Die Welt - 09.11.2019

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09.11.19 Samstag, 9. November 2019DWBE-VP1


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DIE WELT SAMSTAG, 9. NOVEMBER 2019 SEITE 37

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Im Dorf Ban Mae Sapok in Nordthailand versucht die Tradition, sich gegen die Moderne zu behaupten


Das Volk in den BERGEN


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och hat der Morgen kei-
nen Ton. Noch schweigt
der Wald, das Dorf. Eine
Stille, der man ewig zuhö-
ren will. Diesen lautlosen
Stimmen, die sich plötzlich aus den Ver-
schlägen der Seele wagen. Eine davon
sagt: Trau dem Frieden nicht.

VON MAIK BRANDENBURG

Gut so. Denn jäh bricht Motorenlärm
ein. Knatternde Mopeds, Jubel der ju-
gendlichen Fahrer, drei, vier. Sie schie-
ßen den Pfad hinab, der den Rand des
Dschungels markiert. Sie rasen an den
Reisfeldern vorbei ins Dorf.
Gee Chee, der auf einem verdorrten
Flecken zwischen Bach und Pfad sitzt,
zuckt zusammen. Der Dschungel
schwitzt Nebel, im Sumpf schmatzt ein
gehörntes Rind, Gees größter Besitz.
Ich habe Reis geerntet und Tiere be-
wacht, das war mein Leben, so redet
Gee Chee. Bald wird er seinen Büffel
zum Markt der nahen Stadt treiben,
vielleicht zum letzten Mal. „Ich spüre
meine Knochen“, sagt der 80-Jährige,
„ich werde schwach.“ Früher, da musste
er das Vieh nicht mal anbinden. Da
konnte er ihm hinterher rennen. Der Al-
te geht zum Bach, gräbt eine Grube in
den Uferkies, die sich bald mit Wasser
füllt. Nun trinkt er, in kurzen, heftigen
Zügen. Nicht lange, dann muss er Toch-
ter und Sohn aus Bangkok zurückholen.
Wer sonst sollte ihn pflegen?
So wird es sein, so war es immer. Die
Jungen nähren die Alten, wenn es an der

Zeit ist. Das ist in Thailand so, und es ist
so in Ban Mae Sapok, dem Dorf der Ka-
ren, dem größten Bergvolk im Norden
des Landes. Westlich der Universitäts-
stadt Chiang Mai, gerade eine Stunde
mit den Songthaews genannten Sam-
meltaxis auf gut ausgebauter Landstra-
ße entfernt, leben in Ban Mae Sapok an
die 300 Menschen. Das Bergvolk der Ka-
ren umfasst in Thailand rund eine halbe
Million; auch in Birma (Myanmar) sind
sie eine Minderheit, werden dort seit
Jahren verfolgt und flüchten nicht sel-
ten nach Thailand.
Damit teilen sich die Karen das
Schicksal mit anderen Bergvölkern, den
Akha, Lahu oder Hmong, die in Birma
oder Laos ebenfalls Opfer von Vertrei-
bungen sind. Das Dorf Mae Sepok gibt
es seit über einem Jahrhundert. Die
Holzhütten stehen auf Stelzen und klei-
nen Plateaus, die aus dem Berg geschla-
gen sind. Niemand wohnt im Tal, denn
niemand, sagen die Karen, darf sich
über die anderen erheben. Also hausen
sie alle eine Etage höher. In der Umge-
bung gibt es – Thailand-typisch – einige
hübsche Wasserfälle im Dickicht, Aus-
flugsziele vor allem der Touristen.
Eigentlich, sagt der alte Gee Chee,
habe sich fast nichts geändert, seit er
geboren wurde. Nun ja, sie brennen den
Dschungel nicht mehr ab auf der Suche
nach fruchtbarem Feld. Auch die Tiger
sind wohl weniger geworden, sie kom-
men längst nicht mehr ins Dorf. Und die
Jungen, ruft er gegen den erneut heran-
knatternden Lärm, die Jungen reiten
keine Büffel mehr.

Nicht weit davon hält sich Non Yao
die Ohren zu. Mit ihrer Mutter Ju Poo,
70 Jahre, und ihrer neunjährigen Toch-
ter Ya Da, sitzt die Frau neben den Stel-
zen aus Palmholz unter der Hütte. Es ist
die Wohnstube jedes Karen-Hauses, der
Treffpunkt ganzer Familien. Es gibt nur
eine Wand aus großen Baumfarnen. Zie-
gen lecken an Füßen, schwarze Schwei-
ne rüsseln im Staub. Sie tragen bunte
Schleifen am Hals. Die Stricke sind die
Reste von Gewändern aus den Fasern
des Waldes. Noch immer weben die
Frauen selbst, mit Webrahmen um die
Hüften gebunden: Blusen, Tücher, uner-
gründliche Muster von Generationen
erdacht. Die Köpfe decken zum Teil
Turbane aus Frotteehandtüchern.
Vielleicht ist das ein Sinnbild: Die
Körper stecken im Gestern, der Kopf,
der Geist ist längst im Heute. Ein neues
Wort salzt die Sprache der Karen, sie
sprechen es in Thai: tun lun, modern.
„Das ist modern“, ruft die 33-jährige
Non Yao, als sie sich eine Marlboro aus
dem selbst gefertigten Bast-Etui
schnippt. Tief zieht sie den Rauch der
Industriekippe ein. Nicht mehr dieses
brutale Zeug, das ihre Mutter aus dem
Dschungel klaubt und in der Pfeife
raucht. Die alte Ju Poo daneben hustet
und rotzt dunklen Schleim ins Tal.
Doch immerhin – noch sitzen sie zu-
sammen. Es ist das tägliche, das Tag fül-
lende Palaver unterm Haus, während sie
die Palmmatten ausschütteln, während
sie weben und nähen. Kleine Täschchen
aus Bast sind darunter, kleine Schals,
Halstücher oder Röcke – Souvenirs für

die wenigen ausländischen Gäste, die
ins Dorf finden. Die meisten gehen lie-
ber ins nahe Elefantencamp. Es ist wie
ein Sog, der den touristischen Trubel
vom Karen-Dorf abzieht und es so noch
immer ursprünglich wirken lässt.
Seit einiger Zeit arbeitet die alte Ju
Poo an einem weißen Kleid für die En-
kelin, der Tracht aller Unverheirateten.
Die Neunjährige aber hat keinen Blick
für die Mühen der Älteren. In Jeans und

Die Neunjährige aber hat keinen Blick
für die Mühen der Älteren. In Jeans und

Die Neunjährige aber hat keinen Blick

T-Shirt fläzt Ya Da sich in der Hänge-
matte. „Nur am Sonntag zieht sie das
Kleid an“, sagt die Mutter, „wenn sie zur
Kirche geht. An allen anderen Tagen
schämt sie sich dafür.“
Der Hort Jesu steht am Rande des
Dorfes, ein zementfarbener Neubau,
von amerikanischen Missionaren er-
baut. Über den Wegzeichen haben sie
Sprüche und Merksätze aus der Gideon-
Bibel angeschlagen. „Sie kamen hierher,
mit ihren Gitarren, haben Lieder gesun-
gen und jetzt die Kirche gebaut“, sagt
Dorfvorsteher Teep La. Der Gesang war
nicht ihre schärfste Waffe, um aus den
Karen Kreuzbrave zu machen: Jeder Be-
kehrte erhält monatlich 300 Baht. Ya
Das Mutter Non Yao entzündet ein Räu-
cherstäbchen vor einer Buddhafigur.
Hatte sie keine Bedenken, ihre Tochter
taufen zu lassen? „Buddha ist tot, Jesus
lebt“, sagt sie lächelnd. Soll wohl hei-
ßen, die beiden können sich schon rein
körperlich kaum in die Quere kommen.
Auch deshalb sieht Vorsteher Teep La
einen entstehenden Tempel nicht als
frommes Gegengeschütz zur Kirche.
„Wir Karen sind alles Brüder, egal, zu

wem wir beten.“ Am anderen Dorfende
liegen Bretter, sind Gruben ausgeho-
ben, Arbeiter sieben den rotbraunen
Sand aus dem Dschungel. Falls Spenden
und Einsatzwille nicht versiegen, soll
das Haus schon im nächsten Jahr ste-
hen. Es soll „das Herz des Dorfes“ wer-
den, soll die Gemeinschaft zusammen-
halten – nicht unter einem Herrn, Heili-
gen oder sonst wem. „Wir Karen haben
uns immer auf uns selbst verlassen“, er-
klärt Teep La. Der 50-Jährige war zum
Vorsteher gewählt worden, weil er, wie
er sagt, „der Hilfsbereiteste“ ist. Teep
La: „Die Gemeinschaft ist das Wichtigs-
te. Die Thai haben das Geld und die
Macht. Wir haben uns. Anders können
wir nicht mit ihnen konkurrieren.“
Zum Zeichen seiner Würde ließ sich
Teep La eine Uniform schneidern. Dazu
kaufte er in der Stadt eine Reihe fun-
kelnder Orden. Die größte Zierde seines
Amtes aber ist die gewaltige Warze auf
der Wange. Haare sprießen daraus, es
sind die sehr eigenen Federn dieses
asiatischen Häuptlings. Magische Kräf-
te stecken in ihnen, raunt Ju Poo, die
Großmutter, und haucht ihren Atem in
einen beseelten Stein in ihrer Hand.
Denn trotz Jesus und Buddha – noch
immer sind die meisten Karen animisti-
schen Glaubens. So wird denn bald die
kleine Ya Da vor dem Gekreuzigten
knien, während ihre Mutter frische Blü-
ten um den Bauch des Erleuchteten
windet.
Zwischen den beiden jedoch werden
die Steine und Bäume der alten Ju Poo
sagen, dass alles seine Richtigkeit hat.

Die Karen sind eine Minderheit, die in Thailands abgelegenem Norden lebt. Zumindest die Älteren tragen noch mit Stolz die überlieferten Trachten

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