44 SACHBÜCHER Donnerstag, 14. November 2019
Nach dem Brexit noch dringender
Vernon Bogdanor liefert Bausteine für eine kodifizierte Verfassung Grossbritanniens
Jeremy Adler· Vernon Bogdanor ist
einer der bestenKenner der britischen
Verfassung. In einerFülle von Büchern
hat er geradezu eine Enzyklopädie der
Konstitution geschaffen. Denn obwohl
Alexis deTocqueville in «Über die
Demokratie in Amerika» witzelte, dass
die britischeVerfassung «gar nicht exis
tiere», und viele meinen, sie sei nur un
geschrieben,hat Bogdanor klargestellt,
inwiefern dieses auf Urkunden und Ge
setzen, auf Sitten und Präzedenzen be
ruhendeArrangementgar nichtkodifi
ziert sei.Daher argumentiert er seit lan
gem für eineKodifizierung, zumal – wie
neulich ein hoher Richter bemerkte –
die bestehendeVerfassung sokompli
ziert sei, dasskeiner sich mehr in ihraus
kennenkönne.
Jetzt fokussiert Bogdanor in«Be
yond Brexit» («Über den Brexit hin
aus») seinWissen darauf, dieBausteine
für eine solcheVerfassung zu liefern.Mit
der European CommunitiesAct (1972)
übernahm Grossbritannien europäi
schesRecht.Dadurch aber verwandelte
sich dieVerfassung von einemtraditio
nellen in ein juristischesSystem. Zu den
Neuerungen zählte der Einbezug der
Menschenrechte; vorher unterstanden
diese demParlament, jetzt wurden sie
zur Sache des Gerichts und wurden erst
mals in derVerfassung verankert.Das
führte laut Bogdanor zu einemPara
dox: «Die ganze Idee der Souveränität
desParlamentsliegt darin, dass eskeine
Rechte gegen dasParlament geben
kann. Es schafft dieRechte.» Mit dem
Austritt aus der EU entfallen manche
Rechte, die nur durch die EUGrund
rechtecharta geschützt sind, zum Bei
spiel dasRecht auf Gleichheit vor dem
Gesetz.Aus komplizierten Gründen
werden auch dieRegionen, an die man
zunehmend die Macht verteilt hat, nur
durch die Mitgliedschaft in der EU im
Gleichgewicht gehalten.
Die eigentliche gefährliche Krise
droht erst nach dem Brexit: DieVe r
fassung könnte zerfallen. Bogdanor
schlägt dagegendrei vorbeugende Mass
nahmen vor:Festlegung derRegeln für
ein Plebiszit, Sicherung der Menschen
rechte undFestigung der Beziehung zu
denRegionen. Besonders kritisch ist die
Erkenntnis, dass der Staat beim Brexit
von einer geschützten zu einer unge
schütztenVerfassung übergehen wird.
Die normale Entwicklung ist umge
kehrt. Bogdanor erhofft sich vom Bre
xi t einen«Verfassungsaugenblick», wie
etwa1776 in Amerika. BorisJohnsons
Versuch, dasParlament für fünfWochen
in die Zwangsferien zu schicken und
das folgende dramatische Urteil des
Supreme Court haben die Stimmung
vollkommen verändert.Auch der bis
herige Speaker des Unterhauses, John
Bercow, unterstütztjetzt dieKodifizie
rung. Ob die nötige Einigkeit unter den
Parteien aufkommen wird, ist allerdings
eineFrage, der man leider nur mit Skep
sis begegnen kann. AlsWegweiser durch
diese Aporien kann Bogdanorsmeister
hafte Analyse allen Lesern empfohlen
werden, die sich für Grossbritanniens
Zukunft interessieren.
In der Schuldenfalle
Wenn die Verschuldung zur Bedrohungder Freiheit wird
MichaelFerber·Schulden sind per se
weder gut noch schlecht. Ohne Kredite,
also Schulden und entsprechende Gutha
ben, wäre die Entstehung der modernen
Wohlstandsgesellschaftenkaum möglich
gewesen. «Auch die öffentlicheVerschul
dung zurVerteilung vonAusgaben über
verschiedene Generationen, zum Bei
spiel beimBau von Schulhäusern oder
Spitälern, erscheint sinnvoll und ist un
bestritten», schreibt IvanAdamovichin
dem von der ProgressFoundation her
ausgegebenen Buch«Vom Kredit zur
Schuld». Gefährlich wird es aber, wenn
dieVerschuldung überhandnimmt – und
genaudies dürfte in den vergangenen
Jahrzehnten passiert sein.Laut den Öko
nomen CarmenReinhart,VincentRein
hart undKennethRogoff war der Schul
denstand in den Industrieländern in den
vergangenen 120Jahren nie höher, auch
nach dem ZweitenWeltkrieg nicht. Zu
sätzlich sind die Unternehmensschulden
in vielenLändern stark gestiegen. Eine
Tr endwende ist nicht in Sicht. Die hohen
Schulden wirken sich zunehmend negativ
auf dasWirtschaftswachstum aus, schaf
fen soziale und politische Spannungen
und bedrohen dieFreiheit.
Elf Beiträge namhafter Autoren
beleuchten die hochaktuelleThema
ti k.Das Buch liefert überdies Vor
schläge, wie dem Problem wachsender
Schuldentürme beizukommen wäre.
Dies geht wohl nur über eineFörde
rung derFinanzdisziplin. Zu den nütz
lichen Instrumenten gehören etwa der
Steuerwettbewerb zwischen Gebiets
körperschaften und eine in derVerfas
sung verankerte Schuldenbremse. Chris
toph Schaltegger und Michele Salvi zei
gen in ihrem Beitrag, dass die Schwei
zer Schuldenbremse nachweislich für
den Schuldenrückgang hierzulande ver
antwortlich war; nach ihrer Einführung
imJahr 2003 wies die ordentlicheFinan
zierungsrechnung des Bundes in 11 von
15 Ja hren einen Überschuss aus.
Vernon Bogdanor:
Beyond Brexit.Towards
a British Constitution.
I. B. Tauris,London 2019.
285 S., Fr. 38.90.
Ivan Adamovich, Chris-
toph A. Schaltegger:
Vom Kredit zur Schuld.
Wenn Verschuldung
die Freiheit bedroht.
NZZ Libro,Basel 2019.
178S., Fr. 38.–.
Es gibt Bücher, die bringen Berufspäd
agogenzumKochen. Gemeint sind die
Generalabrechnungen von Nichtpäd
agogen mit der Schule.Der Allzweck
philosoph RichardDavid Precht zählt
zu dieser Kategorie, nun ist dieReihe
wieder am deutschen Kinderpsych
iaterMichaelWinterhoff. Das bekann
teste seiner mittlerweile neun Bücher,
«Warum unsere KinderTyrannen wer
den oder: Die Abschaffung der Kind
heit», ist 2009 erschienen und steht mitt
lerweile in der19.Auflage.Und jetzt
also: «Deutschland verdummt.Wie das
Bildungssystem die Zukunft unserer
Kinder verbaut» – wieder ein Bestseller.
Übermässig Mitleid mit den Profis
braucht man nicht zu haben, aber ein
wenig kann man ihrenFrust verstehen,
wenn sie beiWinterhoff zumx ten Mal
lesen müssen, dass alles denBach hin
untergehe, Eltern, Kinder, Schule – und
jetzt noch das ganzeLand. Die «Zeit»
nenntWinterhoff bereits den«T hilo Sar
razin der Erziehung» und seine Ideen
eine «Pädagogik des Grauens», es wird
seinenVerkaufserfolg nicht schmälern.
Die Grossthese des Kinderpsychiaters:
Es wachse gerade eine ganze Generation
verhaltensgestörter jungerMenschenmit
der geistigenReife von Kleinkindern he
ran.Weil die Eltern nicht mehr Eltern
sein wollten oderkönnten und bei der
Erziehungkomplett versagten – «dieser
Kampf ist so gut wie verloren» (Winter
hoff) –, müsse es nun die Schule richten.
Wenn sie nurkönnte. Denn auch das Bil
dungswesen sieht derAutor seit zwanzig
Jahren durch alle möglichen und unmög
lichenReformen ruiniert.
Auf jeder zweiten Seite ist von
«Chaos»,«Katastrophen» und«Wahn
sinn» dieRede, und sollte sich das Bil
dungssystem nichtrasch und gründlich
ändern,schreibtWinterhoff im Schluss
kapitel, dann «wirddas schleichende
Gift der fehlenden psychischen Ent
wicklung unsere Gesellschaft unrettbar
und binnen kurzer Zeit aushöhlen».
Karikaturhafte Kritik
Ziemlich schrilleThesen. Oft genug
sind sie mehr anekdotisch behauptet
als empirisch belegt, aber offensicht
lich ritzen sie einen dicken Nerv. Ganz
besonders verbeisst sichWinterhoff in
die «Ideologie des offenen Unterrichts»
und des «autonomen Lernens», bei dem
die Lehrerin zur Lernbegleiterin degra
diert werde und nicht mehr die Chefin
mit klaren Ansagen sei.
Tatsächlich gibt es viele gute Gründe,
das Rollenverständnis eines passiven
Lehrers, der sich den tagesaktuellenLau
nen seiner Klasse ergibt, für falsch zu hal
ten; der BildungsforscherJohn Hattie hat
sie in seiner epochalen Studie über guten
Unterricht genannt. Doch ist diese Kritik
nicht eher eine Karikatur derRealität?
Winterhoff tut so, als sei offener Unter
richt in ganz Deutschland quasidiktato
Verblöden
unsere Schulen?
Das Bildungswesen gehe den Bach hinunter – das ist
immer wieder zu hören. Zwei ganz unterschiedliche
Autoren untersuchen die Trends der letzte n Jahre und
üben scharfe Kritik an den permanentenReformen.
Von Martin Beglinger
risch verordnet worden und habe sich im
Schulalltag als flächendeckende ideologi
sche Unterwanderung durchgesetzt. Bei
des stimmt nicht, nicht für Deutschland
und noch weniger für die Schweiz.
Winterhoffwill «wieder auf Bindung
und Beziehung» in der Schule setzen.
Daran ist nichts gruselig, im Gegenteil,
ohne Beziehung kann wederErziehung
noch Schule funktionieren. Doch warum
«wieder»?Das klingt, als hätte «die»
Schuleseit eh und je auf Bindung und
Beziehung gesetzt. Gute Lehrer taten
das tatsächlich schon immer und ganz
von sich aus, aber was ist mit den vielen,
vielen andern?Winterhoff will offenbar
zurück in die Zeiten vor 1990 , als die
Schule noch «einigermassen gut» funk
tioniert habe, wie er behauptet. Doch
damitverklärternicht nur die alten Zei
ten, sondern er verkennt auch, wie sehr
sich die Umstände verändert haben.
Aufs Maximum reduzieren
Für alle, denen WinterhoffsDauer
alarmismus auf die Nerven geht, gibt
es eine Alternative. Sie stammt vonJür
gen Kaube, der dasKunststück schafft,
neben seinemJob als Mitherausgeber
der «Frankfurter Allgemeinen Zei
tung»regelmässig interessante Bücher
zu schreiben (zuletzt über «Die An
fänge von allem» oder eine Biogra
fie von MaxWeber). «Ist die Schule zu
blöd für unsere Kinder?», fragtjetzt der
zweifacheVater Kaube imTitel.Auch
er schreibt kritisch,aber nicht imWelt
untergangsmodus wieWinterhoff.
«Lehrer und Schulen sollen dies und
das Gegenteil, das Praktische und das
Theoretische, Chancengleichheit und
PisaLeistungen, Arbeitsmarkt und
Abendland. Natürlich sollen sie dabei
auch noch Einwanderer integrieren,
allen ambitionierten Elterngefallen,
keineRechtsverordnung verletzen, den
Übergang in die digitaleWelt unterstüt
zen und die HandyWelt bekämpfen»,
schreibt Kaube. Und folgert plausibel,
dies alleskönne nur in einer «verrück
ten Überforderung» enden.
Was also muss die Schule? Seine
Antwort, kurz und knapp: Sie muss die
Schüler lesen, schreiben,rechnen und
selber denken lehren. «Reduce to the
max», um es mit einem altenWerbe
spruch zu sagen.Das mag wenig sein
und ist doch für erschreckend vielebe
reits zu viel verlangt,eingedenk derTat
sache, dass in Deutschland jedes fünfte
Kind die deutsche Grundschule verlässt,
ohneausreichend lesen zukönnen.
Obschon dieTonalität der beiden
Bücher sehr verschieden ist,so liegen
ihrePositionen immer wieder nahebei
sammen.Auch Kaube argumentiert eher
konservativ, aber nicht deshalb, weil er
früheralles besser fand, sondern weil er
Änderungen nicht a priori besser findet,
nur weil ihnen dasLabel «zeitgemäss»,
«progressiv» oder «modern» anhängt.
BeideAutoren kritisieren etwa die Pi
saTestGläubigkeit oderdie einseitige
Fokussierung auf die Bedürfnisse der
Wirtschaft; sie schreiben gegen denRun
auf die Gymnasien an und schonen jene
Eltern nicht, die von der Schule die Pro
duktion von karrieretauglichem Nach
wuchs verlangen wie von ihremFinanz
beratereineguteRendite.
Und nicht zuletzt treffen sie sich in
ihrer scharfen Kritik an den schulischen
Dauerreformen. Bei diesemThema,
so Kaube, «wären wir bei einem ent
scheidendenFaktor des Leidens an der
Schule. Bei den Didaktikern, Lerntheo
retikern, Methodenerfindern nämlich
und ihren erziehungswissenschaftlichen
Begleitforschern. Sie haben, unterstützt
durch reformfreudige Bildungsbüro
kratien und eine mitReformen ihre
Geschäfte machendeWeiterbildungs
und Lehrmittelindustrie,die Schule
zu einem Experimentierfeld von an
geblichen Modernisierungen gemacht.
Diese erfolgen oft ohne jeden anderen
Anlass als ihr eigenes Innovationsbe
dürfnis.»
Auch mit dem jüngsten Hype an den
Schulen, der Digitalisierung, gehen sie
hart ins Gericht. Kaube formuliert es
so: «Ein wichtiges Lernziel an Schulen
istResistenz gegen Phrasendrescherei.
Mankönnte beimThema Digitalisie
rung damit anfangen.»Winterhofffor
dert, die Schule müsse die Kinder vor
dem «Digitalisierungswahn» bewahren
und bis zur vierten Klasse eine «digi
talfreie Zone» bleiben. So halten es be
kanntlich bereits die Digitalkönige in
Kalifornien, die ihre eigenen Kinder in
MontessoriSchulen schicken.
In der Schweiz liegen wir wo
möglich noch etwas näher an Kau
bes Idealschule, wohl auch deshalb,
weil sich die föderalistisch organi
sierteVolksschule bisher als praxis
näher und ideologieresistenter erwie
sen hat. Doch auch hierzulande ist
diePädagogik unterdessen ein aka
demisches Modebusiness geworden,
das mit den internationalenWellen
schwimmt. Mit dem Lehrplan 21 hat
sich die «KompetenzphrasenIndus
trie» (Kaube)auch in der Schweiz
durchgesetzt,nun beginntman dar
über zu streiten, wie praxistauglich das
alles wirklich ist und wie sichKompe
tenzen überhaupt messen lassen. Ob
die Schüler am Ende tatsächlich besser
lesen,rechnen, schreiben und denken
können – niemand weisses, auch nicht
die Bildungsforschung. Sicher ist nur:
Die Sache wird richtig teuer. Und die
nächste Modewellekommt bestimmt.
JürgenKaube: Ist die Schule zublöd
für unsere Kinder?Verlag Rowohlt Berl in,
Berl in 2019. 335S., Fr. 31.90.
Michael Winterhoff: Deutschland ver-
dummt.Wie das Bildungssyste m die Zukunft
unsererKinder verbaut. Gütersloher Verlags-
Auch im Schulzimmerwarfrüher nicht einfachallesbesser. KARIN HOFER /NZZ haus, Gütersloh 2019. 221S., Fr. 31.90.