Die Zeit - 07.11.2019

(Elle) #1

gierungen und Institutionen Zugriff auf jedes Dokument
und jede Information haben, die eine Privatperson jemals
online angeklickt hat. Unvorstellbar, dass so etwas in den
Siebzigerjahren passiert wäre. Die Leute wären ausgeflippt.
Aber das ist heute Realität: Jemand in Kalifornien liest mit,
was in deinem Leben passiert.
Dazu kommt, dass sich auf der Nutzerebene die Grenzen
zwischen Realem und Manipuliertem auflösen.
Im Internet bilden Anzeigen, Bilder, Filme, Nachrichten
eine riesige Collage unterschiedlicher Reize, die das Hirn
gleichzeitig verarbeiten muss. Die Nachricht vom Terror­
anschlag hat denselben Rang wie die von der Geburt des
Kindes einer Freundin oder die Terminerinnerung zur Fuß­
pflege. Formen und Bedeutung verschwimmen in ein an­
der, das Reale tritt in Konkurrenz zum Eingebildeten. Dass
vieles gleichzeitig auf uns einprasselt, ist nicht neu – aber
Social Media hat die Reize und Impulse enorm vervielfacht.
Instagram verführt auch dazu, eine bessere, perfektere Ver-
sion des eigenen Selbst online zu stellen.
Man kann sich auf Instagram grenzenlos selbst feiern. Die
Kehrseite ist die Angst, anderen etwas vorzumachen und
ihren Erwartungen nicht gerecht zu werden. Den eigenen
Instinkten nicht mehr trauen zu können. Nicht zu wissen,
wer man ist.
Das herauszufinden war ja immer schon eine große Auf-
gabe – was macht die Suche nach sich selbst im digitalen
Zeitalter besonders schwer?
Das Bild von uns, das wir öffentlich präsentieren, unter­
scheidet sich natürlich von uns als Privatperson. Schon in
der Renaissance haben sich Männer als vornehme Wesen
mit Mandoline malen lassen und waren privat möglicher­
weise grobe Raufbolde. Aber heute wird das Künstliche
weniger wahrgenommen. Die Technologie lässt Falsches
wahrhaftig erscheinen, Wahrheit und Lüge lassen sich
kaum noch unterscheiden. Man fragt sich: Was soll das
heißen, ich muss die Wahrheit sagen? Macht doch eh nie­
mand. Man wird entweder neurotisch oder narzisstisch.
Oder paranoid.
Ich erinnere mich noch an die Anfangszeiten von Wikipe­
dia. Wow, bald wird niemand mehr lügen können, weil sich
alles sofort online überprüfen lässt, habe ich damals gedacht.
Heute sehe ich Wikipedia als willkürliche Ansammlung von
Notizen. Auf der Seite über mich stehen jedenfalls lauter
Dinge, die nicht stimmen. Man kann viel falsch machen
im Internet. Eine niederländische Zeitung hat mal ein Por­
trät über mich veröffentlicht, ohne mit mir zu sprechen. Ein
passendes Foto wurde dann offenbar über Google gesucht –
denn der Text über mich ist mit einem Bild von meinem
Vater illustriert worden. Der taucht als Erstes auf, wenn
man den Namen Sudjic in die Suchmaschine eingibt. Yeah,
Sudjic, passt, hat der Redakteur wohl gedacht. Sehr lustig.
Kritiker feiern Ihren Roman als bislang beste Erzählung
über den Einfluss des Internets auf die menschliche Psyche



  • weil er den Sog beschreibt, den soziale Medien wie Insta-
    gram entwickeln. Psychische Krankheiten sind ein großes


Thema der Millennials. Durch die Kommunikation mit
Mobiltelefonen und Computern lassen sich, wenn man es
will, persönliche Kontakte und Intimität weitgehend ver-
meiden, die Folge ist ein gestörtes Sozialverhalten. In der
Psychiatrie wird die Schizoid Personality Disorder infolge
exzessiver Social-Media-Nutzung als das nächste große
Massenphänomen gesehen. Macht das Internet krank?
Der Stalker, der mich zu Sympathie inspiriert hat, war de­
finitiv von einer schizoiden Störung betroffen. Und so
eine Störung zu erkennen ist durch die Digitalisierung viel
schwerer geworden. Früher hat man leichter durchschaut, ob
jemand falschspielt – wie etwa der talentierte Mr. Ripley aus
dem Roman von Patricia High smith, an den die Protagonis­
tin meines Romans erinnert. Ripley war als Lügner leicht zu
erkennen. Ob sich hinter sexystrawberry ein Betrüger oder
eine naive Zwölfjährige verbirgt, ist dagegen unklar.
Die Protagonistin von »Sympathie« verbringt viel Zeit da-
mit, auf Bildschirme zu starren und zu hoffen, dass sich
ein Status ändert, dass also jemand kundtut, was er gerade
Neues macht. Kennen Sie das?
Natürlich, sonst hätte ich nicht darüber schreiben können.
Es gab Zeiten, in denen war ich dafür sehr anfällig. Die
Frage »Wofür sind bloß die letzten fünf Stunden meines
Lebens draufgegangen?« ist mir also sehr vertraut. Auch das
Gefühl, viel zu viel aus dem Leben von jemand anderem
erfahren zu haben. Ich fühle mich schmutzig und schuldig,
wenn ich zu lange in sozialen Netzwerken unterwegs bin.
Erzählen Sie von Ihren Social-Media-Gewohnheiten.
Ich bin nicht mehr auf Face book ...
Warum?
Ich habe mich letztes Jahr wegen der Cambridge­
Analytica­Enthüllungen abgemeldet, aber das war eine
längst überfällige Entscheidung, denn ich hatte das Gefühl,
ich bin da rausgewachsen. Sich abzumelden hat sich ange­
fühlt, wie den Keller auszumisten: Nach über zwölf Jahren
Face book hatte sich so viel Zeug angesammelt, das ich
dringend loswerden wollte. Mein Freund ist ebenfalls nicht
mehr bei Face book, aber als wir vor ein paar Jahren zu­
sammenkamen, waren wir beide noch Mitglied. Wir haben
gegenseitig keine Freundschaftsanfrage gestellt, weil wir uns
unbeeindruckt von zehn Jahre alten Fotos und dem ganzen
anderen Plunder auf der Plattform kennenlernen wollten.
Tinder, Twitter, Instagram?
2014 war ich kurz mal bei Tinder, aber das ist nichts für
mich. Zu viel Auswahl, immer lauert schon der Nächste
um die Ecke. Wenn man nur Sex sucht, ist es in Ordnung.
Instagram benutze ich sehr viel, ich habe zwei Accounts,
nur einer davon ist öffentlich. Das ist mein Avatar, mein
Bühnen­Ich. Das hilft, Arbeit und Privatleben von ein an der
zu trennen. Man kann es damit vergleichen, sich ordentlich
anzuziehen und in ein Büro zu gehen. Auf Twitter bin ich
auch, aber nur passiv.
Warum nur passiv?
Zadie Smith hat mal davon gesprochen, sie müsse ihr
Recht verteidigen, Denkfehler zu machen. Wenn sie ihre

Olivia Sudjic in London. Ihre Großeltern emigrierten nach dem Zweiten Weltkrieg aus Montenegro

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