Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

4INTERNATIONAL Freitag, 8.November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


Paris drängt auf Abschiebungen

Auf die steigende Zahl vonAsylgesuchen reagiert die Regierung mit einer Verschärfung der Migrationspolitik


NINA BELZ,PARIS


Beim «Grand débat national» Anfang
desJahres war es kaum einThema, ob-
wohl es die französische Gesellschaft
inregelmässigen Abständen entzweit.
Deshalb stellte Emmanuel Macron, als
er Bilanz der Bürgerbefragung zog, den-
noch eine jährliche Debatte über Ein-
wanderung inAussicht – imParlament.
Diese hat im Oktober in beiden Kam-
mern erstmals stattgefunden und seiner
Regierungkein besonders gutes Zeug-
nisausgestellt. Premierminister Edouard
Philippe selbst anerkannte, dass die bis-
herigePolitik nicht alle Ziele erreicht
habe.Am augenscheinlichsten wird das
wenige Kilometer von derAssemblée
nationale entfernt.Am nördlichen Stadt-
rand vonParis hausen derzeit gegen 3000
Personen entlang der Stadtautobahn
unter unwürdigen Bedingungen in Zel-
ten – so viele wie seitJahren nicht mehr.
Am Mittwoch hat derRegierungs-
chef zusammen mit vier Ministern nun
eineReihe von Massnahmen vorgestellt.
Sie sollenFrankreich gemäss Philippes
Worten erlauben, dieKontrolle über
seine Migrationspolitik zurückzugewin-
nen. Die Massnahmen zielen einerseits
darauf ab, die Einwanderung grundsätz-
lich besser zu steuern, und andererseits,
dem Missbrauch der Sozialversicherung
entgegenzuwirken.


Frankreichals Sammelbecken


InFrankreich haben die Asylgesuche
im Gegensatz zu den meisten anderen
europäischenLändern in den vergange-
nen fünfJahren stetig zugenommen, auf
zuletzt 123 000 , was aber noch immer
weniger ist als in Deutschland. Die Zahl
kontrastiert mit den 35 600 Asylgesu-
chen, denen 2 01 8 stattgegeben wurde.
Auffallend ist ausserdem: Die meisten
Antragsteller kamen zuletzt aus Afgha-
nistan, einemLand, das nach wie vor als
Konfliktzone gilt.Auf Platz zwei und
drei liegen mit Albanien und Georgien
dagegen Herkunftsländer, deren Staats-
bürger kaum auf einen positiven Be-
scheid hoffenkönnen. Rund 30 Prozent
der Asylsuchenden inFrankreich haben
bereits in einem oder mehreren anderen
Ländern einen Antrag gestellt und sind
nach dessen Ablehnung weitergezogen.
In diesen Zahlen sind freilich jene
nicht enthalten, die jedenKontakt mit
den Behörden vermeiden. Sie befinden
sich vor allem in denLagern am Ärmel-
kanal, wo sie auf eine Gelegenheit zur
Überfahrt nach Grossbritannien hoffen.


Ein Schwachpunkt der französischen
Migrationspolitik sind die langen Be-
arbeitungszeiten der Asylanträge. Der
Innenminister stellte am Mittwoch in
Aussicht,bis Ende2020 drei weitereAb-
schiebezentren mit 370 Plätzen zu schaf-
fen und die zuständigen Behörden perso-
nell zu verstärken.Das Flüchtlingslager
am nördlichenRand der Hauptstadt
soll zudem bis Ende desJahres aufge-
löst und die Asylsuchenden auf proviso-
rische Unterkünfte verteilt werden.
Einschnitte sind beim Zugang zum
französischen Gesundheitssystem vor-
gesehen. Zwei staatlicheAufsichts-
behördenstellten ineinem Bericht un-
längst einen «Medizintourismus» fest,
der «kein marginales Phänomen» sei.
DieAutoren sahen einen direkten Zu-
sammenhang zwischen dem Anstieg von
Asylsuchenden aus sicheren Herkunfts-
ländern und der höheren Beanspru-
chung der Leistungen.Personen ohne
Aufenthaltsbewilligung wie auch aner-
kannte Asylsuchende haben inFrank-
reich ab dem erstenTag Zugang zur
medizinischenVersorgung.

Nun sollen Erwachsene beider Grup-
pen drei Monate warten müssen, bis sie
Zugang zum Gesundheitssystem erhal-
ten– ausser in Notfällen.Auch deren
Wohnsituation wird strengerkontrol-
liert.Personen ohneAufenthaltsbewilli-
gung – auch abgelehnte Asylbewerber –
haben nur noch sechs statt zwölf Monate
Zugang zum Gesundheitssystem.

Fachkräfte nach Quoten


DemRegierungschef wie seinen Minis-
tern war es wichtig, zu betonen, dass es
nicht primär um eineVerschärfung der
Politik gehe, sondern um eineBalance
zwischenRechten und Pflichten.Wer
einen positiven Asylentscheid bekomme,
solle nochrascher in den Arbeitspro-
zess integriert werden, sagte etwa die
Arbeitsministerin MurielPénicaud. Ab
demkommenden Sommer sollen in
Frankreich zudem Quoten für qualifi-
zierte Einwanderer gelten – nicht nach
Herkunftsland, sondern nach Beruf.
Laut ArbeitsministerinPénicaud hat
eines von zwei Unternehmen inFrank-

reichheute Mühe, passendesPersonal zu
finden. Sie schätzte die Zahl der zeitlich
begrenzten Arbeitsvisa auf rund 33000.
Natürlich sei es ein Anliegen, dass vor-
rangigFranzosen eine Arbeit fänden.
Die Liste der Branchen mitFachkräfte-
mangel soll aber jedesJahr überprüft
und nach Bedarf angepasst werden.
Im vergangenenJahr hatte das fran-
zösische Innenministerium rund 252 000
Aufenthaltsbewilligungen vergeben; die
Einwanderer mit beruflichen Motiven
machten dabei allerdings nur 13 Pro-
zent aus. Einen Anteil, denFrankreich
erhöhen möchte, genauso wie die Zahl
der ausländischen Studenten. Bis 2027
soll diese verdoppelt werden, sagte
Regierungschef Philippe.
Das Abwiegeln der Kabinettsmit-
glieder widerspiegelt das Dilemma, das
dasThema Migration für die Bewegung
von Präsident Emmanuel Macron dar-
stellt. Es ist das Steckenpferd seiner
grössten Gegnerin – und in weniger als
sechs Monaten steht mit denKommu-
nalwahlen das nächste Kräftemessen
mit Marine LePen an.

UnhaltbareBedingungen: Rund 3000 Migrantencampieren entlang der StadtautobahnimNorden vonParis. BENOIT TESSIER / REUTERS

Spaniens Linke geht zerstritten in die Neuwahl


Es droht schon wieder ein Patt – aber der Katalonienkonflikt verleiht den Konservativen einigen Aufwind


UTE MÜLLER MADRID


Am Sonntag sind die krisengeplagten
Spanier bereits zum zweiten Mal in die-
semJahr aufgerufen, ein neuesParla-
ment zu wählen. Doch ob die politische
Blockade damit beendet werden kann,
darf bezweifelt werden. Der amtierende
sozialistische MinisterpräsidentPedro
Sánchez wird zwar in allen Umfragen
alsFavorit genannt, seinePartei bringt
es aber nur auf etwa 120 bis 125 der
350 Abgeordneten im spanischenParla-
ment.Das ist ein ähnliches Ergebnis wie
bei den letztenWahlen im April, nach
denenKoalitionsverhandlungen mit der
linken Protestpartei UnidasPodemos
(UP) nicht zuletzt wegen persönlicher
Animositäten scheiterten.
DasVerhältnis zwischen den beiden
«Alphatieren» Sánchez und UP-Chef
Pablo Iglesias ist zerrüttet. Beide ge-
ben sich nun gegenseitig die Schuld für
die vorgezogenen Neuwahlen.Iglesias
glaubt, dass bei Sánchez nie ein ernst-
hafterWille für eineKoalition bestand:
«Man nahm uns nicht ernst und bot uns
nur eines der 18 Ministerien an.» Sán-
chez gab nach dem Scheitern derVer-
handlungen zu,der Gedankevon Minis-


tern aus denReihen vonPodemosinsei-
nem Kabinett hätte ihn um den Schlaf
gebracht. Er wollte sich nicht auf einen
Koalitionsvertrag einlassen,weil diePro-
gramme beiderParteien bei wichtigen
Themen wie der Katalonienkrise oder
der Steuerpolitikweit auseinanderlagen.

Hohe Enthaltung befürchtet


VieleWähler im linkenLager hat das
Scheitern einerKoalition jedoch ent-
täuscht. An diese richtet sich jetzt Iñ-
igo Errejón,der vorwenigenWochen
eine neue Linkspartei namens «Más
País» (MehrLand) ins Leben gerufen
hat. Errejón und Iglesias, diePodemos
imJanuar 20 14 gemeinsam gründeten,
verband seit Studientagen eine enge
Freundschaft. Die beiden entfremdeten
sich aber in letzter Zeit, weil der weni-
gerradikaleErrejón nicht einverstanden
war mit Iglesias’ Strategie, aus der Anti-
Establishment-Bewegung eine autori-
täre, zentralistischePartei zu formen.
Mit seiner neuenFormation will Er-
rejón nun bei den enttäuschten UP-
Wählern punkten. Ihnen verspricht er,
nach denWahlen Sánchez zu unterstüt-
zen, um Spanien zu einer Linksregie-

rung zu verhelfen. Laut den Umfra-
gen dürfte es Errejóns neuePartei auf
fünf Mandate bringen, die dannPode-
mos fehlen dürften.Politische Strategen
geben allerdings zu bedenken, dass der
Verdruss im linkenLager dazu führen
könnte, dass vieleWähler diesen Sonn-
tag zu Hause blieben.Verschiedenste
Facebook-Seiten undTwitter-Accounts
werben für eine Enthaltung im linken
Lager. Laut spanischen Medienstecken
Sympathisanten deskonservativenPar-
tidoPopular (PP) hinter der Initiative.

Ultrarechte aufdemVormarsch


Über die Zersplitterung der Linken
kann sich vor allem einer freuen, PP-
SpitzenkandidatPablo Casado. Bei den
Wahlen im April kam dieVolkspartei
nur auf 66 Abgeordnete und erzielte da-
mit das schlechteste Ergebnis ihrer Ge-
schichte.Nach den jüngsten Umfragen
könnte das PP-Lager es nun auf 84 bis
91 Abgeordnete bringen. DieAufhol-
jagd verdankt Casado vor allem dem
Thema Katalonien, wo es seit dem har-
ten Urteil gegen die Unabhängigkeits-
befürworter Mitte Oktober immer wie-
der zu Protesten undTumultenkommt.

Casado verspricht ein hartesDurchgrei-
fen in derRegion imFalle seinesWahl-
siegs – und er fordert, die katalanische
Landespolizei dem spanischen Innen-
ministerium zu unterstellen.
Auch die ultrarechteVox, die im April
erstmals den Einzug ins spanischePar-
lament schaffte, kann auf grosse Stim-
mengewinne und 40 Mandate hoffen.
Vox geht in der Katalonienfrage noch
einen Schritt weiter und fordert dieAus-
rufung des Notstands und die Absetzung
der dortigenRegionalregierung.
Dableibtfür dierechtsliberale Bür-
gerpartei Ciudadanos, die ebenfalls auf
eine harte Gangart in Katalonien pocht,
wenigRaum zur Entfaltung.Laut Um-
fragenkönnte Ciudadanos mehr als die
Hälfte der 57 Mandate verlieren. Schuld
daran ist die Blockadepolitik vonPartei-
chef AlbertRivera, der jegliche Beteili-
gung an einer Sánchez-Regierung von
vorneherein ablehnt und weiteTeile sei-
nerPartei und die spanischeWirtschafts-
elite damit enttäuscht. Deshalb dürfte
dasrechteLager auch nach diesem
Urnengang nicht mehrheitsfähig sein.
Nicht ausgeschlossen, dass die Spanier
angesichts einer neuerlichenPattsitua-
tion abermals wählen müssten.

Donald Tuskgibt


kein Comeback


in Polen


Der Ex-Übervater der Liberalen
bleibtaufdereuropäischen Bühne

IVO MIJNSSEN, WIEN

DonaldTusk liesssichviel Zeit.Polens
wichtigste Oppositionspartei, die Bür-
gerplattform (PO),hatte seit ihrerWahl-
niederlage 20 15 auf eine Antwort dar-
auf gewartet, ob ihr einstiger Übervater
in die nationale Politik zurückkehrt.
Am Dienstag machteTusk klar, dass er
bei der Präsidentschaftswahl 2020 nicht
antritt. Die Oppositionbrauche einen
Kandidaten, der nicht durch seineVer-
gangenheit belastet sei, erklärte der EU-
Rats-Präsident und langjährigeRegie-
rungschefPolens.

VerblassterStern


Der 62-jährige DonaldTusk hat ein-
gesehen, dass sein Stern inPolen ver-
blasst ist.Dies zeigte sich imWahl-
kampf für die Europawahl imFrühling,
als Tusk seinenLangzeitrivalenJaroslaw
Kaczynski von der nationalkonservati-
ve n Regierungspartei PiS heftig angriff.
Die PO verlor dennoch, oder, wie man-
che in derPartei meinten, auch wegen
Tusks Intervention. Über die Bürger-
plattform, die er vor 18 Ja hren mitge-
gründet hatte, dominierteTusk die pol-
nische Politik während vieler Jahre.
Zwischen 2007 und 20 14 warerRegie-
rungschef, seither amtet er in Brüssel als
EU-Rats-Präsident; seineWahl in das
hohe europäisches Amt wurde damals
als Anerkennung für die «neuen» EU-
Staaten gewertet.
Der inDanzig (Gdansk) geborene
Tusk galt als Gesicht des wirtschafts-
liberalen, weltoffenenPolen. Er schaffte
es 2007, die ersteRegentschaft der PiS
zu beenden, weniger durch einradikal
anderes Programm als durch sein über-
zeugendes Auftreten. Er führtesein
Land durch die europäischeWirtschafts-
krise, pflegte die Beziehungen zumPart-
nerland Deutschland und hob dasRen-
tenalter an, eine ebenso wichtige wie un-
populäreReform, welche die PiS inzwi-
schen rückgängig gemacht hat.
Mit zunehmenderRegierungsdauer
machten sich bei der PO aber Abnüt-
zungserscheinungen bemerkbar, die von
Skandalen begleitetwaren.TusksWech-
sel nach Brüssel 2014 interpretierten
deshalb viele als Flucht vor den misera-
blen Umfragewerten, mit der er seiner
Partei für dieParlamentswahl eine bes-
sereAusgangslage verschaffen wollte.
Der Plan ging nicht auf, es kam 20 15
zum Machtwechsel.

Vergiftetes Klima


Seitherregiert die PiS, dieTusk zum
Feindbild hochstilisiert hat und ihm vor-
wirft, aus Brüssel die EU gegenPolen
aufzuhetzen, etwa durchRechtsstaats-
verfahren. Dies ist ebenso übertrieben
wie symptomatisch für den bitteren Hass,
der dasVerhältnis zwischenPolens Spit-
zenpolitikern prägt, die allesamt aus der
Solidarnosc-Bewegung hevorgegangen
sind. Als Integrationsfigur taugtTusk
heute nichteinmal mehr im Oppositions-
lager, das ebenfalls zerstritten ist.
Zumindest für die absehbare Zukunft
hat er sich deshalb für die europäische
Bühne entschieden: Er ist gegenwärtig
der einzige Kandidat für denVorsitz der
kriselnden EuropäischenVolkspartei,
den er nach Ablauf seiner Amtszeit als
EU-Rats-PräsidentimDezember über-
nehmen will.
Die PO hingegen muss ohne ihren
einstigen Superstar den längst überfälli-
gen,aber höchst unsicherenWeg der Er-
neuerunggehen. Die alte Garde ist zwar
höchst unpopulär, hält aber die meisten
Fäden weiterhin in den Händen. Neue
Figuren mit nationalerAusstrahlung
sind hingegen dünn gesät.Dazukommt
ein unscharfes Programm, mit dem sie
nicht gegen den klaren nationalistischen
und sozialpolitischenKurs der PiS an-
kommt. Bei ihrer linksliberalen,städti-
schenWählerschaft erwächst der PO zu-
demKonkurrenz von jüngeren Parteien.
Viel Zeit, um ihre inhaltlichen und per-
sonellen Probleme zu lösen, bleibt ihr
vor der Präsidentenwahl nicht.
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