Die Welt - 09.11.2019

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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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DWBE-HP

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28 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG,9.NOVEMBER2019


D


ie DDR hat Timothy Gar-
ton Ash erstmals in den
7 0er-Jahren bereist, spä-
ter, als Doktorand, lebte er
mehrere Monate in Ost-
Berlin. Auch in Polen, der
Tschechoslowakei und
Ungarn recherchierte der britische Historiker
und traf sich mit Dissidenten wie Václav Havel
und Lech Walesa. Mit Leidenschaft und intel-
lektueller Schärfe machte er daraus Essays, die
Hintergründe beschrieben, die schließlich zur
Revolution von 1989 führten. Zusammenge-
fffasst erschienen die Texte in einem Buch, dasasst erschienen die Texte in einem Buch, das
ihn zu einem der bedeutendsten Chronisten
jener Jahre machte, „Ein Jahrhundert wird ab-
gewählt“ (Hanser), das jetzt in einer Neuaufla-
ge erscheint. Im Nachwort fragt sich der 64-
Jährige, der an den Universitäten in Oxford
und Stanford lehrt, was in den vergangenen 30
Jahren falsch gelaufen ist, warum sich in vielen
ehemaligen Diktaturen Osteuropas Populisten
ausbreiten und was die Entwicklung für das
VVVerständnis vom Westen bedeutet. Wir trafenerständnis vom Westen bedeutet. Wir trafen
Timothy Garton Ash an der Stanford Univer-
sity zu einem Gedankenaustausch über die
Wirren unserer Zeit.

VON STEFAN AUST UND MARTIN SCHOLZ

LITERARISCHE WELT: WWWissen Sie noch, woissen Sie noch, wo
Sie waren, als Sie die Nachricht hörten, die
Berliner Mauer ist gefallen?
TIMOTHY GARTON ASH:Ich war in Oxford,
leider. Und habe die Nachricht am frühen
Morgen gehört. Ich bin sofort am nächsten
Tag nach Berlin geflogen. Mein erster Weg
ffführte mich zu meinem ältesten Freund inührte mich zu meinem ältesten Freund in
Ost-Berlin, dem Pfarrer Werner Krätschell.
Wir sind zusammen zur Mauer gegangen. Wir
standen erst mal einfach nur da. Ich bin dann
etliche Male mit kindlicher Freude hin und her
gelaufen: von Ost nach West, von West nach
Ost und wieder zurück (lacht).Denn ich war ja
jahrzehntelang nur durch den Checkpoint
Charlie oder den Übergang Friedrichstraße ge-
kommen. Und jetzt auf einmal diese unglaub-
liche Freude, einfach durch die Mauer spazie-
ren zu können. Es war fantastisch.

Hatten Sie in dem Moment schon eine Ah-
nung davon, was dieses Ereignis bewegen
wwwürde oder wofür der Mauerfall später sym-ürde oder wofür der Mauerfall später sym-
bolisch stehen würde?
Schon. Weil ich in den Jahren zuvor die ganze
Entwicklung in Ostmitteleuropa, zunächst in
Polen, in Ungarn, dann eben in der DDR ganz
genau verfolgt hatte, war mir schnell klar: Das
bedeutet das Ende des sowjetischen Imperi-
ums in Osteuropa und damit auch das Ende
der Sowjetunion selbst. Die Mauer und der Ei-
serne Vorhang waren ja wie ein Faktum der

physischen Geografie gewesen. Junge Men-
schen von heute, die das nicht erlebt haben,
können dieses unglaubliche Gefühl der Befrei-
ung kaum nachempfinden, wenn sie sagen: „Es
war doch nur eine Mauer!“ Nein, es war eben
nicht nur eine Mauer, sie war so monumental
wie die Alpen. Und für all diejenigen, die bis zu
diesem Moment nur diese Welt des Sowjet-
blocks, des Ostblocks, gekannt hatten, war die-
ses Ereignis so, als wären plötzlich die Alpen in
sich zusammengefallen.

Nach dem Mauerfall galt es als Selbstver-
ständlichkeit, dass in dem Moment, da Kapi-
talismus und Marktwirtschaft eingeführt
werden, sich auch automatisch die Demo-
kratie einstelle. Ein großer Denkfehler oder
einfach nur Arroganz?
Man spricht heute sehr oft und sehr kritisch
vom sogenannten liberalen Triumphalismus
nach 89. Den gab es natürlich. Nur: Der Mauer-
fffall war ja zweifelsohne ein großer liberalerall war ja zweifelsohne ein großer liberaler
Triumph! Ich habe ja auch triumphiert. Das
Triumphgefühl war nicht der Fehler. Der Feh-
ler war zu glauben, dass die Geschichte jetzt
nach diesem Muster einfach weiter in diese
Richtung laufe. Dass dies jetzt die neue Nor-
malität wird – „the new normal“.

Francis Fukuyama führte in dem Zusam-
menhang den Begriff vom „Ende der Ge-
schichte“ ein.
Mein Kollege an der Stanford-Universität hat
„Das Ende der Geschichte“ in einem ganz be-
stimmten Sinne benutzt – nämlich, dass es
von dem Moment an keine konkurrierende,
transnationale, kulturübergreifende Ideolo-
gie mehr gibt. In den 90er-Jahren stimmte das
ja auch. Der Islamismus war ja keine kultur-
übergreifende Ideologie, wie der Kommunis-
mus oder der Faschismus oder die liberale

Demokratie es waren. Insofern hatte er recht.
Noch mal: Der Fehler war, zu glauben, dass
dieser Zustand von jetzt an „the new normal“
sei. Zwei Beispiele: Paul Wolfowitz und die
Neocons, die geglaubt hatten, man brauche
nur den Diktator Saddam Hussein zu stürzen
und schon folge die Demokratie im Irak.
Zweites Beispiel: Die Berichterstattung über
den „arabischen Frühling“. Es gibt zwei Ge-
nerationen von Journalisten. Diejenigen, die
wie ich 1989 miterlebt haben, und diejenigen,
die sich wünschten, sie hätten es miterlebt.
Fast alle Journalisten hatten den „arabischen
Frühling“ als ein zweites 1989 fehlinterpre-
tiert. Das war der Fehler. Aber nicht der ur-
sprüngliche Triumph. Und wenn man uns
heute vorwirft, wir wären nach dem Mauerfall
hochmütig geworden, dann muss ich ener-
gisch widersprechen. Wir wussten damals
doch überhaupt nicht, ob es gelingen würde,
aus einer kommunistischen Kommandowirt-
schaft eine halbwegs funktionierende freie
Marktwirtschaft zu machen. Wir erzählten
uns damals immer diesen Witz: „Wir wissen,
dass man aus einem Aquarium eine Fischsup-
pe machen kann, aber kann man aus einer
Fischsuppe ein Aquarium machen?“ Wenn es
denn bei uns Liberalen eine Überheblichkeit
gab, dann setzte sie später, Anfang des 21.
Jahrhunderts ein, als es schien, die Wandlun-
gen in Ostmitteleuropa wären einigermaßen
gelungen.

Sie schreiben im aktualisierten Nachwort
Ihres Bestsellers „Ein Jahrhundert wird ab-
gewählt“ auch über etwas, das es 1989 noch
nicht gab: Pegida und die AfD. Sie haben als
Historiker immer wieder Ihren analytischen
Blick auf ost- wie westdeutsche Befindlich-
keiten gerichtet. Haben Sie für sich eine
Antwort auf die in Deutschland immer wie-
der gestellte Frage gefunden, wie man mit
der AfD umgehen soll?
Die AfD ist auch für mich ein schockierendes
Phänomen. Ich hätte nie geglaubt, dass eine
völkische Rhetorik, dass ein derartiger Wort-
schatz, ein derartiges Denken, so schnell, so
penetrant, so unverblümt und unverschämt
zurückkommt. Das ist schockierend.

Hat Sie das überrascht?
Sie müssen unterscheiden zwischen über-
rascht sein und schockiert sein. Man kann
schockiert sein, ohne überrascht zu sein. Und
man kann auch überrascht sein, ohne scho-
ckiert zu sein. Was die AfD betrifft, bin ich ein-
fffach nur schockiert. Aber wenn ich mir an-ach nur schockiert. Aber wenn ich mir an-
schaue, wie viele Menschen in den neuen Bun-
desländern sprechen und denken, dann verste-
he ich sofort, warum eine Partei wie die AfD
dort besonders erfolgreich ist. Es ist interes-
sant, wie sehr jenes Osteuropa im Sinne des

Kalten Krieges noch in vielen Köpfen präsent
ist, weiterexistiert. Es ist ein Phänomen, dass
dieser Teil Deutschlands in dieser Hinsicht
nach wie vor so klare Konturen hat – mit Aus-
nahme Berlins.

Jedenfalls wurde selten so verbittert über
die Unterschiede zwischen Ost- und West-
deutschen debattiert wie ausgerechnet heu-
te, vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Das stimmt, aber die Grundanlage dafür gab es
schon damals, relativ kurz nach dem Mauer-
fffall. Damals gab es diesen Witz: Als die Ost-all. Damals gab es diesen Witz: Als die Ost-
deutschen sagten „Wir sind ein Volk“, entgeg-
neten die Westdeutschen „Wir auch“. Und ich
erinnere mich auch noch sehr gut an die Reak-
tionen vieler West-Berliner, denen es nur ein
paar Wochen nach der Maueröffnung alles zu
viel wurde. Aber zurück zu Ihrer Frage: Dass
viele sich nach den jüngsten Wahlen in Ost-
deutschland damit besänftigten, die CDU habe
in Sachsen knapp mehr Stimmen als die AfD
und die SPD in Brandenburg ebenfalls – das
war doch ein sehr schwacher Trost. Ich meine:
Die AfD vereinigt dort praktisch ein Viertel der
WWWähler auf sich! Etwas mehr in Sachsen, etwasähler auf sich! Etwas mehr in Sachsen, etwas
weniger in Brandenburg.

Bei den Wahlen in Thüringen kam die AfD
auf 23,5 Prozent – mit ihrem Spitzenkandi-
daten Björn Höcke, der dem völkischen Flü-
gel angehört. Wie beurteilen Sie diese Ent-
wicklung?
Ja, wieder hat fast ein Viertel der Wähler für
die AfD gestimmt – und das mit einem wirklich
extrem rechten Anführer wie Höcke. Dies ist
ein weiterer Beweis dafür, dass der berühmte
Satz von Bill Clinton – „it’s the economy, stu-
pid“ – uns hier nicht viel weiterbringt. Der
Schlüssel liegt nicht im Sein, sondern vielmehr
im Bewusstsein. Ich habe neulich ein Infratest-
Ergebnis zu Sachsen gelesen. 75 Prozent der
Befragten gaben an, der Wirtschaft in Sachsen
gehe es gut oder sehr gut. Aber: 66 Prozent
meinten, Ostdeutsche würden als Bürger zwei-
ter Klasse behandelt. Das ist wirklich faszinie-
rend. Nicht wirtschaftliche Faktoren, sondern
diese Gefühlslage, das Kulturelle im weitesten
Sinne ist hier entscheidend. Das muss man
verstehen. Die wichtige Frage muss jetzt hei-
ßen: Wie gewinnt man diese Wähler der AfD
zurück?

Haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
Indem man zunächst diese Gefühlslage ver-
steht. Diese Gefühlslage der Erniedrigung.

VVViele Westdeutsche würden Ihnen daraufiele Westdeutsche würden Ihnen darauf
mutmaßlich antworten, dass sie diese Kla-
gen 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr
hören können. Sind die alle arrogant und
auf ihre Weise ewig gestrig?

Moment: Ob dieses Gefühl berechtigt ist oder
nicht, ist nicht entscheidend. Wichtig ist: Die-
se Gefühlslage ist da. Und sie wird von Popu-
listen, so wie in anderen Ländern in anderen
Kontexten, für ihre Zwecke benutzt. Das ist
das eine. Das Zweite ist: Ich bin sehr dafür,
dass man nicht mit der AfD koaliert. Wenn
bürgerliche Parteien bereit sind, mit Populis-
ten zu koalieren, wie das in Österreich unter
Sebastian Kurz geschehen ist, dann stärkt das
letztendlich nur die Populisten. Ich bin dafür,
dass man diese Linie – keine Koalitionen mit
Populisten – hält. Ich bin aber auch dafür,
nicht ständig in Hysterie zu verfallen und so-
zusagen jeden AfD-Wähler sofort als Rassisten
oder Nazi zu disqualifizieren.

Und wie verhindert man, dass immer mehr
Leute diese Parteien wählen? Wenn die Poli-
tik zu viele Themenfelder, den Schutz der
AAAußengrenzen, den Rechten überlässt?ußengrenzen, den Rechten überlässt?
Müssten Sie bei dieser Frage nicht sich selbst,
also die Medien, mit einschließen?

Sicher. Die Medien haben mit ihrer Bericht-
erstattung auch dazu beigetragen.
Darin würde ich Ihnen ausdrücklich zustim-
men.

Unser Kollege Robin Alexander hat in sei-
nem Buch „Die Getriebenen“ darüber ge-
schrieben, wie sich die Bundesregierung
2 015 während der Entstehung der Flücht-
lingskrise von den Medien hat treiben las-
sen und sie ihrerseits gleichzeitig mitgetrie-
ben hat – weil sie sich nicht getraut hat zu
sagen: Das geht jetzt so nicht weiter. Es gibt
politische Beobachter, die überzeugt sind,
dass die Auswirkungen dieser Politik mit-
verantwortlich für den Ausgang des Brexit-
Referendums waren.
Das müssen Sie erläutern.

Der britische Schriftsteller Tom Bower
schrieb in WELT über die Arroganz von
Frau Merkel und Herrn Juncker, weil sie
nicht berücksichtigt hätten, dass die Flücht-
lingskrise in Großbritannien andere Ängste

icht berücksichtigt hätten, dass die Flücht-
ingskrise in Großbritannien andere Ängste

icht berücksichtigt hätten, dass die Flücht-

fffreisetzte, die sich letztlich in einer Gefühls-reisetzte, die sich letztlich in einer Gefühls-
lage verdichteten: Raus aus der EU!
Ich habe in dieser Phase der Flüchtlingskrise
2 015 viel mit No. 10 Downing Street zu tun ge-
habt. Wir haben ihnen empfohlen: Ihr müsst
etwas zum Thema Einwanderung sagen.
„Nein, nein, nein. Wir fokussieren uns nur auf
Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft!“, hieß es
immer. Ich stimme Ihnen insofern völlig zu:
Man muss diese Themen offensiv ansprechen,
darf sich nicht wegducken.

WWWelche Rolle spielt bei dem Auseinander-elche Rolle spielt bei dem Auseinander-
driften der westeuropäischen und der frü-

her östlich europäischen Staaten Migration
und die sogenannte Flüchtlingskrise?
Dieser Prämisse, dass es in der Frage ein Aus-
einanderdriften zwischen Ost- und Westeuro-
pa gibt, würde ich nicht ohne Weiteres zustim-
men. Denn jemand wie Salvini mit seiner res-
triktiven Flüchtlingspolitik passte demnach ja
sehr gut nach Ostmitteleuropa, so wie Sie es
skizziert haben, nicht wahr? Ebenso wie die
Französin Marine Le Pen oder der Brite Nigel
Farage. Ich glaube, es ist übertrieben, in dieser
Hinsicht von einem Auseinanderdriften zwi-
schen Ost und West zu sprechen. Die Flücht-
lingsfrage spaltet auch westeuropäische Län-
der. Das in dieser Hinsicht Eigenartige an Ost-
mitteleuropa ist etwas anderes: Dort wird die
große Migrationsfrage gestellt, ohne dass es zu
diesen Ländern hin eine große Migration gäbe.
In Italien, in Deutschland, in Frankreich und
Spanien ist die Einwanderung ein großes The-
ma. Nur: Dorthin gibt es ja auch tatsächlich ei-
ne große Einwanderung.

Das Hauptziel der meisten Migranten, die in
Griechenland, Italien oder woanders an die
KKKüste kommen, ist oft Deutschland.üste kommen, ist oft Deutschland.
Jein.

WWWieso Jein?ieso Jein?
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem
jungen Afghanen, einem Flüchtling in Berlin in
irgendeiner Flüchtlingsunterkunft. Der hatte
gerade ein bisschen Deutsch gelernt und war
sehr stolz darauf. Ich fragte ihn: „Warum
kommst du nach Deutschland und nicht nach
Italien?“ Er blickte mich an und sagte in sei-
nem neu gelernten Deutsch: „Italien hat kein
Geld!“ (lacht)Kurz und bündig, präzise formu-
liert. Aber die Migration ist auch für Süditalien
und Griechenland eine große Belastung. Und
viele Einwanderer oder Flüchtlinge wollen
auch nach Schweden, in andere skandinavi-
sche Länder weiterziehen. Oder nach Großbri-
tannien. Wenn sie könnten.

Sowohl Schweden als auch Dänemark kon-
trollieren inzwischen strenger, wer ins Land
kommen darf – und wer nicht. Und um noch
mal auf das von Ihnen angesprochene „Ei-
genartige“ an Osteuropa einzugehen: Polen
weigert sich, auch nur eine kleine Zahl von
Migranten aufzunehmen.
Ja. Und dabei ging es sowieso nur um die Fra-
ge, ob Polen ein paar Tausend Menschen auf-
nehmen könnte. Das ist absurd. Darin zeigt
sich auch, dass diese ganze Diskussion um die
Einwanderung, die Migrationsfrage, eine ideo-
logisch-kulturelle Debatte ist. Ohne dass Po-
len das reale Problem im Land hätte. Aber
nochmals: Ich glaube nicht, dass dies ein spezi-
fffisch osteuropäisches Problem ist. Es hat mitisch osteuropäisches Problem ist. Es hat mit
dem Populismus zu tun, der in der gegenwärti-
gen Ausprägung ein gesamteuropäisches, ja ein
gesamtwestliches Problem geworden ist. In
den Vereinigten Staaten sieht man das täglich
an Donald Trump. Was dann jedoch spezifisch
fffür mittelosteuropäische Länder ist, vor allemür mittelosteuropäische Länder ist, vor allem
fffür Ungarn und Polen, ist deren ideologischerür Ungarn und Polen, ist deren ideologischer
Anspruch, das bessere, das traditionsreiche,
das christliche, das konservative Europa zu
verkörpern. Von Viktor Orbán stammt der in-
teressante Satz, „1989 haben wir geglaubt, Eu-
ropa sei unsere Zukunft, heute glauben wir,
wir sind die Zukunft Europas“.

Ist er damit genauso hochmütig wie jene Li-
berale, die nach ’89 glaubten, die Demokra-
tie werde wie selbstverständlich überall im
ehemaligen Ostblock gedeihen?
Ich will damit nur sagen: Wir machen es uns
zu leicht, wenn wir solche Aussagen reflexhaft
als „antieuropäisch“ abtun. Es ist nur wichtig,
sich diese Sichtweise begreiflich zu machen:
Denn in dieser Orbán-eigenen Interpretation,
die sich im Übrigen auch Nigel Farage, Marine
Le Pen oder Salvini ähnlich zu eigen machen,
verkörpern sie ein anderes Europa.

Man kann noch eine andere Frage stellen:
WWWenn die Visegrád-Staaten unter Anfüh-enn die Visegrád-Staaten unter Anfüh-
rung von Österreich nicht die Balkanroute

enn die Visegrád-Staaten unter Anfüh-
ung von Österreich nicht die Balkanroute

enn die Visegrád-Staaten unter Anfüh-

weitgehend geschlossen hätten, wäre Kanz-
lerin Merkel dann lange im Amt geblieben?
Ich glaube: Ja. Aber bei diesem Punkt geht es
jetzt um etwas Grundsätzliches. Man kann
zzzwar rein theoretisch sagen, eine liberale Ge-war rein theoretisch sagen, eine liberale Ge-
sellschaft sollte ganz offen sein für Einwande-
rungen aus aller Welt. In der Praxis bedeutete
das jedoch ganz schnell den Anfang vom Ende
einer freien und offenen Gesellschaft. Immi-
gration muss gemanagt werden. Sie muss kon-
trolliert werden.

Das bedeutet auch: Man muss festlegen, wie
viele Menschen, Einwanderer und Flücht-
linge, man in ein Land aufnehmen kann?
Selbstverständlich. Positives Musterbeispiel
dafür ist Kanada. Kanada hat als fast einzige
große westliche Demokratie die Einwande-
rung wirklich unter Kontrolle. Und weil das so
ist, gibt es dort wenig Ausländerfeindlichkeit,
weniger nationalistischen Populismus. Weil
die Bürger wissen: Das ist unter Kontrolle.
Und wenn die Einwanderer erst einmal im
Lande sind, werden sie dort auch willkommen
geheißen und gut integriert. Ich bin sehr für
diese Art von Willkommenskultur. Die Folgen
von dieser Position muss man allerdings auch
klar benennen. Wenn wir künftig im Gegen-
satz zur berühmten Inschrift am Sockel der
Statue of Liberty in New York sagten: „Don’t
give me your tired, your poor, your huddled
masses yearning to breathe free.“ Wenn wir al-
so damit sagten: Viele von euch müssen in
AAAfrika bleiben, im Nahen Osten, selbst unterfrika bleiben, im Nahen Osten, selbst unter

den schrecklichen Zuständen, die dort herr-
schen, wegen Krieg oder auch wegen des Kli-
mawandels. Wenn wir also künftig so handeln,
dann müssen wir mehr tun, um die Lebensbe-
dingungen für die Menschen in ihren Heimat-
ländern zu verbessern. Und das gehört für
mich dazu – zu einer wahrhaft liberalen Ein-
wanderungspolitik.

AAAber unabhängig davon, welche Form vonber unabhängig davon, welche Form von
Entwicklungspolitik man als Folge dessen
voranbrächte, würde doch für die Grenzen
Folgendes gelten müssen: Wenn Sie definie-
ren, welche Menschen man ins Land lässt,
müssen Sie auch klarer als bisher definie-
ren, welche Sie nicht aufnehmen.
Selbstverständlich. Grenzen sind Grenzen.

Hat man das in den 90er-Jahren innerhalb
der EU nicht vollkommen verschlafen, als
man Richtlinien und Gesetze für Grenzen
im europäischen Bereich aufstellte, die ei-
nander widersprechen?
WWWelche meinen Sie jetzt konkret?elche meinen Sie jetzt konkret?

Das Dublin-Abkommen, das besagt, wer sei-
nen Fuß auf europäischen Boden setzt, ist in
dem Land als Flüchtling zu behandeln, in
dem er ankommt. Und wer an der Grenze
zzzwischen Deutschland und Österreich ange-wischen Deutschland und Österreich ange-
troffen wird, kann zurückgeschickt werden
in jenes Land, in dem man zum ersten Mal
Europa betreten hat. Aber da durch das
Schengen-Abkommen die innereuropäi-
schen Grenzen quasi abgeschafft wurden,
besteht da ein eklatanter Widerspruch.
Das stimmt. Dieser Widerspruch ist ein Teil je-
ner Hybris, jener Überheblichkeit nach 89, von

as stimmt. Dieser Widerspruch ist ein Teil je-
er Hybris, jener Überheblichkeit nach 89, von

as stimmt. Dieser Widerspruch ist ein Teil je-

der wir anfangs gesprochen haben. Gerade in
dieser Zeit. Im Nachhinein kann man sich
schon fragen, wie es dazu kommen konnte.
Der Schengen-Bereich ist offen, die inneren
EU-Grenzkontrollen wurden abgeschafft,
gleichzeitig gab es fast keine Sicherung der Au-
ßengrenze. Das ist absurd! Idiotisch! Aber zu
jener Zeit ist dieser Widerspruch auf der EU-
Ebene niemandem aufgefallen.

WWWas den Brexit betrifft, ist der gegenwärtigeas den Brexit betrifft, ist der gegenwärtige
Stand, dass ein weiterer Aufschub für einen
EU-Austritt bis Ende Januar 2020 gewährt
ist, und es gibt Neuwahlen am 12. Dezember.
Der Rest der Welt hat sich inzwischen an
diese immer absurder werdende unendliche
Geschichte gewöhnt. Sie auch?
Es gibt eine neue Wortschöpfung: Brexiterni-
ttty! Ich hätte ein zweites Referendum vorgezo-y! Ich hätte ein zweites Referendum vorgezo-
gen, aber dafür gab es keine Mehrheit im Par-
lament. Neuwahlen sind die traditionelle Ant-
wort der britischen, also parlamentarischen
Demokratie auf ein nicht mehr entscheidungs-
fffähiges Parlament. Das ist jetzt die letzteähiges Parlament. Das ist jetzt die letzte
Chance für uns britische Europäer. Wenn es
durch „tactical voting“, also taktisches Ab-
stimmungsverhalten, zu einer Mehrheit für die
Oppositionsparteien im nächsten Parlament
kommt – also Labour, Liberal Democrats,
Scottish National Party, Greens und Plaid
Cymru –, dann bekommen wir wahrscheinlich
das zweite Referendum. Wenn Johnson eine
klare Mehrheit gewinnt, dann ist die Sache ge-
laufen. Außer natürlich, es gäbe viele Jahre
qualvolle Verhandlungen, denn die zukünftige
Beziehung zur EU ist überhaupt nicht gere-
gelt. Es gibt also immer noch eine Chance in
dieser Krise. Die Krise ist inzwischen so tief
greifend, dass die Briten am Ende doch noch
sagen könnten: „Der Brexit ist ein großer Un-
sinn. Lassen wir es lieber.“

Im Ernst?
Ja, ich glaube, dass dies noch möglich ist. Was
konnte man aus dem Hin und Her der letzten
Monate lernen? Zum Beispiel, dass die briti-
sche Demokratie im Gegensatz zum Populis-
mus in Ungarn nach wie vor funktioniert.

WWWenn Viktor Orbán das Parlament mal einenn Viktor Orbán das Parlament mal ein
bisschen in den Urlaub schicken würde, so
wie Boris Johnson das beabsichtigt hatte,
hätten sich auch viele darüber aufgeregt.
Ja, aber Sie liegen falsch, was Ihre Skepsis
Großbritannien gegenüber betrifft. Denn das
britische Parlament hat sich ganz effektiv ge-
gen Johnson gewehrt. Es hat sofort ein Gesetz
verabschiedet, das besagte: „Das kannst du
nicht machen, Boris!“ Zugegeben, das britische
System war immer schon, seit Hunderten von
Jahren, etwas chaotisch. Auch weil es keine ge-
schriebene Verfassung hat. Aber: Es hat ja funk-
tioniert. Unser großes Unglück wäre, wenn Bo-
ris Johnson die nächsten fünf Jahre Premiermi-
nister bliebe. Und ich befürchte, die Briten wür-
den erst dann, viel zu spät, begreifen, was der
Brexit wirklich bedeutet. Eine Katastrophe.

Nun hat es auch in der bundesdeutschen
Geschichte Beispiele gegeben, dass gerade
Politiker, denen man es am wenigsten zuge-
traut hätte, große Veränderungen gemanagt
haben: Helmut Kohl, ein Konservativer, hat
die Wiedervereinigung gemanagt, Gerhard
Schröder, ein Sozialdemokrat, hat die Agen-
da 2010 mit radikalen Sparmaßnahmen für
das Sozialsystem durchgesetzt. Dass dem
von allen gescholtenen Boris Johnson am
Ende doch noch etwas gelingt, was in späte-
ren Jahren als großer Wurf gelten könnte,
das halten Sie für ausgeschlossen?
AAAber Sie wollen uns jetzt doch nicht ernsthaftber Sie wollen uns jetzt doch nicht ernsthaft
weismachen, dass Boris Johnson für die Briten
so was wie der Kanzler der Einheit werden
könnte, oder? Er wird wahrscheinlich als der
Premierminister der Teilung des Vereinigten
Königreichs in die Geschichte eingehen.

DRAGAN DENDA

„Ich hätte


nie gedacht,


dass völkisches


Denken zurückkommt“


Der Historiker


Timothy Garton Ash


im Gespräch über


den liberalen


Triumph des


Mauerfalls, die


Mentalität der


Ostdeutschen und


Boris Johnson


als Schurke


der Geschichte


W


ann haben Sie eigentlich das
letzte Mal über die Theorie-
ikone Judith Butler nachge-
dacht? Wenn sie nicht gerade über die
Terrororganisation Hamas als „legitime
soziale Bewegung“ räsoniert, wendet
sich ihr das öffentliche Bewusstsein
meistens als Urahnin queerer Gender-
theorie zu; die Schnittmengen zwischen
jenen, die sie gelesen und verstanden
haben und jenen, die sich über sie auf-
regen, dürfte kleiner sein, als man
denkt.

VON HANNAH LÜHMANN

Von Judith Butler ist gerade ein
Bändchen erschienen, das sich, ausge-
hend von der Beschäftigung mit dem
frühen Marx und der Frage nach einer
zeitgenössischen Form der Kritischen
Theorie, auf zentrale Begriffe unserer
Gegenwart wirft: „Furchtlose Rede“,
„Aufstand“ und „Widerstand“ sind eini-
ge davon. Was Butler unter „Furchtlo-
ser Rede“ versteht, ist deswegen inte-
ressant, weil ihre eigene Rolle als public
intellectual in dieser Hinsicht so ambiva-
lent ist: In ihrer Haltung gegenüber Is-
rael inszeniert sie sich als diejenige, die


  • vermeintliche – Wahrheiten furchtlos
    ausspricht; in Bezug auf die aktuelle De-
    batte um Meinungsfreiheit neigt Butler
    in ihrer intellektuellen Praxis eher dem
    Empowerment jener zu, die sich über
    Safe Spaces und Trigger Warnings vor der
    traumatisierenden Macht der Sprache
    schützen wollen. Butler versteht den
    Kampf um Mikrosprachregelungen als
    Ausdruck einer politischen Ohnmacht
    und einziges derzeitiges Ventil einer
    kämpferischen Wut.
    Butlers Denken sieht die Aufgabe der
    Kritischen Theorie darin, „die zeitge-
    nössische Form von Ungerechtigkeit zu
    erfassen und zu benennen, seine Unan-
    nehmbarkeit zu ermessen und eine Rei-
    he von Potenzialen zu eröffnen, die mit
    der allgemein anerkannten gegenwärti-
    gen Version der Realität brechen, um ei-
    ner Verwirklichung zukunftsweisender
    Gerechtigkeitsideale näherzukommen.“
    Es ist also unbedingte Aufgabe des In-
    tellektuellen, sein Wissen über die
    Wirklichkeit aus einer politischen oder
    sozialen Praxis des Engagements zu ge-
    nerieren. Das Subjekt habe auf die es
    hervorbringenden geschichtlichen Um-
    stände als prekäre, aber dennoch als
    solche zu verstehende Tatsachen zu re-
    flektieren.
    Butler weist darauf hin, dass zu den
    historischen Bedingungen heute der
    Klimawandel gedacht werden müsse,
    der Subjekte auf eine andere und neue
    Art hervorbringe. Diesen Gedanken ver-
    knüpft sie mit der Exegese einer frühen
    Marx-Schrift, in der der Philosoph die
    Natur als den „unorganischen Körper
    des Menschen“ verstanden wissen will.
    Das bringt Butler zu Spekulationen
    über den Begriff der Entfremdung und
    inwiefern er auf heutige Verhältnisse
    anwendbar ist; sie schlägt angesichts
    von „Umweltvergiftung, Klimawandel
    und Artensterben“ eine „Veränderung
    auf der Ebene der Theoretikerin“ vor,
    die selber als „organischer historischer
    Körper“ verstanden werden müsse
    Entlang weiterer Marx-Lektüren ge-
    langt Butler zur zentralen Analyse die-
    ses Büchleins: Sie schlägt ein erweiter-
    tes Verständnis der furchtlosen Rede,
    die bei Foucault die Tugend des wahr-
    haftigen Sprechens von Intellektuellen
    meint, vor. Butler will sie verstanden
    wissen als Praxis, die auch von politi-
    schen Bewegungen betrieben werden
    kann. Daraus geht eine interessante
    Ambivalenz hervor: Wenn die Bedin-
    gung des furchtlosen Sprechens die Ge-
    fährdung des eigenen Körpers ist, lässt
    sich aus der Vereinfachung dieser Idee
    wunderbar ein ideologischer Freifahrt-
    schein für Bewegungen wie „Extinction
    Rebellion“ basteln, die genau das für
    sich in Anspruch nehmen: wahr zu spre-
    chen angesichts einer wachsenden Be-
    drohung, zu sagen, was ist unter Einsatz
    ihres Körpers. Butler lotet die Proble-
    matik dieser Herangehensweise in Be-
    zug auf verschiedene zeitgenössische
    Protestbewegungen aus. Es wäre schön
    gewesen zu wissen, wozu die engagierte
    Intellektuelle denn nun rät.


Judith Butler: Rücksichtslose Kritik:
Körper, Rede, Aufstand. KUP, 160 S., 18
€.

Wie man ein


historischer


Körper wird


Judith Butler liest den


jungen Marx und predigt


die „furchtlose Rede“


29


09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,9.NOVEMBER2019 DIE LITERARISCHE WELT 29


V


ielen hängt die deutsche Nabel-
schau zum 30. Jahrestag des
Mauerfalls zum Hals heraus.
Kaum ein Tag ohne Veranstal-
tungen, Workshops, Festreden.
Die Welle der einschlägigen Publikationen
rollt. Bald ist der letzte Winkel und jede Fal-
te im Bewusstsein der Deutschen ausge-
leuchtet. Alles passiert noch einmal Revue:
die Erinnerung an den „historischen Augen-
blick“, den „Wahnsinn“, den Schock, dann
den Absturz von „Visionen“.
Dahinter steckt wahrscheinlich nicht so
sehr die sentimentale Erinnerung derer, die
dabei gewesen sind, auch nicht das Ritual
der Jahrestage, sondern die Sorge, was im
Lande eigentlich los ist, wie es kommt, dass
ein Menschenleben später das Land angeb-
lich eher auseinanderdriftet als zusammen-
wächst. Eine Art Erklärungsnotstand hält
die auf Dauer gestellte Selbstbetrachtung
und Selbstreflexion in Gang. Alle sind mit
von der Partie: die Soziologen, Psychologen,
Historiker, Journalisten, die Experten für
historische Augenblicke und für die longue
durée, die Theologen, Zeitzeugen und Zaun-
gäste, Filmemacher und Therapeuten. Alle
semantischen Nuancen werden durchge-
spielt: zum Beispiel ob es „den“ Ostdeut-
schen überhaupt gibt oder es sich dabei
nicht eher um eine Konstruktion post fes-
tum handelt. Besonders häufig trifft man
auf die Begriffe der Psychotherapie, wenn
Nichtachtung, mangelnde Anerkennung,
Kränkung, Demütigung diagnostiziert wird.
Eine große Volksaussprache scheint im
Gange zu sein. Nie wurde so viel über- und
miteinander (jedenfalls in der medialen
Sphäre) geredet und geschrieben wie in die-
sen Tagen. Im Hintergrund schwingt immer
die Frage mit: Ja, was wäre gewesen wenn ...
Wie in jedem Zwiegespräch liegt darin et-
was Befreiendes: Es wird endlich ausgespro-
chen, was einem auf der Seele lag, es stellt
sich heraus, dass Menschen ihre je eigenen
Erfahrungen hatten, die sich auflösen oder
neu bilden – Selbstverständlichkeiten ei-
gentlich. Anerkennung des anderen hat zu-
erst einmal etwas mit Kennenlernen und Er-
kennen des anderen zu tun. Wer sein Lebtag
lang in Konstanz am Bodensee gelebt hat,
hat von Halle an der Saale nicht notwendi-
gerweise eine Ahnung, und umgekehrt. Aber
Erfahrungs- und Erwartungshorizonte lö-
sen sich auf – bei den einen früher, bei den
anderen später –, und jede neue Generation
wächst in einen anderen, den ihren, hinein.
Das große innerdeutsche Palaver hat also et-
was Entspannendes, Entdramatisierendes,
Normalisierendes. Bestandsaufnahmen
nach einer gewissen Zeit sind die natürlichs-
te Sache der Welt. Es kommt zum Vorschein
und zur Sprache, was der Fall ist: die Span-
nungen und die Widersprüchlichkeiten, die
modernen Gesellschaften wie der deut-
schen eben eigen sind. Nichts Besonderes
also. Die ganze Literatur zum Thema „30
Jahre danach“ ist wie ein großes und lautes
Selbstgespräch, in allen Tonlagen: gelassen,
dramatisch, kühl, alarmistisch.
ZZZwei der Stimmen, die wohl auch von derwei der Stimmen, die wohl auch von der
Frage umgetrieben sind, wie man sich die in-
nereuropäische, die innerdeutsche Differenz
„30 Jahre danach“, den „Rechtsruck“, die
Wiederkehr des Nationalen erklären kann,
versuchen auf ihre Weise eine Antwort.
Johann Michael Möller, nun auch schon
mehr als 30 Jahre lang als Journalist unter-
wegs, von außen wie von innen blickend, im-

mer wieder grenzüberschreitend Orte und
Landschaften aufsuchend, ein „teilnehmen-
der Beobachter“, hat in knappen Vignetten
seine Beobachtungen und Reflexionen,
Splittern gleich, zusammengetragen und zu
einer Art Mosaik gefügt. Er hat die Zeit ge-
nutzt, um sich umzusehen in einer Welt, die
ihm als Journalisten nicht von Hause aus
vertraut war. Eine nachholende „mentale
Osterweiterung“. Manchmal sind es dichte
Beschreibungen, manchmal historische Re-
ffflexionen, in einem weiten Bogen, wenn erlexionen, in einem weiten Bogen, wenn er
zzzwischen dem Baltikum und dem Balkan un-wischen dem Baltikum und dem Balkan un-
terwegs ist und sich über die bis heute an-
haltende Selbstbeschränkung auf einen bloß
westlichen Erfahrungsraum wundert. Es ist
wie ein Spaziergang durch neue Erfahrungs-
welten und die Welt der Diskurse, die von
der geschichtlichen Entwicklung längst
üüüberholt worden sind. Die kurzen Stückeberholt worden sind. Die kurzen Stücke

changieren zwischen Essay, Glosse, Leitarti-
kel, Reisereportage, Anekdote, Städtebil-
dern. Sie alle werden zusammengehalten
durch das Fragen nach der Asymmetrie der
west-östlichen Wahrnehmung und deren
Gründen. Er tastet sich durch Landschaften,
Orte, Schauplätze, lieux de memoire. Er
durchschaut die konstruktivistischen Kurz-
schlüsse von der Nation als einer bloß „ima-
gined community“. Bei dieser Reise über die
noch vielfach intakte, aber von der Wirk-
lichkeit überholte „mental map“ der
(West-)Deutschen gerät vieles ins Wanken.
Es ist gut, dass man sich noch einmal die
Stichwörter in Erinnerung rufen kann, in
denen sich die denkenden Leute vor und
nach 1989 zu verständigen suchten – etwa
„Ende der Geschichte“, „Mitteleuropa“,
„nachholende Modernisierung“ oder
„Nachahmungsimperativ“. Er nimmt die
Osteuropäer in Schutz gegen den Vorwurf
der Rückständigkeit und Regression, sieht
nicht einen Kampf für oder gegen Europa
im Gange, sondern den Kampf konkurrie-
render Vorstellungen, wie Europa in Zu-
kunft aussehen soll.
Und doch bleibt: Es gibt diesseits der
schnell wechselnden intellektuellen Kon-
junkturen, Landschaften von Dauer, harte
Tatbestände, Erfahrungs- und Erwartungs-
horizonte, es bleiben zivilisatorische Ab-
stände, die anzusprechen einem nicht
leichtfällt, für die aber eine diskriminie-
rungsfreie Sprache zu finden, immer noch
eine analytische Herausforderung ist. Solan-
ge sie bestehen, muss man mit ihnen leben
können. Möllers Texte kommen einem vor
wie das Ausleuchten eines Erfahrungshori-
zonts, der schon Geschichte ist, in dem die
Gewissheiten derer, die sich das postnatio-
nale Europa zum Beruf gemacht haben, zer-
bröseln und man sich neue Gedanken ma-
chen muss. Möllers Texte sind eine Einla-
dung zu Erkundungsfahrten, es ihm gleich-
zutun, Erweiterung der eigenen Welt um ei-
ne ostwärts gelegene Erfahrung, 30 Jahre
danach.
Sich noch einmal alles vor Augen zu füh-
ren in einer Zeit, die so rasend schnell ist,
dass alle zurückliegenden Daten und Ereig-
nisse in einem grauen Einheitsbrei zu ver-
schwinden drohen, ist der Gewinn, den man
aaaus dem Buch von Ilko-Sascha Kowalczukus dem Buch von Ilko-Sascha Kowalczuk
ziehen kann. Vielleicht hätte es nicht „Die
Übernahme“, sondern „die Übergabe“ hei-
ßen sollen. Denn es gab zwei beteiligte Sei-
ten, ungleich in ihrer Kraft, Macht, Attrakti-
on: Deutschland West und Deutschland Ost.
Da ist jemand, der mit dem wachen Augen
eines „Historikers der Gegenwart“ immer
schon alles beobachtet, notiert, fixiert hat,
und es nun noch einmal auf die Reihe zu
bringen versucht. Leser, die nicht so nah da-
ran gewesen sind oder deren Aufmerksam-
keit ganz und gar von anderen Vorgängen –
etwa vom postsowjetischen Russland der
Neunzigerjahre – in Anspruch genommen
waren, können ihm dankbar sein. Ko-
walczuk hat der naheliegenden Frage „Was
wäre gewesen, wenn ...“ Gott sei Dank im
Großen und Ganzen widerstanden und die
wichtigen Daten und Ereignisse in Erinne-
rung gerufen für jene, denen sie schon fern
gerückt sind.
Das Buch ist überall stark, wo es um In-
ffformationen und die Rekonstruktion von –ormationen und die Rekonstruktion von –
vergessenen oder verdrängten – Abläufen
und Entscheidungen geht: Treuhand, Kali-
Drama, Eigentumsregelung, Rentenfragen
u. ä. Warum am Ende des Buches aus-
gerechnet Ostdeutschland zum La-
boratorium der Zukunft erklärt wird,
bleibt allerdings Geheimnis oder
WWWunschtraum des Autors. Die große,unschtraum des Autors. Die große,
weite Welt – „wenn weit hinten, in
der Türkei die Völker auf einander
schlagen“ – bleibt vage Andeutung in
einem Buch, in dem die osteuropäi-
schen Entwicklungen fast ganz aus-
geblendet bleiben.
Für den, der in der schnelllebigen
Zeit sich noch einmal zurückwenden
will, um sich zu vergewissern, wie es war –
oder wie es gewesen sein könnte –, ist das
gggut lesbare, manchmal allzu salopp formu-ut lesbare, manchmal allzu salopp formu-
lierende Buch sehr zu empfehlen. Man ruft
sich vieles in Erinnerung, was einem in der
allzu schnell gehenden Zeit ins Abseits gera-
ten ist. Es ist keine abgeschlossene Ge-
schichte, die es doch nicht geben kann, son-
dern eher eine Lockerungsübung für den
AAAbschied von der Welt von gestern. Manbschied von der Welt von gestern. Man
geht noch einmal durch die Kulissen, wäh-
rend auf der Bühne schon ein anderes Dra-
ma aufgeführt wird: die Gegenwart.

Johann Michael Möller: Der Osten.
Eine politische Himmelsrichtung.
Zu Klampen, 248 S., 22 €.
Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme.
Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepu-
blik wurde. C. H. Beck, 319 S., 16,95 €.

Lockerungsübungen im


Erklärungsnotstand


Was sagt uns das deutsche Selbstgespräch zum


Mauerfall-Jubiläum? Eine Sinnsuche Von Karl Schlögel


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