Focus - 02.11.2019

(Barré) #1
WISSEN

72 FOCUS 45/2019

E


ndlich. Nach zwei Jahren ist
der Patient allem Anschein
nach geheilt, kann in sei-
nen Beruf als Sozialarbei-
ter zurückkehren. „Diese
Geschichte war eine der
eindrucksvollsten, die mir
je untergekommen sind“,
sagt Tom Bschor, Chefarzt der Abtei-
lung Psychiatrie in der Berliner Schloss-
park-Klinik.
Alles deutete auf eine Depression hin,
als der Endfünfziger im Sommer 2017 in
die Klinik kam. Die Ärzte verabreichten
psychiatrische Medikamente und führ-
ten auch andere etablierte Behandlun-
gen gegen schwere Depressionen durch,
etwa Schlafentzug und Elek-
trokrampftherapie. Alles half,
wenn überhaupt, nur kurze
Zeit. Jedes Mal folgte ein
Rückfall. Wahnvorstellungen
traten auf, mit der Zeit ver-
schlechterte sich der Zustand
des Patienten. Längst war der
Mann einer der hartnäckigs-
ten Fälle auf Bschors Station,
bis ihm ein Arzt eines Tages
gegen einen Ausschlag das
Antibiotikum Doxycyclin ver-
schrieb. „Nach fünf Tagen
waren die Symptome der
Depression wie weggebla-
sen“, sagt Bschor. Ein halbes
Jahr ist seitdem vergangen,
der Patient allem Anschein
nach genesen.
Den Grund für die plötz-
liche Wende in dieser Fallge-
schichte vermutet Bschor in
einer bislang häufig überse-
henen Ursache der Störung.
„Vermutlich lief das Immun-
system des Mannes aus dem
Ruder.“ Tatsächlich kann das
Abwehrsystem des Körpers,
einer der kompliziertesten
Mechanismen in unserem Organismus,
in die Gehirnchemie eingreifen. Dass
seelische Krisen physische Leiden her-
vorrufen, ist unter dem Begriff Psycho-
somatik weithin bekannt. Chronischer
Stress zum Beispiel schwächt das Immun-
system, macht uns anfälliger für Krank-
heiten. „Doch es geht auch ein Weg in
die andere Richtung“, sagt Bschor. „Der
Körper kann die Seele krank machen.“
Selten ist dieses Phänomen nicht. Es
wird aber erst seit gut 15 Jahren syste-
matisch erforscht. Das Gebiet nennt sich

Psychoimmunologie, auch Psychoneuro-
immunologie. Die Daten zur Verbreitung
beeindrucken. „Bei 10 bis 20 Prozent der
Menschen mit Depressionen und Psy-
chosen finden sich in unseren Untersu-
chungen des Gehirnwassers Hinweise auf
immunologische Prozesse“, sagt Ludger
Tebartz van Elst, stellvertretender Direk-
tor der Klinik für Psychiatrie und Psycho-
therapie in Freiburg. Offenbar können
Bakterien und Viren das Immunsystem
überfordern, oder es richten sich Abwehr-
zellen gegen den eigenen Körper, eine
Autoimmunreaktion setzt ein.
Im vergangenen Frühjahr erregten
Studien einer Arbeitsgruppe um Michael
Eriksen Benros vom Universitätskran-
kenhaus Kopenhagen Aufse-
hen. Weil Dänemark nahezu
lückenlose Gesundheitsregis-
ter führt, konnten die Forscher
den Werdegang aller zwischen
1995 und 2012 geborenen Kin-
der nachverfolgen. Nach sta-
tistischer Auswertung zeigte
sich ein deutlicher Zusam-
menhang zwischen Infek-
tionskrankheiten und späte-
ren seelischen Leiden. Kinder,
die früh in ihrem Leben wegen
schwerer Infektionen in eine
Klinik mussten, hatten in wei-
terer Folge ein um 84 Prozent
erhöhtes Risiko, die Diagno-
se einer psychischen Krank-
heit zu erhalten. Dazu zähl-
ten Persönlichkeits- und Ver-
haltensstörungen, Autismus,
Hyperaktivität und Zwangs-
störungen.
Die Gesamtzahl der psy-
chischen Erkrankungen in
Deutschland ist hoch. Nach
Angaben der Deutschen Ge-
sellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychoso-
matik und Nervenheilkunde
leidet jeder dritte Erwachsene im Lauf
eines Jahres irgendwann seelisch, Frauen
eher als Männer, Junge eher als Alte. Da
ist es wichtig, möglichst zielgerichtet zu
therapieren.
Bis vor wenigen Jahren war es undenk-
bar, psychische Leiden durch Antibioti-
ka in den Griff zu bekommen, mittler-
weile erscheint es Ärzten in manchen
Fällen sinnvoll. Eine Forschergruppe an
der Berliner Universitätsklinik Charité
untersucht in einer kontrollierten Studie
mit rund 160 Patienten, ob Minocyclin,

Es gibt keine
Wunderpille
Psychiatrische Medikamente helfen
häufig in seelischen Krisen, auch
Psychotherapien lindern viel Leid.
Manchmal wäre es aber vonnöten,
zusätzlich das Immunsystem des
Kranken zu behandeln

» Die meisten
Patienten
sind dankbar,
wenn wir im-
munologische
Vorgänge als
Ursache ihrer
psychischen
Krankheit
diagnosti-
zieren «

Ludger Tebartz van
Elst, Universitätsklinik
Freiburg
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