Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Gewinn für alle


W


enn ihr in Berlin unterwegs seid,
fällt euch vielleicht auf, dass in
den unterschiedlichen Bezirken
verschiedene Ampelmännchen
sind.Habt ihreuch schon malge-
fragt, warum das so ist?
Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland
1939 begonnen und 1945 verloren hatte, wurde
das Land von den Siegermächten in vier Besat-
zungszonen eingeteilt.Dazugehörten:USA, Frank-
reich, Großbritannien und die Sowjetunion, deren
größtes Land Russland war. Amerikaner, Briten
und Franzosen übernahmen den Westteil, die Sow-
jets den Ostteil. Genauso wurde auch Berlin aufge-
teilt. 1949 wurde aus dem Westteil die Bundesre-
publik Deutschland (BRD), aus dem Ostteil die
Deutsche Demokratische Republik (DDR), wobei
das mit der Demokratie in der DDR so eine
Sache war. Im Westteil herrschte der Kapitalis-
mus. Im Ostteil herrschte der Kommunismus.
Die beiden Welten wurden immer unterschiedli-
cher, sogar die Ampelmännchen. Im Westen gab
es immer mehr zu kaufen, die Kriegsschäden an
Häusern und Straßen wurden nach und nach
ausgebessert. Den Menschen ging es besser. In
der DDR ging es den Menschen nicht ganz so gut.
Viele Gebäude, die im Krieg zerstört worden wa-
ren, wurden nicht wieder aufgebaut. Es gab weni-
ger zu kaufen, und man konnte nicht frei sagen,
was man dachte. Viele Menschen in der DDR wa-
ren unzufrieden und wollten das Land verlassen.
Schließlich baute die DDR 1961 die Mauer, damit
die Menschen nicht mehr in Richtung Westen flie-
hen konnten. Offiziell hieß die Mauer in der DDR
aber „antifaschistischer Schutzwall“, denn die
Menschen in der DDR sollten glauben, dass man
sie vor dem Westen schützen müsse.
Wer im Osten lebte, durfte nicht in den Westen
reisen. Einige Menschen versuchten, über die
Grenze zu fliehen, die aus zwei hohen, streng
bewachten Mauern bestand. Die meisten schaff-
ten es nicht. Manche wurden erschossen oder
eingesperrt. Außerdem wurden viele DDR-Bür-
ger von der Stasi überwacht. Die Stasi hieß
eigentlich Staatssicherheit und war der Geheim-
dienst der DDR.
1989 trafen sich immer mehr Menschen montags
in den Kirchen und beteten für Freiheit in ihrem
Land.Im Oktober 1989 begannen sie, aus den Kir-
chen auf die Straßen zu gehen und für eine DDR
mit freien Menschen und offenen Grenzen zu de-
monstrieren. Trotz der Angst vor der Stasi schlos-
sen sich immer mehr Menschen an. Jetzt konnten
sie nicht mehr überhört werden.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Viele wer-
den diesen Tag nie vergessen. Die Menschen aus
dem Osten durften nun wieder in den Westen rei-
sen. Innerhalb von kurzer Zeit wurden die Grenz-
anlagen eingerissen.


W


ie hätte man selbst wohl reagiert auf den Mauer-
fall? Euphorisch wie die meisten? Skeptisch, denn
das gab es ja auch? Eine knifflige Frage für einen,
der damals noch lange nicht geboren war. Aber in
dem zehnjährigen Malte Kutschick, Gewinner des
dritten Preises im Tagesspiegel-Schülerwettbewerb, steckt offenbar
aucheinkleinerDiplomat: „Ichhätteerstmalabgewartet,obsieoffen-
bleibt.“ Wohlwollende Heiterkeit imSaal.
Wie ohnehin die Feierstunde des Abgeordnetenhauses anlässlich
desMauerfall-JubiläumsamFreitagmittaggarnichtsoweihevollund
getragendaherkam,wiedasbeisolchenGelegenheitenjanichtunüb-
lichist. Wann wird dortschonmalgesungen,außer allenfalls„Einig-
keitundRechtundFreiheit“?GesterndagegenwurdedieFeiergleich
dreifach musikalisch veredelt, von Sebastian Krumbiegel von den
Prinzen,miteinemanlassbezogenenProgramm,etwaeinemLoblied
aufdieDemokratie,dieweiblichsei,oderdemBekenntnis„MeineNa-
tionsinddieLiebenden aufder ganzenWelt – grenzenlos.“
Grenzenlos – ein Wort, das oft fiel in diesen zwei Stunden, wört-
lich, sinngemäß oder auch in allen Variationen des dazu gehören-
den Wortfeldes wie Freiheit, Mut, Gemeinschaft, auch Dankbarkeit


  • gegenüber den Bürgern der DDR, die vor 30 Jahren auf die Straße
    gingen, ohne zu wissen, wo dies enden würde, ob sie ihr Mut wirk-
    lich in die Freiheit oder ins Gefängnis bringen würde. Dankbarkeit
    auch gegenüber Michail Gorbatschow, der die Panzer in den Kaser-


nen ließ, wie Ralf Wieland, Präsident des Abgeordnetenhauses, in
seiner Begrüßungsrede hervorhob – Anlass zu einem Extraapplaus,
wie ohnehinviel geklatscht wurdebei der Feier, Ausdruck des unge-
teilten Einverständnisses, wenngleich der täuschen mochte. Denn
die Brüche in der Gesellschaft – auch ihrem Teilbereich, der Politik


  • kamen schließlich ebenfalls in den Reden zur Sprache. Nicht im-
    mer so deutlich wie bei Sabine Bergmann-Pohl: Die frühere Präsi-
    dentin der letzten DDR-Volkskammer hatte kritische Anmerkungen
    zur AfD mitgebracht. Nein, danach kein Protest von den Rängen.
    Auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller kam zu
    Wort, weiterhin die Bürgermeister einiger Partnerstädte Berlins –
    und eben die Preisträger des Tagesspiegel-Wettbewerbs, Emma Ri-
    ckert, Lillya van Dyk und Malte Kutschick, letzteres moderiert vom
    Geschäftsführenden Redakteur Robert Ide, neben Wieland und Eva
    Stöhr vom Theater an der Parkaue einer der Jurymitglieder. Zwei
    Mitglieder des Theaters, Sarah El-Issa und Johannes Hendrik Lan-
    ger, trugen die drei prämierten Texte vor, klar, dass auch dabei Bei-
    fall fällig war, und nicht nur politisch höflich gemeinter, sondern
    ehrliche Anerkennung über die gelungenen Texte.
    Anschließend dann Empfang im Casino, Getränke und Häpp-
    chen, die offizielle Preisübergabe, Erinnerungsfotos, auch mit dem
    Regierenden, und dies alles unter dem von Matthias Koeppel ge-
    schaffenen Triptychon „Die Öffnung der Berliner Mauer“. Gäbe es
    dafür eine bessere Kulisse?


Das Wende-Wunder


„Fritzi – eine
Wendewunderge-
schichte“ erzählt davon,
wie ab Sommer 1989
alles anders wurde in der
DDR. Die elfjährige Fritzi
merkt, wie die Menschen
zwar Angst haben, aber
trotzdem anfangen,
sich zu wehren. Keiner
weiß, ob das gut geht.
Die Filmpremiere hat der
Tagesspiegel präsentiert.

Kinder, wisst Ihr, warum es


in Berlin unterschiedliche


Ampelmännchen gibt?


Weil Deutschland in DDR


und BRD aufgeteilt war.


Wie ging es den Menschen


damals? Wie haben sie


die Maueröffnung erlebt?


Von unserer Kinderreporterin


Jella Riffel


Opa, du warst 21 Jahre alt, als die Mauer
1961 gebaut wurde. Was hat sich dadurch ver-
ändert?
Unsere Familie war auseinandergerissen! Es
wurde nicht nur eine Mauer gebaut, da war auch
Stacheldraht, der ging quer durch die Gärten
durch, es wurden ganze Häuser abgerissen.

Wie habt ihr Kontakt gehalten?
Miteinander zu sprechen, war unheimlich schwer.
Es gab nicht viele Telefone im Ostteil. Und wenn
wirtelefonieren wollten, galtdasim Osten alsAus-
landsgespräch, auch wennman nur 400 Meteraus-
einander wohnte. Manchmal haben wir uns per
Brief an der Grenze verabredet. Wenn man Glück
hatte, hat man sichander Grenzeüber denStachel-
drahthinwegsehen können undhat sich zugewun-
ken. Das war aber eigentlich nicht erlaubt.

Wie war das später?
Wir West-Berliner durften in die DDR fahren und
unsere Freunde und Verwandten besuchen. Wir
mussten immer 25 D-Mark pro Person umtau-
schen. Vieles, das wir hier im Westen hatten, gab
es in der DDR nicht, oder es war nur sehr schwer
zu bekommen. Wir haben viele Dinge entweder
im Paket zu unseren Verwandten geschickt oder
sie beim Besuch mitgebracht. An der Grenze wur-
den wir ganz genau kontrolliert. Das war oft sehr
unangenehm und dauerte lange.

Wie war das , wenn ihr in den Urlaub gefah-
ren seid?
Da mussten wir auf der Transitstrecke durch die
DDR fahren. Wir mussten die Ausweise an den
Grenzen abgeben, sie wurden kontrolliert, dann
bekamen wir sie wieder. Wir hatten immer Angst,
dass wir in der DDR eine Autopanne haben.

Conni, du warst beim Mauerfall 21
Jahre alt. Wie erging es dir in der
DDR?
Man konnte nicht jedes Buch lesen und
nicht in jedes Land reisen. Als Christin
durfte ichnichtstudierenund auf kein Gym-
nasium gehen, weil ich nicht in der Jugend-
organisation FDJ war. Man konnte nicht
frei seine Meinung sagen. Der Osten er-
schien mir sehr grau, der Westen wirkte so
schön bunt.

Hast du auch gute Erinnerungen?
Ja, zum Beispiel an die Jugendfreizeiten in
der Gemeinde. Und wir haben uns immer
sehr über die Pakete aus dem Westen ge-
freut, da hat das ganze Wohnzimmer geduf-
tet.

Wie war das 1989 bei den Friedensge-
beten?
Die Stasi wollte die Menschen einschüch-
tern. Aber für uns war klar, montags gehen
wir entweder zum Montagsgebet oder zur
Demonstration. Wir haben dafür gebetet,
dass alles friedlich abläuft und es kein Blut-
vergießen gibt.

Was hast du dir erhofft?
Bildung für jeden! Reisefreiheit. Dass man
alles sagen darf, was man denkt. Ich bin
ganz schön froh, dass das alles vorbei ist.

Wie war es für dich, als die Mauer fiel?
Das werde ich nie vergessen! Am Vormittag
habe ich noch eine Freundin verabschiedet,
die in den Westen gehen wollte. Am Abend
sah ich dann die Berichte im Fernsehen an.
Ich konnte das erst nicht glauben. Am 10.
November habeich dannmit meinenEltern
einen Ausflug zum Ku’damm gemacht. Das
war eine tolle Stimmung in der Stadt. Wir
konnten garnicht schlafen,eine einzige Fei-
ertour ...

Wie war das als Kind in der DDR?
Stephan: Eigentlich ging es uns gut. Ich hatte
Freunde, wir haben viel draußen gespielt, uns
Steinschleudern und Ähnliches gebaut. Meine El-
tern hatten einen guten Job, wir hatten sogar ein
Auto, einen Lada. Im Sommer waren wir am Meer
und im Winter Skifahren in Tschechien. Bei den
Pioniernachmittagen sind wir ins Kino gegangen
oder haben gespielt. Dass ich beeinflusst wurde,
habe ich nicht mitbekommen, weil es so geschickt
gemacht wurde.

Wie war es in der Schule?
Stephan: Die Klassen 1–10 gingen auf eine Schule.
Manchmal gab es dort einen sogenannten Appell.
Der Schuldirektor stand auf einem Podest. Alle
konnten sehen, wenn man ein Lob oder einen Ta-
del bekommen hat. Fürs Altpapier- und Altglas-
sammeln gab es Lob, das stand sogar auf meinem
Zeugnis.

Warum wolltet ihr die DDR verlassen?
Renate (Stephans Mutter): Vor allem wegen der
Kinder, sie sollten frei aufwachsen. Thomas, un-
serÄltester, durfte kein Abi machen und nicht stu-
dieren. Wir konnten nicht sagen, was wir dachten
und nicht mit den Kindern über den Ausreisean-
trag reden, damit sie sich nicht in der Schule ver-
plapperten. Davon wusste nur Thomas.

Wie lange hat es gedauert, bis ihr ausreisen
durftet?
Renate: Wir mussten drei Jahre warten, so lange
hat das gedauert. Jedes halbe Jahr haben wir einen
neuen Antrag gestellt.

Stephan: Wir feiern noch immer jedes Jahr den
Tag, an dem wir ausreisen durften.
Jella Riffel(12) lebt in
Heiligensee. Als Kinder-
reporterin schreibt sie
für unsere Kinderseite
und hat hier den Text
geschrieben sowie die
Interviews geführt.

Die Preisträger Lillya van Dyk, Emma Rickert und Malte Kutschick,
daneben Ralf Wieland, Robert Ide und Eva Stöhr (von links)

Fotos: Weltkino-Filmverleih, Kai-Uwe Heinrich, Mike Wolff

Bei der Gedenkfeier


im Abgeordnetenhaus


wurden auch die


drei Siegerinnen und Sieger


des Schreibwettbewerbs


vom Tagesspiegel geehrt.


Von Andreas Conrad


Dieter Stulpe


war West-Berliner


Conni lebte


in Ost-Berlin


Stephan ist als


Kind ausgereist


20 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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