Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Dass Emma Rickert am Schreibwettbewerb teilgenom-
menhat, lag aneiner Frage ihrer Lehrerin: „Wer outet sich
hier als Ossi und wer als Wessi?“ Das hat die 16-Jährige
irritiert: „Ich dachte, ich säße im falschen Film. Es heißt
immer, es soll keine Unterschiede mehr geben, und dann
werden durch solche Fragen doch welche gemacht.“ Klar,
in der Vergangenheit hat es Unterschiede zwischen ost-
und westdeutschen Biografien gegeben hat, das weiß
Emma von ihren Eltern. Britta und Jens Rickert kommen
aus Mecklenburg. Die damals 24-jährige Britta Rickert
hatte bei einem Radiosender in Ost-Berlin gearbeitet. Mit
dem Einigungstag wurde dieFrequenzvon der Deutschen
Welle übernommen. Britta Rickert wurde arbeitslos.
„Danach ging es in einer anderen Branche von ganz
unten wieder los: Kaffeekochen oder Post machen“, sagt
sie. Emma hat diese Geschichten unzählige Male gehört,
aber sie kennt auch die Eindrücke ihrer Eltern aus der
euphorischen Zeit nach dem Mauerfall: Die erste Tour
durch Kreuzberg oder der erste Döner vom Begrüßungs-
geld. Bloß die Nacht auf den 10. November 1989 können
die Eltern ihrer Tochter nicht beschreiben. Der Vater war
aufDienstreise inOdessa, und die Mutterwar früh zu Bett
gegangen und erfuhr erst am nächsten Morgen bei der
Arbeit in einem Flurgespräch vom Fall der Mauer.
Also schaute Emma sich stattdessen Szenen aus dem
Fernsehfilm „Bornholmer Straße“ an, um in ihrem Text
die Nacht des 9. November beschreiben zu können. „Die-
ses Chaos, dass niemand Bescheid wusste, das wurde ex-
trem gut dargestellt.“
Emmabesuchtdie11. KlasseeinesGymnasiums in Ora-
nienburg. Ob sie sich mehr für die deutsch-deutsche Ge-
schichte interessiert als ihre Mitschüler? Ja, vermutlich.
Zwar würdeninder Klasse manchmal kurzeFamilienanek-
doten erzählt, etwa „wenn die Mutter aus dem Osten im-
mer noch ,Nudossi‘ kauft und der Vater aus dem Westen
dasamFrühstückstischals Ost-Nutellabezeichnet“.Doch
ansonsten spiele die Wiedervereinigung kaum eine Rolle
in ihren Gesprächen. Emma macht ohnehin vieles anders


als ihre Altersgenossen. „Ich finde das wirklich schlimm,
dass der Lebensstil bei Leuten in meinem Alter oft nur
darauf aufgebaut ist, Bilder in sozialen Netzwerken zu
posten“, sagt sie. „Es heißt immer, man will etwas teilen,
aber eigentlich will man den anderen zeigen, das habe ich


  • das hast du nicht. Das ist eine richtig furchtbare Lebens-
    einstellung.“
    Auch bei den Aktionen der „Fridays for Future“-Aktio-
    nen war sie bislang nicht dabei: „Die Bildung, die ich in
    der Schule bekomme, ist ja eigentlich freiwillig.“ Somit
    seien die Streiks für sie keine richtigen Streiks.
    Außerhalb der Schulzeit hätte Emma an den Protesten
    teilgenommen. Denn sie ist auch an Umweltschutz inte-
    ressiert und möchte nach der Schule erstmal im Ausland
    soziale oder ökologische Arbeit leisten. „Ich will gerne
    etwas hinterlassen“, sagt die 16-Jährige. „Damit mein Da-
    sein auf der Erde für die nächsten Generationen einen
    Sinn ergeben hat.“


Die Zukunftssänger


Malte Kutschickhatte für seine
Mutter Marén Kutschick einen
Fragenkatalog vorbereitet.

Papa, wo warst du, als die Mauer fiel? Oma, wie hast du


die Revolution erlebt? Fragen wie diese haben Schülerinnen


und Schüler gestellt – und für den Wettbewerb des Tagesspiegel


aufgeschrieben, was sie in ihrer Familie erfahren haben.


Ihre Texte handeln von Erinnerungen und vom Entdecken.


Dies sind die besten Beiträge – und ihre Verfasser.


Die Siegerinnen und Sieger haben


Joana Nietfeld und Andreas Conrad porträtiert


Emma Rickertgriff für ihrenText auch
auf einen Fernsehfilm zurück. Und
ihre Eltern boten ihr viele Erinnerun-
gen an die Zeit nach dem Mauerfall.

Lillya van Dykhatte vor dem Inter-
view mit ihrem Vater Tim Werner den
Wende-Kinderfilm „Fritzi“ gesehen.

Nun gut, das Nilpferd ist also im Leuchtturm ste-
cken geblieben, das sollten sie malen, das hat er ge-
tan.AberwieistesdieTreppehochgekommen?Da-
mithatsichderzehnjährigeMaltenichtbeschäftigt,
aber jetzt, nur so zum Spaß, danach gefragt, hat er
sofort eineAntwort: „Na, aufden Beinen.“
Muss ein fantasievoller Unterricht sein, der Malte
Kutschick in der Friedrichshainer Temple-Gran-
din-Schule geboten wird, einem Sonderpädagogi-
schen Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Autis-
mus. Auch in seiner fünften Klasse, geleitet von
den Lehrerinnen Ulrike Oels und Beate Schwabe-
Witt, werden drei seiner Mitschüler besonders ge-
fördert.
Erst am Vortag wurde in der Klasse bekannt gege-
ben, dass Malte im Tagesspiegel-Schülerwettbe-
werb zum Mauerfall den dritten Platz errungen
hat. Klar, da gab es Applaus. Alle seien gleich dafür
gewesen, sich am Wettbewerb zu beteiligen, er-
zählt Malte. Also die Eltern zu interviewen, wie
das vor 30 Jahren war. In seinem Fall die Mutter,
Marén Kutschick, Gewandmeisterin an der Volks-
bühne,die damalsan der StaatsoperSchneiderlehr-
linge ausbildete. Den Abend des 9. November
hatte sie nach Schabowskis Pressekonferenz nicht
weiter verfolgt, anders als ihr damaliger Freund,
der losgezogen war und sie morgens überraschte,
er sei im Westen gewesen. Sie selbst fuhr erst zwei
Tage später hin, eher skeptisch, verständnislos ge-
genüber den Schlangen vor den Supermärkten – als
habe man im Osten hungern müssen, als sei Kon-
sum das Wichtigste. „Das war nicht meins.“
Was er vorher über die Mauer gewusst habe? Nicht
sehr viel, gibt Malte zu. Aber beim Interview war
ergut vorbereitet, hatte mit der Klasse die Gedenk-
stätte in der Bernauer Straße besucht, Tipps fürs
Schreiben bekommen – der Wettbewerb wurde so
zum fachübergreifenden Projekt von „Gewi“, Ge-
sellschaftswissenschaften, und Deutsch.
Auch mit dem Holocaust hat sich die Klasse schon
beschäftigt. Die Kinder besichtigteninderCharlot-
tenburger Villa Oppenheim die Ausstellung „Susi,
die Enkelin von Haus Nummer 4“, putzten Stolper-
steine, suchten nach Spuren jüdischen Lebens, be-
malten für das „Butterfly Projekt“ Keramikschmet-
terlinge zurErinnerung an ermordete jüdische Kin-
der und Jugendliche, Malte für ein Mädchen na-
mensDoris Birnbaum.Sie wohnte von seiner Woh-
nung aus fast gleich um die Ecke, er kann es genau
beschreiben.
Aber so spannend die historische Arbeit auch war:
Seine Lieblingsfächer bleiben doch „Nawi“, also
Chemie und die anderen Naturwissenschaften,
und besonders Sport. Seit sechs Jahren spielt er im
Verein Fußball, zweimal die Woche. Seine Lieb-
lingsmannschaft? „Bayern München.“ Seine Mut-
ter runzelt die Stirn, diese Liebe teilt sie nicht.
Aber gegen Maltes andere Interessen hat sie offen-
kundig keine Einwände. Westerncomics beispiels-
weise, Klassiker wie „Ringo“ und „Lucky Luke“,
den er auch als Trickfilm und mit Terence Hill
kennt. Und die „Star Wars“-Figuren von Lego, die
vordem Gesprächerst malvom Tisch geräumtwer-
den mussten, deuten an, dass Malte auch an der
Zukunft heftiges Interesse hat.

D


ieeingereichten Texte,zum Teilhandgeschrieben. Die historischenGeschichten, allepersönlichweiter-
erzählt.Die Perspektiven, verbindend überdie Generationenhinweg. Geschichtekann besondersbe-
rühren,wennsie alsFamiliengeschichte erzählt undnacherlebtwird. FürdenSchülerwettbewerb des
Tagesspiegel habenSchülerinnen undSchüler ihreElternundGroßelternnach ihrenErlebnissen und
Gefühlen zumMauerfall befragt. DieTextezeigen aufbewegendeArt, wieder Umbruchdie MenschenundihreFa-
milienin undum Berlin bis heuteprägt. Die Auswahljury bestand aus RalfWieland, Präsident desAbgeordneten-
hausesvon Berlin, DramaturginEvaStöhr vomTheater ander ParkauesowieRobertIde, GeschäftsführenderRe-
dakteurdesTagesspiegel. FürdenWettbewerbin Kooperationmit demAbgeordnetenhaus,dem Theateran der
ParkaueunddemBezirksamtPankow gab es gut 50 eingesandte Geschichten.Einige Schulklassenhaben sich
gesammeltbeteiligt, indem sie gleich eineigenes Geschichtsprojektorganisiert haben.Inspiriertvon denTexten
undweiteren Workshopsentsteht einTheaterstückfür KinderundJugendliche, dasim März 2020Premiere am
Theater anderParkauefeiert. Der Schülerwettbewerbist eine vonzahlreichenöffentlichen Aktionenundmultime-
dialenProjekten,mit denender Tagesspiegel zum Erinnernvonunten anregenmöchte. DennvieleGeschichten
könnennoch entdecktwerden– geradezu Hause,bei Freundenund inden Familien.Viel SpaßbeimErzählen!

Sie steht und fällt mit uns


„Macht das Tor auf, wir kommen wieder!“ „Macht das Tor auf, wir kommen wieder!“


Erst zwei, dann drei, dann vier, dann wird die Menge unzählbar. Zusammen in der Masse


bekommt ein Wunsch endlich eine Stimme, einen Schrei. Ein Chor aus Ungeduldigen,


Neugierigen, mit Wuttränen. Mit wiegender Melancholie und betäubender Stärke


schieben sich die Zukunftssänger unaufhaltsam vorwärts, vorwärts durch die Mauer.


Über die Brücke, nur weiter, auf in den Westen, auf in eine unbestimmte Zukunft. Feiern,


weinen, lachen – Hauptsache zusammen, nie mehr allein. Prenzlauer Berg und Charlot-


tenburg, Männer und Frauen, Bekannte und Fremde – alles liegt sich in den Armen.


Endlich wieder ist das Land vereint, denn wir gehören doch zusammen, oder?


Pulsierend hüpft und tanzt die ganze Stadt. Nur ein paar Wohnungen, ohne Fernseher,


ohne Radio schweigen die Nacht hindurch, als wollten sie nicht mitfeiern. Der nächste


Tag bricht an und die Funken sind geflogen. Vor dem ersten Sonnengruß schon steht die


Stadt in Flammen. Ein flammender Ansturm in den Westen. Der erste Döner, die erste


Willkommensmark – „Wir wollen einfach mal gucken, wie’s im Westen so aussieht!“


Einen Tag lang das pure Abenteuer, aber als es auch am Ku’damm Abend wird, ist es


Zeit, den Heimweg anzutreten, das Leben muss ja schließlich weitergehen. Arbeit,


Haus und Kinder, der Alltag klopft an und der Trubel legt sich behutsam. Verbunden aber


werden wir von nun an immer sein!


„Gib den Dingen Zeit, sie nehmen ihren Lauf!“ Die Zeit kam, und letztlich sah man auch


die Seiten, die man gar nicht hatte sehen wollen. Die Seiten, die es dem Misstrauen


leicht machen. Der langersehnte Bruder ward gefunden, doch in Wahrheit war es ein


Fremder, dem man begegnete. Man konnte eine Nacht lang mit ihm feiern, wollte ihn


aber nicht zum ständigen Begleiter, wollte einen für das „Jetzt“, nicht für das „Immer“.


Auf einmal schien es doch bedeutend schwerer, sich als eins zu zeigen. Aber


wie soll das auch gehen, wenn beide so ungleich sind. Einer musste angepasst werden.


Herkunft vor Kompetenz, und der Ost-West-Konflikt war geboren. Müßig nur scheinen


sich die beiden Bevölkerungen zum neuen Volk zu mischen. Ost strömt nach West, West


nach Ost nur zögerlich. Das Bleiben wird für viele Ossis hart, das Weggehen noch härter.


Die Betriebe bekommen „endlich kompetente Führung“, so hört man, und als Angestell-


ter heißt es, sich hochzuarbeiten. Beim Kaffeekochen angefangen, erscheint der Auf-


stieg schier unmöglich. Schafft es doch einer, so heißt es sogleich: „Ach, beiI hnen


bemerkt man ja gar nicht, dass Sie aus’m Ost’n sind.“


Heute, 30 Jahre später, sind die Narben von Bitterkeit und Misstrauen immer noch tief.


Inzwischen sind neue Generationen herangewachsen. Kinder, denen eine Mauer nie den


Blick und Weg versperrte. Aber auch wir sind sozialisiert worden, und wie es scheint,


nach früheren Werten. Es geht so weit, dass unsere Eltern meinen, uns Kinder unter-


scheiden zu können. Selbst Lehrer wollen uns 2000er als Ossis und Wessis betiteln.


Dabei sind wir doch Deutsche!


Die bunte Spielzeugfigur mit rotweißer Zipfelmütze
und überlanger Nase? „Pinocchio!“ Da waren sich alle
Kinderder4. Klasse anderEvangelischenSchule Pan-
kow schnell einig. Aber Tom Werner, Vater ihrer Mit-
schülerin Lillya van Dyk, schüttelte den Kopf. „Das ist
nicht Pinocchio, das ist Burattino.“ Also nicht das ita-
lienische Original, sondern das russische Pendant,
das auf die Nacherzählung des sowjetischen Schrift-
stellers Alexei Nikolajewitsch Tolstoi zurückgeht.
Die Lehrerin Regine Tretbar hatte für ein Projekt zu
DDR und Mauerfall Eltern gebeten, im Sachkunde-
unterricht zu erzählen. Auch Tom Werner machte
mit, hatte gleich noch ein paar Utensilien aus seiner
Jugend mitgebracht: Burattino eben, seinen Pionier-
ausweis von der SED-Jugendorganisation, ein Haus-
aufgabenheft und sogar Schulbücher aus seiner


  1. Klasse. Authentischer geht es nicht. Als dann die
    Einladung kam, am Schülerwettbewerb des Tages-
    spiegels zum Mauerfall teilzunehmen, war das eine
    prima Vorbereitung. Alle wollten sofort mitmachen,
    und die allermeisten hätten es auch getan, erzählt die
    Zehnjährige, mittlerweile in der 5. Klasse angekom-
    mene Lillya, deren Text mit dem zweiten Preis prä-
    miert wurde.
    Das Ost-West-Thema lag in ihrer Familie nahe: die
    Mutter aus Bremen, der Vater, ihr Interviewpartner,
    aus Ost-Berlin, heute als Eventmanager tätig. Vor 30
    Jahren war er Student an der Babelsberger Filmhoch-
    schule, setzte sich mit zwei Kommilitonen gleich am
    Abend des 9. November kurzentschlossen ins Auto,
    fuhr über Dreilinden und die Avus nach West-Berlin.
    Das wäre am nächsten Morgen auch der nächste Weg
    zum Fernsehzentrum Adlershof gewesen, zur Theo-
    rieprüfunginTV-Technik.Abernein,siemusstenwie-
    der außen rum über Teltow. Transit durch West-Ber-
    lin?So offen war dieGrenze doch nicht.
    Esgabfür Lillyanoch eine Vorbereitung aufdas Inter-
    view: den im Unterricht angesehenen Trickfilm
    „Fritzi“ – eine „Wendewundergeschichte“ über ein


Mädchen aus Leipzig im Herbst 1989, deren Freun-
din aus dem Ungarn-Urlaub nicht zurückkommt.
Aber Fritzi sollte doch auf ihren Hund aufpassen...
Für die Niederschrift des Interviews war keine Form
vorgeschrieben. Lillya entschied sich für die
Ich-Form, aus der Perspektive des Befragten.
Doch trotz des Erfolges im Wettbewerb, der Inte-
resse an Geschichte und Spaß am Schreiben voraus-
setzte: Ihr Lieblingsfach bleibt „Nawi“, die Naturwis-
senschaften. Eine Wissenssparte, bei der es um Na-
turgesetze, nicht um die solcher Gesetze spottende
Zauberei geht wie in den Harry-Potter-Büchern, die
Lillya alle mit Begeisterung gelesen hat.
Da noch kein Weg gefunden wurde, das in Hogwarts
gepflegte Quidditch-Spiel um den goldenen Schnatz
passgenau auf die Welt der Muggels zu übertragen,
spielt sie eben Hockey. Angst, sich dabei zu verlet-
zen, schließlich ist der Ball ziemlich hart, hat sie
keine. Siespieltnur gut gepolstert,dasGesicht vergit-
tert: Lillya steht im Tor.

Die Party am Kudamm


Am Abend des 9. November 1989 war ich in der Nähe vom Griebnitz-


see, in der „Bratpfanne“, dem Studentenklub der Babelsberger Film-


hochschule. Ich saß zusammen mit einem Freund vor dem Fernseher,


und wir verfolgten gespannt die Liveübertragung der legendären Pres-


sekonferenz mit Günter Schabowski. Das war so gegen 19.00 Uhr. Da-


nach überschlugen sich die Ereignisse und die TV-Sender kamen mit


ihrer Berichterstattung kaum hinterher. Es war spannender als jeder


Krimi! Irgendwann um 22.00 Uhr wurde von der Öffnung des ersten


Grenzübergangs in der Bornholmer Straße in Berlin berichtet. Kurze


Zeit später stürmte ein Kommilitone in unser Zimmer und sagte:


„Kommt, wir fahren zum Kudamm.“ Mein Freund und ich sahen uns


verwundert an, zogen uns aber trotzdem schnell die Jacken an und


stiegen gemeinsam ins Auto. Wir fuhren in Richtung Autobahn. Uns


war schon etwas komisch und unheimlich zumute. Denn in Richtung


Grenzübergang „Dreilinden“ sind wir vorher noch nie gefahren. Wir


waren nicht die Einzigen, die sich auf den Weg zur Grenze gemacht


hatten. Während sich an der Bornholmer Straße und anderen Grenz-


übergängen innerhalb von Berlin viele Menschen zu Fuß auf den Weg


in den Westen gemacht haben, waren hier ausschließlich Autos unter-


wegs. Ohne große Probleme konnten wir den Grenzübergang passie-


ren. Wir mussten nur unseren Personalausweis vorzeigen, bekamen


einen Stempel reingedrückt, und wenig später fuhren wir über die


damals noch hell erleuchtete Avus in Richtung Kurfürstendamm.


Viel konnte man auf den ersten Metern vom Westen nicht sehen, da


links und rechts von der Autobahn nur Wald war. Aber dann sahen wir


den angestrahlten Funkturm und das ICC. Dieses Postkartenmotiv war


für uns schon sehr unwirklich und absurd. Um uns herum hupten die


ganze Zeit viele Autos und wildfremde Menschen winkten uns zu.


Wir folgten der Ausschilderung weiter in Richtung Kurfürstendamm.


Dort waren sehr viele Menschen unterwegs, und wir kamen mit dem


Auto kaum noch durch. So parkten wir unweit vom Adenauer-Platz


in der Nähe der Kneipe „Klo“. Dort war schon volles Haus und wir


bekamen unser erstes Freibier. Auf dem Kudamm ging es gegen Mitter-


nacht zu wie bei einem großen Volksfest. Viele fremde Menschen


aus Ost- und West-Berlin kamen zusammen und fielen sich vor Freude


weinend in die Arme. Überall Jubel, Schulterklopfen und Sekt. Von


einer Telefonzelle rief ich bei meiner Mutter an, und auch sie konnte


kaum fassen, dass ihr Sohn jetzt am Ku’damm in West-Berlin stand.


Alle waren voller Glückseligkeit und feierten ausgelassen. In vielen


Kneipen wurden wir eingeladen, um mit den anderen Gästen anzu-


stoßen. Es war einfach unglaublich! Da wir am nächsten Morgen eine


wichtige Prüfung hatten, mussten wir dann doch irgendwann wieder


zurück nach Babelsberg. So kurz nach 4.00 Uhr fielen wir überglücklich


in unsere Betten und mussten wenig später schon wieder aufstehen,


um nach Adlershof zu fahren – diesmal jedoch außen rum über Teltow.


Unsere Prüfer fragten uns, warum wir so müde und völlig fertig aus-


sehen. Die Prüfung habe ich mit Bravour bestanden – vielleicht, weil


ich sowieso in einem Glücksrausch war.


Platz 3


MalteKutschick,10Jahre,


ausFriedrichshain


Platz 1


Emma Rickert, 16 Jahre, aus Lehnitz


Eine Kindheit im alten
Ost-Berlin ohne
gelegentliche Besuche
des Kulturparks im
Treptower Ortsteil
Plänterwald? Undenkbar.
Heute ist die Freizeit-
anlage in einen wilden
Dornröschenschlaf
gefallen, das Riesenrad
quietscht noch im Wind.
Und Kinder von heute
können sich vom
Vergnügen in Schwanen-
booten nur noch
erzählen lassen.

Fotos: Stephan Weger (Dokumente)

18 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? – 30 JAHRE MAUERFALL NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 19


Fotos: Sebastian Hesse, Joana Nietfeld, Stefan Weger, Sven Darmer

Platz 2


Lillya van Dyk,10 Jahre,ausPankow

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