W
enn eine Spitzenposition
nach vielen Jahren neu be-
setzt wird, dann liest man oft
„sie tritt in große Fußstap-
fen“, womit eine gewisse
Überforderung suggeriert wird, oder „er hinter-
lässt ein geordnetes Haus“ oder auch ganz un-
spektakulär „von ihr ist Kontinuität zu erwar-
ten“. All das will im Fall der Nachfolge des Präsi-
denten der Europäischen Zentralbank (EZB), Ma-
rio Draghi, durch die frühere Chefin des Interna-
tionalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagar-
de, nicht passen. Draghis Fußstapfen sind groß,
aber Lagarde kann sie angesichts ihrer interna-
tionalen Finanzmarkterfahrung ausfüllen.
Ein geordnetes Haus wird der 63-jährigen Juris-
tin nicht hinterlassen, zu umstritten waren die
letzten Maßnahmen im EZB-Rat. Mit Kontinuität
ist daher, aber auch wegen einer global stattfin-
denden Diskussion über die Rolle und die Gren-
zen der Geldpolitik nicht zu rechnen. Lagarde
hat bereits eine entsprechende Grundsatzdebatte
angekündigt. Interessanterweise hat Draghi
durch seine umstrittene Politik den Boden für
diese Grundsatzdebatte bereitet. Denn der EZB-
Chef ist mit den letzten Entscheidungen nahe an
das Äußerste des geldpolitisch Möglichen gegan-
gen. Viel tiefer können die Zinsen nicht mehr sin-
ken, weil Anleger ansonsten verstärkt auf Bar-
geldhaltung umschwenken würden.
Die politisch brisanten Anleiheankäufe von
monatlich 20 Milliarden Euro sind gerade noch
das Volumen, das ohne eine Änderung der An-
kaufbedingungen erworben werden kann.
Schließlich birgt die stark ausgeweitete soge-
nannte Forward Guidance das Risiko, der EZB
die Hände zu binden. Gleichzeitig hat Draghi
deutlich gesagt, dass jetzt die Fiskalpolitik ge-
fragt sei. Kurz: Die Politiker können sich nicht
mehr hinter der Geldpolitik verstecken. Die Re-
gierungen müssen die EZB durch eine wachs-
tumsfreundliche Politik dabei unterstützen, das
Inflationsziel wieder zu erreichen, statt sie unter
den Stichworten „Enteignung der Sparer“ und
„Targetsalden“ mit Kritik zu überziehen.
Das ist die Steilvorlage, die Draghi seiner Nach-
folgerin Lagarde liefert, und sie dürfte diesen Ball
aufnehmen. Lagarde hat beim IWF eine entschei-
dende Erfahrung gemacht: Geldpolitik ist nur ein
Baustein im Konzert wirtschaftspolitischer Maß-
nahmen. Was bringt es, die Finanzierungsbedin-
gungen weiter zu lockern, wenn die Finanzmärkte
in der Euro-Zone segmentiert bleiben, unter ande-
rem wegen fehlender Fortschritte bei der Banken-
union, teilweise rückständiger Insolvenzrechts-
rahmen und national agierender Aufsichtsbehör-
den? Wie soll die EZB das Wachstum und damit
die Inflation ankurbeln, wenn ineffiziente Verwal-
tungen Unternehmensgründungen erschweren,
Dienstleistungsmärkte überreguliert sind und Ar-
beitsmärkte nur halbherzig reformiert werden?
Und natürlich muss der öffentliche Sektor auch
in Deutschland Infrastrukturinvestitionen erhö-
hen und auf diese Weise die Geldpolitik der EZB
unterstützen. In diese Richtung dürfte Lagarde
die Politik in die Pflicht nehmen. Sie kann dies
aufgrund ihres IWF-Hintergrunds mit einer we-
sentlich größeren Glaubwürdigkeit tun, als es ih-
ren Vorgängern möglich war, die einen relativ en-
gen geldpolitischen beziehungsweise Finanz-
markthintergrund hatten. Dabei werden Lagarde
ihr Kommunikationsgeschick, ihre Durchset-
zungskraft und ihr großes Netzwerk zugutekom-
men, das sie während ihrer Zeit beim Fonds unter
anderem bei den G20-Gipfeln ausbauen konnte.
Offensiv dürfte sie von den Regierungen Ände-
rungen der Politik einfordern. Unter diesem Ein-
druck könnten nicht nur die Kapitalmarkt- und
die Bankenunion stärker Gestalt annehmen (et-
wa die gemeinsame Einlagensicherung), sondern
auch das Vorhaben eines Euro-Haushalts könnte
an Fahrt gewinnen. Die Notwendigkeit von Struk-
turreformen dürfte wesentlich stärker betont
werden, und auch wenn die EZB kein direktes
Druckmittel gegenüber den Mitgliedsländern in
der Hand hat, könnte Lagarde durch ihre einneh-
mende Art die öffentliche Meinung zugunsten
dieser Änderungen beeinflussen. Möglich ist
auch, dass sie eine Erweiterung des geldpoliti-
schen Instrumentenkastens einfordert, etwa die
Möglichkeit, Helikoptergeld für alle einzusetzen.
Insgesamt dürfte die EZB politischer werden.
Manch einer mag dies verwechseln mit politi-
scher Abhängigkeit. Gemeint ist aber das Gegen-
teil. Unter Lagarde könnte sich die EZB zu einem
wichtigen politischen Spieler entwickeln, der
den Mut hat, den Regierungen stärker Paroli zu
bieten, und der auf die Defizite der Wirtschafts-
politik verweist, ohne ihnen die Unterstützung
zu versagen. Die EZB wird ein neues Gesicht be-
kommen und Europa der Wechsel an der Spitze
dieser Institution guttun.
Lagarde ist gut
für Europa
Die neue EZB-Chefin wird die Politik stärker in
die Pflicht nehmen, glaubt Cyrus de la Rubia.
Der Autor ist Chefökonom der Hamburg
Commercial Bank.
Achim Liebsch [M]
Lagarde hat
beim IWF
eine ent-
scheidende
Erfahrung
gemacht:
Geldpolitik ist
nur ein
Baustein im
Konzert
wirtschafts-
politischer
Maßnahmen.
Gastkommentar
DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210
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