Neue Zürcher Zeitung - 14.11.2019

(Marcin) #1

Donnerstag, 14. November 2019 FEUILLETON 43


Eine Packung Bücher, bitte!

Bibliotherapien versprech en Hilfe in allen Lebenslagen – ein Lesemuffel macht einen Test in Zürich


ROBIN SCHWARZENBACH


«Ist das einRoman?» – «Eine Erzäh-
lung», antwortet Karin Schneuwly, die
Lesetherapeutin, als wir uns in ihrer
Altbauwohnung inZürich Unterstrass
gegenübersitzen. Ich bin erleichtert.
Einen ganzenRoman zu lesen bis zum
nächstenTreffen in einerWoche, daran
wäre ichkläglichgescheitert.«Grigia»
hingegen, das erste Stück einer drei-
teiligen Novelle vonRobert Musil von
1924, das schaffe ich. Und tatsächlich:
Ich habe die 21 Seiten gelesen, an einem
Sonntagnachmittag, kurz vor der zwei-
ten Sitzung, im letztmöglichen Moment
also, wie so oft.


Kein Homosympathicus


Ich habe die Lesetherapeutin aufge-
sucht, weil ich gerne wieder Bücher läse
und das seitJahren nicht mehr tue: Die
Arbeit, die Erschöpfung am Abend,
die abonnierten Zeitungen und Maga-
zine, die man ebenfalls lesen sollte, die
schnellenTexte undFilmchen auf dem
Smartphone, Sie kennen das vielleicht.
Ich sehne mich oft nach den Zeiten,
als ich noch ganzeintauchenkonnte in
ein Buch, als Kind beispielsweise, als
es diese oberflächlichenTouchscreens
noch nicht gab.
Und nun also «Grigia». Schneuwly,
früher Programmleiterin am Zürcher
Literaturhaus und heute freischaffende
Texterin, Lektorin und Bibliotherapeu-
tin,kennt mich seit einer Dreiviertel-
stunde und empfiehlt mir einenText
über einen gewissen Homo, der seine
Frau und seinen kranken Sohn ver-
lässt, um bei derWiederherstellung
eines alten Bergwerks imTrentino mit-
zuarbeiten. Dieser Homo hat bei mir
schonnach wenigen Zeilenverloren,
weil er sich nicht entschliessen kann,
seinen Bubenin dieKur zu begleiten.
«Es kam ihm vor, als würde er dadurch
zu lange von sich getrennt,von seinen
Büchern, Plänen und seinem Leben.»
Stattdessen flieht der Mann nach Süden,
in dieuntergegangeneWelt derGold-
gräber und – nach mehr als der Hälfte
desTextes, eine Zumutung für einen
Ungeduldsling wie mich! – in die Arme
einer anderen. Hab haltkeine Familie,
wenn du weisst, dass du Eskapist bist,
denke ich mir beim Lesen.


Hilfe bei der Selbstfindung


«Wollen Sie nie flüchten?», fragt die
Therapeutin. «Doch, im Sommer aus
der Stadt hinaus ins Grüne», antworte
ich, etwas ratlos.Warum nur hat sie mir
diesenText aufgegeben?
Doch dannkommt eines zum ande-
ren – es entspinnt sich ein Gespräch. Sie
selber, erzählt Schneuwly, liesse Zürich
am liebsten hinter sich. So gehe es doch
vielen. BeimRedenstellen wir fest, dass
sich derText um neueWege im Leben
dreht. Um Chancen, die man ergreifen
kann, wenn man den Mut dazu hat –
undkeine Skrupel.Vielleicht wollte sie
das mit mir teilen. Und wenn ich ehrlich
bin, kann ich die Abgründe der Haupt-
figur verstehen; besser gar, als mir lieb
ist. Insofern lag Schneuwly durchaus
richtig mit ihremTipp, auch wenn mir
wesentliche Elemente der Erzählung
erst imAustausch mit ihr klarwerden:
Homo liebt seineFrau weiterhin,aberer
kommt nicht an gegen das, was imTren-
tino mit ihm passiert.
Ich bin nicht zufrieden, denn ich
habe mich beim Lesen zu wenig auf den
Text eingelassen. Bei anderen ist die
Literaturkennerinauf Anhieb erfolg-
reich. Zum Beispiel bei einerFrau, die
ein Kind hatte, sich immer in die glei-
che Sorte Männer verliebte (in diejeni-
gen,auf die kein Verlass ist,versteht
sich) und sich derart darüber aufregte,
dass sieRat bei der Bibliotherapeutin
suchte.Schneuwlys Empfehlung:Bücher
von IrvinD. Yalom («Und Nietzsche
weinte», «Die Schopenhauer-Kur»). Der
fik tive Zugang zu den beiden Philoso-
phen half bei der Selbstfindung. Und
wie! Sie lese nun alles vonYalom. Män-
ner, Liebhaber, Liebe, das sei alles nicht
mehr so wichtig.Wichtig seien sie selbst


und ihr Kind, soll dieFrau später begeis-
tert zurückgeschrieben haben. Und das
nach nur einer Sitzung.
Die meisten Klientinnen – Männer
sind selten – suchen die Lesetherapeutin
mehrmals auf. Ob sie so etwas wie eine
Buchhändlerin sei, die sich auf einen
sehr persönlichen Zugang spezialisiert
habe?«Wahrscheinlich», sagt Schneuwly.
«Meine Buchhändlerinkennt mich bes-
ser als ich mich selbst.» Am Kantons-
spital Schaffhausen hat sie einst eine
Gruppe vonPatienten begleitet; Bücher
und die Gespräche darüber sollten ab-
lenken von den Schmerzen.

Etablierte Methodein den USA


In der Schweiz ist dieser paramedi-
zinische Ansatz kaum verbreitet. In
Deutschland gibt es immerhin eine Ge-
sellschaft fürPoesie- und Bibliothera-
pie mit rund hundert Mitgliedern. Eine
«Europäische Akademie für biopsycho-
soziale Gesundheit, Naturtherapien und
Kreativitätsförderung» beiWuppertal
bietet entsprechendeKurse an. In den
USA indes ist die Methode etabliert: In
einer «book therapy» sollen sich Leser
mit denFiguren der ihnen empfohlenen
Bücher identifizieren, deren Entwick-
lung, Handeln, Scheitern genau beob-
achten und so einen klärenden Blick auf
Themen undKonflikte gewinnen, die
sie selber beschäftigen. Sie wird denn
auch nicht zuletzt von Psychotherapeu-
ten praktiziert.
Man kann sich auch ohneTherapeu-
tin kurieren: mit Büchern, die zu den
passenden Büchern führen sollen.Was
lesen bei Eifersucht, was bei Einsam-
keit oder Liebeskummer? DerRatgeber
«DieRomantherapie» (2014) der briti-
schen Bibliotherapeutin Ella Berthoud
verbindet Hunderte von Leiden mit fast
ebenso vielenWerken derWeltliteratur,
die bei diesen Gefühlslagen und ande-
ren Zuständen helfen sollen. Bei uner-
widerter Liebe also «Die Leiden des
jungenWerther» (ist das nichtkontra-
produktiv?), bei Schluckauf einen Scho-
cker wie «American Psycho» von Bret
Easton Ellis (von demFilm hab ich ein-
mal einenAusschnitt gesehen aufYou-

tube). Ein hübschesKonzept. Doch ob
Literaturbanausen auf Lektüresuche
zuerst einen über 400 Seiten starken
Leitfadenkonsultieren würden,scheint
zweifelhaft.

Schopenhauer – ausgerechnet


Karin Schneuwly hat ebenfalls ein Buch
geschrieben: «Glück besteht aus Buch-
staben», eine Liebeserklärung an die
Bücher ihres Lebens und ans Lesen, die
2017 bei Nagel & Kimche erschienen
ist. Vielleicht wäre das etwas für mich.
Die Lesetherapeutin allerdings findet
ihren eigenenText nicht so gut, das sagt
sie mir ganz offen. Die direkte, intui-
tive Art der 49-Jährigen spricht für sie.
Schneuwly hätte mir sonst etwas emp-
fehlenkönnen. Stattdessenkommen
wir beim zweitenTreffen auf einenganz
anderenAutor zu sprechen. «Eigent-
lich», sagt sie ziemlich unvermittelt,
«möchte ich Schopenhauer mitIhnen le-
sen.»Ausgerechnet. Einen Denker, der
nur den eigenenTexten traut und «ge-
lesene Gedanken» von anderen für «ge-
schissene Scheisse» hält.
Ist das die richtige Medizin füreinen
Lesemuffel wie mich? Und wiekomme
ich zu der Ehre?
«Sie dürfen ruhig ein bisschen wüten-
der sein», erläutert dieTherapeutin.
«Auf andere? Oder auf mich selbst?»,
frage ich zurück. «Auf denLärm der
Welt», antwortet Schneuwly – ich sei
doch jemand, der es gerne ruhig habe.
Also lese ich «ÜberLärm und Ge-
räusch»,eine bissige Schrift über den
«schändlichstenLärm» überhaupt, das
Peitschenklatschen der Fuhrknechte.
Schopenhauer leidet sichtlich darunter:
«Ich möchte wissen,wie viele grosse und
schöne Gedanken diesePeitschen schon
aus derWelt geknallt haben.»Vor der
Wohnung von Karin Schneuwly heult
ein Laubbläser auf.Wir müssen beide
lachen, obwohl es eigentlich nichts zu
lachen gibt. Die stets geputzte Limmat-
stad t kann mit demLärm von Pferde-
kutschen locker mithalten. Schopen-
hauer hatterecht.Wie soll man sich da
blosskonzentrieren? DiesenText habe
ich gern gelesen!

Doch jetzt, nach drei Sitzungen
mit einerVielleserin, bin ich wieder
auf mich allein gestellt.Auf meinem
Schreibtisch liegt ein weiteres Buch,
«Nothing to BeFrightened Of» von
JulianBarnes. Ein autobiografischer
Text, der eine meiner grössten Ängste
ins Zentrum rückt: jene vor demTod
der Eltern.Was wird aus mir, wenn sie
nicht mehr da sind?Wenn eskeinen
Weg zurück mehr gibt zu dem Gefühl,
dass man weiterhin ein Kind sein darf,
und sei es nur zwischendurch?Wenn
man nicht mehr hochschauen kann zu
Vater und Mutter, sondern – allein –
nach vorne schauen muss?
So kommt es halt, wenn man eine
Lesetherapie macht. Man landet bei
sch wierigenFragen, manchmal über
Umwege und Erinnerungen.

Heldender Kindheit


Wir sprachen in den Sitzungen auch
über die Bücher meiner Kindheit, als
ich noch ein guter, ja sogar ein leiden-
schaftlicher Leser war.Als traurige Ge-
schichten wie jenedes sterbenden Krü-
mel in «Die Brüder Löwenherz» von
AstridLindgren, Olga Meyers«Anneli»
oder «Die Schwarzen Brüder» von Lisa
Tetzner mich zum ersten Mal mitVer-
lustängstenkonfrontierten – und mir zu-
gleich gezeigt haben, dass es trotzdem
weitergeht im Leben, am besten gemein-
sam mit anderen.Damals, als mir meine
Mutter ein Buch nach dem anderen vor-
gelesen hat – vorlesen musste, bis ich es
selberkonnte.
«Nothing to BeFrightened Of» sollte
ic heigentlichzu Ende lesen. Schneuwly
verlangt einFeedback, wie sie das bei
all ihrenKunden tut. Allein,ich bin
noch nirgends. Zu sprunghaft geschrie-
ben.Vielleichtrenne ich auch davon vor
demThema, ruhe zu wenig in mir, bin
erschlagen von derTextmenge von 250
Seiten. «Hören Sie nicht auf zu lesen!
Das finde ich wichtig. Nurso kann man
die Welt mit anderenAugen betrach-
ten.»Das sagte Schneuwly ganz am
Schluss zu mir. Ich weiss, dass sierecht
hat – ich werde es weiterhin versuchen
mit Büchern.

Die Lesetherapeutin Karin Schneuwly hat ein Gespür fürTexte –und für unbelesene Gesprächspartner. JOËL HUNN / NZZ

Das Publikum


singt ihr vor


Gabriela Montero improvisiert auch
über «Lueget vo Berg und Tal»

THOMAS SCHACHER

Ihr Markenzeichen ist die Improvisa-
tion. Und zwarkeine irgendwie vor-
bereitete, sondern das völlig spontane
Fantasieren über Melodien, die ihr vom
Publikum vorgeschlagen werden. Die
venezolanischePianistin Gabriela Mon-
tero beherrscht damit eineKunst, die im
klassischen Musikbetrieb sonst nur noch
von Organisten öffentlich gepflegt wird.
In derTonhalle Maag trat Montero zu-
sammen mit dem KammerorchesterBasel
im Rahmen der Neuen Konzertreihe
Zürich auf. Dies bedeutet indes nicht,dass
da 37 Musiker miteinander eine Gruppen-
improvisation losgetreten hätten.Dassin-
fonische Programm bestand ganzkonven-
tionell aus fix und fertigKomponiertem
von Mozart,Fauré und Milhaud. Aber
Mozarts d-Moll-Konzertgerät dannkei-
neswegs nur zumAufwärmstück – nicht
nur wegen der Kadenz im ersten Satz,
wo das Publikum einenVorgeschmack
auf MonterosImprovisationskunstbe-
kommt. Zum Hinhören zwingt vor allem
der Interpretationsansatz der Pianistin
und des vomKonzertmeisterDaniel Bard
angeführten Kammerorchesters.

ZudenWurzeln


Mozarts erstes von nur zwei Klavier-
konzerten in einer Moll-Tonart wird
in der Literatur gerne als düster und
dämonisch, quasi alsVorwegnahme der
Romantik, beschrieben.Entsprechend
dazu wird dasWerk auch von den Inter-
preten gern dynamisch aufgeladen und
manchmal emotional überfrachtet.Was
man hierzu hören bekommt,weist in-
des nicht in dieRomantik, sondern in
die Barockzeit, also zu denWurzelnvon
MozartsKompositionskunst.
Da finden das Klangideal des Kam-
merorchestersBasel und die Intentionen
der Pianistin bestens zusammen.Mit ven-
tillo sen Hörnern undTrompeten einer-
seits, mit modernen Streichinstrumenten,
heutigem Kammerton und Steinway-Flü-
gel andererseits geht man zwar klanglich
einenKompromiss ein, der aber interpre-
tatorisch durchaus trägt.Das Orchester
artikuliert sehr deutlich und bringt die
Farbpalette der Instrumente schön zum
Klingen.Monteros Spiel lässt den moder-
nen Flügel vergessen,so locker und per-
lend bewegen sich ihreFinger auf den
Tasten. Besonders eindrücklich wird dies
im abschliessendenRondo, wo die Musik
nach der Solokadenz überraschend in
Dur schliesst.
Und dann die Improvisationen. Ga-
brielaMontero ruft das Publikum auf,
Melodien vorzuschlagen, die möglichst
allgemein bekannt sind. Ein Herr im
Parkett schlägt «La donna è mobile»
vor, und los geht es. Die Pianistin macht
daraus eine ausschweifendeFantasie à la
Schumann, Mendelssohn und Liszt, bei
der die Opernmelodie bald offen, bald
versteckt zu vernehmen ist.

Jazziger«WilhelmTell»


Als Nächstes wird von der Galerie herab
das SchweizerVolkslied «Lueget vo Berg
undTal» vorgeschlagen.Da die Pianis-
tin das Lied nichtkennt, singt das Publi-
kum es ihr gemeinsam vor – wann hat
man das bei einem klassischenKonzert
schon erlebt! Blitzschnell lernt Montero
es auswendig, macht daraus zuerst eine
zweistimmige Invention à laBach, dann
klingt es plötzlich wie«The Entertainer»
von Scott Joplin. Ebenso verblüffende
Verwandlungen stellen sich schliesslich
beim bekannten Allegro-Thema aus der
«WilhelmTell»-Ouvertüre ein: Es be-
ginntrecht jazzig, wird dann durch aller-
lei Molltonarten hindurchgeschleust und
mündet erst am Schluss in den triumpha-
len Gestus vonRossinis Original.
Nach solchem Coup deFoudre hat
es der zweiteTeil desKonzerts – ohne
Montero – sehr schwer.Wer aber bis zum
Schluss bleibt, wird belohnt: mit Gabriel
Faurés Suite «Masques et bergamas-
ques», deren barocker Gestus gut zum
Mozart-Konzert passt, und mitDarius
MilhaudsReisser «Le bœuf sur le toit»,
dessen kulinarische Leckerbissen die
Musiker mit viel Pfeffer würzen.
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