Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1

E


igentlich klang Johan-
nes Kahrs sehr ent-
schlossen. Kurz nach-
dem Morddrohungen
von mutmaßlichen Rechtsex-
tremisten gegen die beiden
Grünen-Politiker Cem Özde-
mir und Claudia Roth aufge-
taucht waren, forderte er ein
entschiedenes Vorgehen gegen
die AfD. Man müsse „klar sa-
gen“, dass die AfD mit für diese
Verrohung zuständig sei, sagte
der SPD-Haushaltspolitiker in
einem „Bild“-Videointerviewin
der vergangenen Woche. Er sei
deswegen froh, dass der Verfas-
sungsschutz nun bald viele
neue Kräfte bekomme, die im
„Kampf gegen rechts“ einge-
setzt würden.

VON RICARDA BREYTON

Man müsse, sagte Kahrs wei-
ter, irgendwann „einen Antrag“
hinbekommen, „dass das Verfas-
sungsgericht sich darüber unter-
hält, ob die AfD verfassungsge-
mäß ist oder nicht“. Danach teil-
te er auf Twitter einen „Bild“-
Artikel, in dem es nach der Zwi-
schenüberschrift „Parteiver-
botsverfahren“ heißt: „Kahrs
ffforderte alle Parteien im Bun-orderte alle Parteien im Bun-
destag auf, einen Antrag ‚hinzu-
kriegen‘, der das Bundesverfas-
sungsgericht zu einer Überprü-
fffung der Partei auffordert.“ung der Partei auffordert.“
Schon im Juli hatte Kahrs auf
Twitter vorgeschlagen, die AfD
zu verbieten. Damals wie auch
bei dem Videointerview sagte
er allerdings nicht, wie er sich
ein solches Verbotsverfahren

der Bundestagsabgeordnete das
Interview vorzeitig ab. Sein Büro
teilte später mit, dass es die Zita-
te nicht freigeben wolle.
Es ist ein Verhalten, das öfter
zu beobachten ist: aufseiten der
AfD, aber auch bei ihren Geg-
nern. Im Bundestag und in ge-
fälligen Interviews werden
markige Forderungen formu-
liert, die auf Applaus von der ei-
genen Seite zielen. Wenn es
aber um die inhaltliche Unter-
fütterung dieser Forderungen
geht, lässt der Elan nach. Zu
groß scheint die Sorge, missver-
standen zu werden oder von
der falschen Seite Zustimmung
zu erhalten. Vielleicht fehlt
auch manchmal schlicht das
Konzept. Das ist bedauerlich,
weil es eine sachliche Auseinan-
dersetzung erschwert.

kämpferische, aggressive Hal-
tung gegenüber der freiheitlich
demokratischen Grundord-
nung“ an den Tag legt und de-
ren Abschaffung anstrebt. Hier-
zu liegen den Behörden – so-
weit bekannt – keine hinrei-
chenden Belege für die Gesamt-
partei AfD vor.
Noch prüfen die Verfas-
sungsschutzämter von Bund
und Ländern die Verfassungs-
treue der Partei. Seit Anfang
des Jahres hat das Bundesamt
für Verfassungsschutz unter
Leitung von Thomas Halden-
wang die Jugendorganisation
der Partei und den sogenannten
Flügel um den Thüringer AfD-
Chef Björn Höcke als „Ver-
dachtsfall“ im Visier. Bei der
Gesamtpartei ist „die Schwelle
zum Verdachtsfall“ nach Aus-

kunft des Bundesinnenministe-
riums hingegen derzeit nicht
erreicht. Wer nun ein Verbot
fordert, hat entweder zusätzli-
che Informationen – oder er
setzt sich über die bisherigen
Erkenntnisse der Nachrichten-
dienste hinweg.
Dies führt zur zweiten Frage:
Welche Rolle schreibt Kahrs
den Verfassungsschutzämtern
zu? Die Innenministerien von
Bund und Ländern legen gro-
ßen Wert auf die Feststellung,
dass ihre Verfassungsschützer
unabhängig von Weisungen
agierten. Der Verfassungs-
schutz werde „nicht aufgrund
politischer Forderungen tätig,
sondern ausschließlich entlang
seiner gesetzlichen Aufgaben“,
heißt es etwa aus dem SPD-ge-
führten Innenministerium von
Rheinland-Pfalz. Dabei unter-
liege er „dem politischen Neu-
tralitätsgebot“.
Die Verfassungsschutz-Mit-
arbeiter sammeln die Erkennt-
nisse, die die Politiker dann be-
werten. Wer diese Reihenfolge
durcheinanderbringt, setzt die
Behörden unter Druck. Wer
den Anschein erweckt, dass die
Ämter aufgrund politischer
Forderungen agieren, macht sie
auch angreifbar. Die AfD nutzt
das für ihre Zwecke: Erst vor
Kurzem veranstaltete die Partei
eine Pressekonferenz, in der sie
dem Verfassungsschutz – mal
wieder – vorwarf, politisch in-
strumentalisiert zu werden.
Offen ist zudem die Frage,
welche Effekte solche Forde-
rungen haben, die kaum zu
umsetzbar sein dürften. Stärkt
man mit Verbotsdiskussionen
nicht sogar die AfD? Sollte der
Bundestag tatsächlich irgend-
wann zu dem Schluss kommen,
einen Antrag auf ein Parteiver-
botsverfahren zu stellen,
könnte dies zu einer Feuerpro-
be werden. Denn was wäre,
wenn das Bundesverfassungs-
gericht zu dem Schluss käme,
dass es nicht genügend An-
haltspunkte gibt für ein Ver-
bot? Ginge die AfD dann nicht
gestärkt aus dem ganzen Ver-
fffahren hervor?ahren hervor?
Kahrs bot an, das Interview
zu einem anderen Zeitpunkt zu
wiederholen. Wir sagten, dass
wir das nicht zusichern könn-
ten. Zu Recht könnten andere
Politiker in Zukunft von uns ver-
langen, es ähnlich zu machen. Es
kann aber nicht Sinn und Zweck
von Journalismus sein, ein Ge-
spräch so oft zu wiederholen,
bis der Interviewte seine Positi-
on widerspruchsfrei darlegen
kann und seine Twitter-Äuße-
rungen nicht einschränken oder
widerrufen muss. Wir kündigten
an, einen Text zu schreiben, in
dem wir auf offene Fragen ein-
gehen. Wir fragten auch ein
Statement von Kahrs an. Gerne
hätten wir thematisiert, warum
es aus Sicht des Politikers not-
wendig war, das Interview abzu-
brechen. Bis zur Veröffentli-
chung dieses Texts stand eine
Antwort noch aus.

Der SPD-Haushaltspolitiker Johannes Kahrs (SPD) spricht im Bundestag

PICTURE ALLIANCE/ DPA

/ KAY NIETFELD

Vor Kurzem brachte der Bundestagsabgeordnete ein


Verbotsverfahren gegen die AfD ins Spiel. Wir wollten wissen,


wie er sich das genau vorstellt


Sein Büro teilte später mit, dass es


die Zitate nicht freigeben wolle


Da bricht


SPD-Politiker


Kahrs das


Interview zur


AfD ab


genau vorstellt. An ein Partei-
verbot sind schließlich hohe
Hürden geknüpft. Wir fragten
ein Interview an.
Dieses Gespräch fand in der
vergangenen Woche statt. In ei-
nem 15-minütigen Telefoninter-
view wiederholte der SPD-Bun-
destagsabgeordnete seine Vor-
stellungen. Er nannte auch die
Schritte, die erforderlich seien
für ein Verbot. Doch veröffentli-
chen wollte er seine Überlegun-
gen nicht. Offenbar unzufrieden
mit dem Gesprächsverlauf brach

Bei Kahrs’ Vorschlag sind vie-
le Fragen offen. Die erste ist:
Auf welcher Basis fordert er ein
Verbot der AfD? „Parteien wir-
ken bei der politischen Willens-
bildung des Volkes mit“, heißt
es im Grundgesetz. Entspre-
chend hoch liegen die Hürden
für ein Verbot. Das Bundesver-
fassungsgericht kann Parteien
nicht einfach verbieten, selbst
wenn sie verfassungsfeindliche
Ideen verbreiten. Es muss zu
dem Schluss kommen, dass die
betreffende Partei eine „aktiv

POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,12.NOVEMBER2019 SEITE 4


SOZIALES

Mehr Wohnungslose
in Deutschland

Die Zahl der Wohnungslosen
in Deutschland ist Schät-
zungen zufolge im vergange-
nen Jahr um mehr als 27.
oder 4,2 Prozent auf 678.
angestiegen. Während 2018
der Anteil der wohnungslosen
anerkannten Geflüchteten um
knapp sechs Prozent auf
441.000 Personen stieg, nahm
die Zahl der Wohnungslosen
im kommunalen Hilfesystem
um 1,2 Prozent auf mehr als
237.000 zu. Die neue Schät-
zung veröffentlichte die Bun-
desarbeitsgemeinschaft Woh-
nungslosenhilfe (BAGW).
Hauptgründe für die steigen-
de Zahl der Betroffenen seien
das unzureichende Angebot
an bezahlbaren Wohnungen,
die Schrumpfung des Sozial-
wohnungsbestandes und die
Verfestigung von Armut. Laut
Schätzung leben rund 41.
Menschen im Laufe eines
Jahres ohne jede Unterkunft
auf der Straße. Viele finden
hingegen zumindest vorüber-
gehend Aufnahme bei Freun-
den oder Verwandten.

SYRIEN

Gründer der
Weißhelme tot

Der aus Großbritannien stam-
mende Gründer der syrischen
Rettungsorganisation Weiß-
helme ist in Istanbul ums
Leben gekommen. Das be-
stätigte deren Leiter Raed
al-Saleh, ohne Details zur
Todesursache zu nennen. Das
Istanbuler Gouverneursamt
nahm die Ermittlungen auf.
Die Weißhelme wurden durch
ihren Einsatz im syrischen
Bürgerkrieg bekannt, vor
allem im Osten der lange Zeit
heftig umkämpften Stadt
Aleppo. Sie waren nach Bom-
benangriffen oft unter den
ersten Helfern vor Ort.

GROSSBRITANNIEN

Farage lässt
Tories den Vortritt

Die Brexit-Partei von EU-
Gegner Nigel Farage will bei
der Parlamentswahl in Groß-
britannien im Dezember in
fast der Hälfte der 650 Wahl-
kreise nicht antreten und den
Kandidaten der Konservati-
ven Partei von Premierminis-
ter Boris Johnson den Vortritt
lassen. Dadurch werde eine
Mehrheit für die Konser-
vativen nach der Wahl am 12.
Dezember „sehr viel wahr-
scheinlicher“, erklärte die
Politikwissenschaftlerin Sara
Hobolt von der London
School of Economics.

KOMPAKT

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