kickers
Ronny Rosenthal.Sie schrieben Hetz-
parolen wie «Judenraus!» und «Ab in
den Ofen» an die Mauern der nord-
italienischen Stadt. Der Klub gab da-
mals nach, schob medizinische Gründe
für die Nichtverpflichtung vor. In einem
GerichtsverfahrenmussteUdineseJahre
später eine Entschädigung an den Spie-
ler zahlen.

In den späten1990erJahren wur-
den dieKurven einiger Stadien von
offen faschistischenParteien wieForza
Nuovaregelrecht erobert. Unter den
kampfsporterprobten Ultras rekru-
tierteForza Nuova gern Ordner für
Versammlungen undAufmärsche. Wer
unter denrechtsaffinen Ultras mitrhe-
torischem Geschick auffiel, konnte im
Gegenzug Karriere in derKommunal-
politik machen.
Bei Lazio Rom fielen vor allemVin-
cenzo Nardulli undFabrizio Piscitelli
auf. Nardulli war wiederholt in Schlä-
gereien desLazio-Fanklubs «Irriduci-
bili» mit anderen Ultras sowie derPoli-
zei verwickelt. In diesemJahr wurde er
verhaftet,weil er amRande einer Mani-
festation vonForza Nuova zweiJourna-
listen des Magazins «Espresso» ange-
griffen hatte. Piscitelli,genannt Diabo-
lik, war eine noch schillerndereFigur.
Er wurde in diesemAugust auf offener
Strasse erschossen. Bis zu seinem ge-
waltsamenTod war er Anführer der «Ir-
riducibili». Er war zugleich im Drogen-
milieu aktiv. 2013 wurde bei Drogendea-
lern, die für ihn arbeiteten, eine halbe
Tonne Haschisch sichergestellt, die of-
fenbar aus Spanien kam.Vermögens-
werte in Höhe von zwei Millionen Euro
wurden bei ihm beschlagnahmt; er sel-
ber wurde zu einer Gefängnisstrafe von
drei Jahren und zwei Monaten verurteilt.
Neben dem Drogengeschäft hatte Pisci-
telli ein Merchandising-Netzwerk mit
Lazio-Trikots und -Schals aufgezogen.
Forza Nuova stand er ebenfalls nahe.
Auf seiner Beerdigung tummelten sich
nebenLazio-Ultras auchParteikader
von Forza Nuova.

Eine langeVorgeschichte


Die «Irriducibili» – übersetzt: die «Un-
beugsamen»– pflegen ihren toten An-
führerim Stadion mit grossenBannern
zu ehren. Und immer wiederrecken
sie ihre Arme zum sogenanntenrömi-
schen Gruss hoch– einer Geste aus
der faschistischen Mussolini-Zeit.Weil
dies auch beim Europa-League-Match
gegen Stade Rennes Anfang Okto-
ber geschah, verhängte die Uefa eine
Strafzahlung von 20000 Euro. BeiWie-
derholung droht der Curva Nord eine
Sperre. Die Wiederholung leisteten sich
die «Unbeugsamen» bald.Am 24. Okto-
ber zogen sie vor dem Match gegen Cel-
tic Glasgow mit demrömischen Gruss
durch die schottische Stadt. Die Uefa
leitete erneut eine Untersuchungein.
Rechte Gesinnung und die damit ver-
bundenenrassistischen und chauvinisti-
schenReflexe sind mit dem Calcio fest
verbunden. 2017 zählte das beim Innen-
ministerium angesiedelte Nationale
Observatorium zur Beobachtung von
Sportveranstaltungen unter 328 orga-
nisi ertenFangruppierungen151 poli-
tisch aktive, von denen 40 der extremen
Rechten und 45 derRechten zugeord-
net werden. Alsrechts geprägt oder zu-
mindestrechts unterwandert gelten in
derSerie AdieFanszenenvonLaziound
AS Rom, Inter Mailand, Atalanta Ber-
gamo und HellasVerona. Die Angriffe
auf MarioBalotelli inVerona haben also
ein e Vorgeschichte,die in die Zeit zu-
rückreicht, in der noch niemandBalo-
telli kannte.
DasgrössteProblemistaber,dass ras-
sistisches undrechtsextremes Gedan-
kengut über dieKurven hinaus auch im
organisiertenFussball selber anzutref-
fen ist. In der Liga Promozione, der
sechsthöchsten italienischenFussball-
klasse, wurde imJanuar diesesJahres ein
aus Senegal stammenderKeeper vom
Schiedsrichter zuerstrassistisch belei-
digt – und danach ohne triftige Gründe
vom Platz gestellt. Gegen offenrassisti-
sche Referees helfen nicht einmal Richt-
mikrofone aus dem Antimafiakampf.

Schon wiederZiel rassistischerBeleidigungen: MarioBalotelli. IMAGO

Gegen offen
rassistische
Schiedsrichter helfen
nicht einmal
Richtmikrofone aus
dem Antimafiakampf.
Free download pdf