Focus - 02.11.2019

(Barré) #1

WISSEN


Fotos:

Ingmar Nolting für FOCUS-Magazin

76 FOCUS 45/2019


dünnen Haut und Zellen der Blutgefäß-
wand bestehende Barriere zwischen dem
Blutkreislauf und dem Zentralnerven-
systemen schützt das Gehirn vor Giften,
Hormonen und Krankheitserregern. Zum
Leidwesen etwa der Alzheimer-Forscher
erschwert sie es den Ärzten auch, Wirk-
stoffe direkt ins Gehirn einzuschleusen.
Nun hat die Evolution als Ersatz für
die unberechenbaren und potenziell
aggressiven Immunzellen des Körpers
ein eigenes Immunsystem für das wich-
tigste Organ geschaffen. Es handelt sich
um sogenannte Mikrogliazellen. Sie zäh-
len offenbar zu den ersten Opfern einer


Attacke durch jene Zellen, die es durch
die Blut-Hirn-Schranke schaffen, oder
sie werden durch Signale gestört, die der
Vagusnerv vermittelt.
Für die Wahrscheinlichkeit eines sol-
chen Angriffs spielt die Häufigkeit von
Infekten eine Rolle, zeigen Verbreitungs-
studien wie jene in Dänemark. Auch
scheint es ein genetisches Risiko zu geben.
Weitere Faktoren versucht der Mediziner
Johann Steiner zu entschlüsseln. Seine
Laufbahn begann Steiner in München mit
einer Promotion in Pathologie. Mittlerwei-
le ist er Professor an der Universitätsklinik
Magdeburg und arbeitet an der Schnitt-

stelle zwischen Psychiatrie und Neurolo-
gie. Um der Beteiligung von Infektionen
und Immunsystem auf die Spur zu kom-
men, untersucht Steiners Forschungsgrup-
pe Gehirne verstorbener Patienten, die
an Schizophrenie oder bipolarer Störung
litten (früher manisch-depressiv genannt).
200 Hirne umfasst die Sammlung, die
Steiners Vorgänger Bernhard Bogerts
bereits vor Jahrzehnten anzulegen begann.
In Karteikästen aus Kunststoff liegt jedes
Organ, zerschnitten in 3600 Scheiben,
jeweils zwei hundertstel Millimeter
dünn (s. rechte Seite).
Unter das Mikroskop gelegt, er-
kennen die Magdeburger Wissen-
schaftler in vielen der Schnitte Spu-
ren von Immunzellen, die eigentlich
nicht oder nur kurzfristig und in sehr
geringem Maß ins Gehirn eindringen
dürften, Lymphozyten und Granulo-
zyten etwa. Sie sind meist als kleine,
dunkle Punkte zu sehen. Konzentrieren
sich diese Punkte auf Regionen, die etwa
für das rationale Denken oder für Emo-
tionen wie Angst zuständig sind, schließt
sich die Beweiskette. Nach Vergleichen
mit Organen Gesunder schätzt Steiner,
dass bei jedem dritten bis vierten Fall
von Schizophrenie eine Immunreaktion
beteiligt sein kann. Als Auslöser
vermutet er ausdrücklich
auch pränatale In-
fektionen, die in
der Schwanger-
schaft auftreten:
Herpes-, Röteln-
und Influenza-
viren sowie Er-
reger der Toxo-
plasmose, für
die Katzen der
Hauptwirt sind.
Insgesamt erhal-
ten in Deutsch-
land jährlich rund 16 000 Menschen die
Diagnose Schizophrenie, die meisten sind
zwischen 20 und 35 Jahre alt.

Neue Heilungschancen
Ich-Störungen, Ängste, Zwänge, Depres-
sionen, Psychosen, Essstörungen, Süchte –
die Seele kann auf vielerlei Art leiden.
„Die Erkenntnis, dass für einige Fälle
Infektionen oder Autoimmunreaktio-
nen verantwortlich sind, eröffnet neue
Behandlungswege“, meint der Berliner
Psychiater Tom Bschor. Denn obwohl
Medikamente und Psychotherapien
täglich Menschen aus einem tiefen,

Patrouille durch die Blutgefäße


Verschiedenartige Immunzellen wehren Krankheitserreger ab. Normalerweise
vernichten sie schädliche Eindringlinge. Scheren einzelne Zellen aus und
überwinden die ihnen gesetzten Grenzen, können Autoimmunreaktion und
Entzündung folgen, auch im Gehirn

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