Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1

2 THEMA DES TAGES DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,12.NOVEMBER


re Ereignisse wie Epidemien oder
ein plötzlicher Personalausfall in
der Belegschaft.
Doch seit der Einführung
schlagen Kliniken Alarm. Der
Preis, den sie für die Einhaltung
der Vorgaben zahlen, sei zu
hoch. „Die Untergrenzen führen
zum Gegenteil von dem, was
man erreichen wollte“, resü-
miert der Präsident der Deut-
schen Krankenhausgesellschaft
(DKG), Gerald Gaß. Fehlendes
Personal auf dem Arbeitsmarkt
mache es vielen Kliniken unmög-
lich, ihre Belegschaft tatsächlich
aufzustocken. Um die Richtwer-
te trotzdem einhalten zu kön-
nen, müssten Pfleger zwischen
den Stationen verschoben,
Dienstpläne kurzfristig verän-
dert und Mitarbeiter immer wie-
der aus ihrem Urlaub oder der
Freizeit zurückgeholt werden.
„Statt die Pfleger zu entlasten,
sind diese gestresster als zuvor“,
so Gaß. Viele Kliniken nähmen
zudem weniger Patienten auf,
was zu Gewinneinbußen und ei-
ner „Ausdünnung der Kranken-
hauslandschaft“ führe. Gaß be-
ruft sich dabei auf eine im Sep-
tember veröffentlichte Umfrage
des Deutschen Krankenhausin-
stituts. Aus dieser geht hervor,
dass bundesweit 37 Prozent der
befragten Krankenhäuser Betten
sperren mussten. Ein Drittel der
Krankenhäuser meldete dem-
nach zudem vorübergehend ein-
zelne Krankenhausbereiche aus
der Notfallversorgung ab. „Es ist
ein alarmierendes Zeichen, dass
die Pflegepersonaluntergrenzen
zu Einschränkungen bei der Ver-
sorgung führen.“
Als Beispiel nennt Gaß das
Schwerpunktklinikum Deggen-
dorf in Südostbayern. Um die
Untergrenzen einhalten zu kön-
nen, sei die Intensivstation an ei-
nigen Tagen vorübergehend ge-
schlossen. Doch weitere Patien-
ten müssten trotzdem aufge-
nommen werden. Auf Anfrage
bestätigt Vorstand Inge Wolff,
dass immer wieder Helikopter
trotz der Sperrung Notfallpa-
tienten in die Klinik brächten, da
kein anderes Krankenhaus in der
Nähe auf die Behandlung der be-

H


erzinfarkt, Schlagan-
fall, schwerer Unfall:
Intensivstationen
sind ein kritischer
Ort. Ein Teil der Patienten
schwebt akut in Lebensgefahr.
Und die Pflegenden müssen die
schwer kranken Menschen rund
um die Uhr betreuen und beob-
achten. Doch kann das überall ge-
lingen, wenn in Deutschland bis
zu 80.000 Pflegestellen offen
und Krankenhäuser unterbesetzt
sind?


VON KAJA KLAPSA

Nein, ist Bundesgesundheits-
minister Jens Spahn (CDU) über-
zeugt – und hat den Kliniken des-
wegen vergangenes Jahr Vor-
schriften zur Personalausstat-
tung gemacht. Doch um die Vor-
gaben einhalten zu können, müs-
sen die Kliniken Abstriche ma-
chen. Und die haben es in sich.
Bei der Verordnung hat das
Gesundheitsministerium festge-
legt, von wie vielen Pflegern die
Patienten mindestens betreut
werden müssen, der Fachbegriff
dafür lautet Personaluntergren-
ze. Bisher entschieden darüber
die Kliniken selbst. Zunächst wa-
ren sie es auch, die sich mit den
Krankenkassen auf verbindliche
Untergrenzen einigen sollten.
Doch als die Verhandlungen
scheiterten, gab Spahn selbst
vergangenes Jahr Zahlen vor.
Das Ziel: ein besseres Arbeits-
umfeld für die Pflegefachkräfte
und eine sichere Versorgung der
Patienten, für die Unterbeset-
zung, wie es hieß, „fatale Folgen“
haben könne.
Der Personalschlüssel gilt seit
Januar und greift bisher bei vier
besonders pflegeintensiven Be-
reichen: Intensivmedizin, Unfall-
chirurgie, Kardiologie und Geria-
trie. Auf der Intensivstation etwa
darf nun eine Krankenschwester
im Durchschnitt tagsüber nicht
mehr als 2,5 Patienten und
nachts 3,5 versorgen. In der Un-
fallchirurgie sind es tagsüber
zehn und nachts 20 Patienten.
Bei Verstößen müssen die Klini-
ken mit Sanktionen rechnen.
Ausnahmen sind unvorhersehba-


treffenden Erkrankung speziali-
siert sei. Die Klinik müsse deswe-
gen kurzfristig Pfleger aus dem
Bereitschaftsdienst rufen oder
Personal zwischen Stationen ver-
schieben.
Ist die Patientenversorgung in
den Krankenhäusern also tat-
sächlich gefährdet? Der Spitzen-
verband der gesetzlichen Kran-
kenkassen zweifelt das Ausmaß
der Bettenschließungen und da-
mit einhergehender Versor-
gungslücken an. „Wir halten die
angegebene Zahl von 37 Prozent
aller Krankenhäuser für unrealis-
tisch, zumal nicht gemessen,
sondern lediglich befragt wur-
de“, sagt Sprecher Florian Lanz.
Die Kliniken hätten die Möglich-
keit, intern Personal so umzu-
schichten, dass in den Notauf-
nahmen ausreichend Pflegekräf-
te vorhanden seien. Dafür müss-
ten im Gegenzug geplante Ope-
rationen auf andere Stationen
verschoben werden. „Das ist für
alle Beteiligten unangenehm,
aber auf jeden Fall besser, als auf
den Intensivstationen Men-
schenleben zu gefährden.“
Das Aktionsbündnis Patien-
tensicherheit begrüßt die Einfüh-
rung der Personaluntergrenzen
ebenfalls: „Selbstverständlich
sind gesperrte Betten und länge-
re Anfahrtswege problematisch,
aber die Alternative wäre, dass
wir Patienten mit nicht ausrei-
chend Personal versorgen. Somit
würden wir jeden Tag Fehler ris-
kieren, die zu Schäden führen
können“, sagt Vorsitzende Ruth
Hecker.
Eine Sprecherin des Bundesge-
sundheitsministeriums weist da-
rauf hin, dass die Krankenhäuser
„organisatorische Spielräume“
nutzen könnten, bevor Betten
stillgelegt oder komplette Statio-
nen geschlossen werden. Was da-
bei aber laut Ministerium als
„unzulässig“ gilt, ist, Personal
von anderen Stationen, auf de-
nen keine Untergrenzen gelten,
auf die zu verschieben, bei denen
die Vorschriften greifen – wenn
sich dadurch die Versorgungs-
qualität der verbliebenen Patien-
ten verschlechtert. Ab Januar
wird sich die Situation zudem

wohl auch noch weiter verschär-
fen: Die Untergrenzen werden
auf vier weitere Stationen ausge-
weitet, die Herzchirurgie, Neuro-
logie, Stroke-Units (Schlaganfall-
patienten) sowie die Neurologi-
sche Frührehabilitation.
Doch es ist nur ein Teil der
Krankenhäuser, der sich über die
Auswirkungen der Untergrenzen
beschwert. So gibt es auf der ei-
nen Seite die Kliniken, die be-
reits vorher personell am Limit
waren und denen es nun beson-
ders schwerfällt, die Vorgaben
einzuhalten. Auf der anderen
Seite gibt es jedoch Krankenhäu-
ser, die bereits vor der Einfüh-
rung der Verordnung mehr Per-
sonal beschäftigten, als heute
vorgeschrieben ist.
Das liegt daran, wie die Rege-
lung im Vorfeld berechnet wur-
de: Die beauftragte Wirtschafts-
prüfungsgesellschaft KPMG er-
mittelte, dass die Untergrenzen
gemäß einer stichprobenartigen

Datenerhebung in drei Viertel al-
ler Kliniken in Deutschland be-
reits erfüllt sein würden – und
theoretisch nur die anderen 25
Prozent ihr Personal aufbessern
müssten. Schließlich sind die Un-
tergrenzen per Definition des
Gesetzgebers auch nur eine
„Mindestvorgabe“, um eine pa-
tientengefährdende Pflege zu
verhindern – und kein Garant für
bestmögliche Pflege.
Für die Präsidentin des Deut-
schen Berufsverbands für Pflege-
berufe, Christel Bienstein, reicht
diese Mindestvorgabe nicht aus.
„Die Personaluntergrenzen sind
im europäischen Vergleich deut-
lich zu niedrig und können keine
sichere Pflege garantieren“, sagte
sie WELT. In der Unfallchirurgie
etwa sei es erlaubt, dass eine
Pflegekraft bis zu zehn Patienten
allein versorgt. In Norwegen hin-
gegen dürfe sie sich maximal um
vier Patienten kümmern. Auch
auf der Intensivstation sei die

„Sie sind

GESTRESSTER

als zuvor“

Seit Januar gelten in Krankenhäusern Untergrenzen


für das Pflegepersonal. Doch Kliniken schlagen


Alarm: Um die Vorgaben einzuhalten, werden


Betten gesperrt und Intensivstationen geschlossen

Free download pdf