Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

30 Tage bis zum Mauerfall – Nach den mehr als
1047 Verhaftungen allein in Berlin zeigt Bundes-
kanzler Helmut Kohl (CDU) in seiner Eröffnungs-
rede auf der Frankfurter Buchmesse Solidarität:
„Diese Landsleute in der DDR haben sich bei den
eindrucksvollen Demonstrationen der vergange-
nen Tage in Ost-Berlin, in Leipzig, in Dresden und
invielenanderen StädtenundGemeindenunüber-
hörbar zu Wort gemeldet. Auch die Staats- und
Parteiführung der DDR kann und wird auf die
Dauer diesen Ruf nach Freiheit und Selbstbestim-
mung nicht ignorieren können.”


29 Tage bis zum Mauerfall – Die Anzeichen für
eine baldige Ablösung Erich Honeckers verdich-
ten sich, offenbar steht der langjährige SED-Gene-
ralsekretär ohne Mehrheit da. Ist das das „Ende
des Alptraums?“, fragt der Tagesspiegel in einem
Kommentar. „Wenn es auch nach den Gesetzen
der politischen Logik unvermeidlich ist: Die
Kräfte in der DDR, die für einen demokratisch re-
formierten Sozialismus nach dem Willen des Vol-
kes eintreten, haben eine Lawine losgetreten.“
Der Druckder Basiswerdeübermächtig, derZwie-
spalt zwischen SED-Themen und den Sorgen des
Volkes unerträglich.


28 Tage bis zum Mauerfall – Während in der DDR
neue Rufe nach Reformen ertönen und Chefideo-
loge Kurt Hager überraschend zur Eröffnung der
DDR-Kulturtage nach Moskau reist, werden am
Abend die innerstädtischen Grenzanlagen in
Ost-Berlinverstärkt. In derNacht beobachtenZeu-
gen, wie hinter dem Reichstag, von einer schwim-
menden Arbeitsplattform aus, Pfähle in den Fluss-
grund der Spree gerammt werden. Die Spree ge-
hört an dieser Stelle in ganzer Breite zu Ost-Ber-
lin, das Ufer zu West-Berlin. Die britische Militär-
regierung hatte zuvor an einigen Stellen Leitern
undSeile angebracht,umFlüchtlingendasErklim-
men der Uferböschung zu erleichtern.


10.10.1989


27 Tage bis zum Mauerfall – Immer mehr junge
Menschen fliehen aus der DDR. Was das finan-
ziell für die Wirtschaft des Landes bedeutet, er-
rechnet für die SED-Zeitung „Freiheit“ Professor
Thal, Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissen-
schaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universi-
tät in Halle-Wittenberg. Geht man davon aus, dass
die Leute noch rund 30 Arbeitsjahre vor sich ha-
ben, muss die DDR ihm zufolge bei einem Verlust
von 10000 Berufstätigen mit einer Schmälerung
des Nationaleinkommens von 10 Milliarden Mark
rechnen. Das sei „kein Anlass zur Panik“, aber auf
Dauer gesehen ein „ganz hübsches Sümmchen“.


Beruhigt Euch nicht.


Handelt gewaltfrei!


11.10.1989


26 Tage bis zum Mauerfall – Während der 1976
ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann ver-
sucht, die Proteste in der DDR einzuordnen („Es
geht nicht um den Mangel in der DDR, es geht um
den Maulkorb, den die Menschen tragen müs-
sen“), schimpft Karl-Eduard von Schnitzler in sei-
ner Sendung „Der Schwarze Kanal“ auf die Kriti-
ker des real existierenden Sozialismus. Diese
seien, so Schnitzler, „impotent und unbefugt“. In
derHauptnachrichtensendung„AktuelleKamera“
lästert er über die Ratschläge aus dem Westen und
„hochherzige Angebote“der Bundesregierung.Ka-
pitalisten würden wohl kaum den Sozialismus för-
dern und die Probleme der DDR könne man allein
inder Deutschen DemokratischenRepubliklösen.


12.10.1989


25 Tage bis zum Mauerfall – Das brutale Vorgehen
derPolizeiim Zuge derDemonstrationenrund um
den 40. Jahrestag der DDR hat Aufsehen erregt.
Die letzten Inhaftierten werden heute freigelas-
sen. Am Abend versammeln sich 3000 Zuhörer
beim „Konzert gegen Gewalt“ in der Erlöserkirche
in Ost-Berlin. Auf der Bühne stehen Silly, City und
der Liedermacher Gerhard Schöne. Ein Abgeord-
neter der SED aus Prenzlauer Berg ruft: „Beruhigt
Euch nicht. Wir haben wahrscheinlich nur diesen
einen Versuch. (...) Handelt gewaltfrei! Redet mit
allen, auch mit den 2,3 Millionen SED-Mitglie-
dern. Grenzt sie nicht von vornherein aus, viele
von ihnen haben dazubeigetragen,dass jetztHoff-
nung ist!“ Applaus.


13.10.1989


24 Tage bis zum Mauerfall – Die Teilnehmerzah-
len bei den Montagsdemonstrationen steigen.
Rund 120000 Bürger sind heute in Leipzig auf
den Straßen unterwegs. Auch in Halle und Dres-
den beteiligen sich mehrere Tausend Menschen
an den Demonstrationen. Nicht auf die Straße,
sonderndirekt zum FDJ-Chef Eberhard Aurich ge-
hen „Sektion Rock“-Vertreter des Verbandes der
Unterhaltungskünstler. Nachdem 3000 Künstler
in einer Resolution Dialog und demokratische Er-
neuerung gefordert und das DDR-Regime kriti-
sierthaben,berichten einige Beteiligte vonzahlrei-
chen Auftrittsverboten und Festnahmen.


14.10.1989


Die „Unauffälligen“. UdK-Studentin Marie Schwab illustriert zwei Stasi-Beamte,
die alles andere als unauffällig ein Haus kontrollieren.

15.10.1989


Immer größer wird die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger – und immer stärker ihr Wille,


echten Wandel in der DDR zu erreichen. Sie demonstrieren, schaffen Freiheiten. Und was tut


die Staatsführung? Eine Chronik der letzten 30 Tage vorm Mauerfall.Von Maria Kotsev und Paul Lufter


16.10.1989


26 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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