TITEL
Foto: Guillem Lopez/Bridgeman Images
FOCUS 45/2019 75
sind. Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enze-
phalitis kommt selten vor, an ihrer Ent-
stehung ist häufig eine Geschwulst im
Körper beteiligt. Einen milderen, aber
durchaus ähnlichen Verlauf nimmt zum
Beispiel die Hashimoto-Enzephalopathie,
eine Gehirnentzündung als Folge der
häufigsten Schilddrüsenerkrankung. An
dieser Hashimoto-Thyreoiditis, ebenfalls
eine Autoimmunerkrankung, leiden bis
zu acht Millionen Menschen in Deutsch-
land, überwiegend Frauen.
Immunologische Prozesse können die
Stimmung des Menschen verändern.
Befällt ihn ein Erreger, und sei es nur
jener einer harmlosen Erkältung, wer-
den seine Abwehrzellen aktiv. In der
Folge zieht er sich zurück, verliert die
Lust an Geselligkeit und Späßen und
nicht zuletzt den Appetit. Unter Medi-
zinern ist dieser Wandel, der den Symp-
tomen einer leichten Depression oder
auch eines Burnout-Syndroms ähnelt,
als „Sickness Behavior“ – Krankheits-
verhalten – bekannt. „Man kann das in
ähnlicher Weise in Tierexperimenten aus-
lösen“, sagt Stefan Gold von der Chari-
té. „Evolutionsbiologisch ergibt dieser
Rückzug Sinn. Das sich krank fühlende
Individuum folgt der Notwendigkeit, sich
und seine Erreger von der Gruppe fernzu-
halten.“ Jonathan Kipnis, ein Neurowis-
senschaftler von der University of Virginia
in den USA, bezeichnet die krankheits-
begleitende Unlust auf Aktivitäten als
eine Art „siebten Sinn des Menschen“.
Warum aber verschwindet bei den
meisten mit der Immunkrise auch die
leichte bis mittelschwere Depression,
während sich der Zustand anderer ver-
schlechtert und sie ernsthaft psychisch
erkranken? Und unter welchen Bedin-
gungen können Erreger, Immunzellen,
Zytokine oder Antikörper die Blut-Hirn-
Schranke überwinden? Die aus einer
Sonne hinter Wolken
Der Weg aus dem tiefen Tal ist bei „herkömmlichen“
psychiatrischen Leiden schwierig genug. Ist das Immun-
system beteiligt, wird alles etwas komplizierter. Die
Grafik oben zeigt am Beispiel der multiplen Sklerose, wie
aggressive Zellen die Blut-Hirn-Schranke überwinden
Transmigration
Blut-Hirn-
Schranke
BLUTSEITE HIRNSEITE
Neuron
Axon
Myelinscheide
Mikrogliazelle
Oligodendrozyt
Anti-Myelin-
Antikörper
B-Zelle
CD8+-T-Zellen greifen auch
die markscheidenbildenden
Oligodendrozyten an
CD8+-T-Zellen greifen die
Nervenzellen direkt an
CD8+-T-Zellen
CD4+-T-Helferzellen
Entstehung
der multiplen Sklerose
CD4+-T-Helferzellen (Immun-
zellen) überwinden die Blut-Hirn-
Schranke und aktivieren durch
Botenstoffe die Mikrogliazellen,
die wiederum Nervenzellen und
deren Schutzmantel schädigen.
Die Mikrogliazellen setzen
unter diesem Einfluss toxische
Substanzen frei. Insbesondere
die Oligodendrozyten, die die
Nervenzellfortsätze (Axone) um-
wickeln, reagieren empfindlich.
Quelle: O. Ullrich 2005