Ansichten auf Social Media publizieren würde, bekäme sie andau
ernd Feedback, mit dem sie sich dann beschäftigen würde – anstatt
sich mit anderen, für ihre Arbeit relevanteren Dingen aus ein an
der zu set zen. Reaktionen in Echtzeit sind für Schriftsteller kontra
produktiv. Unser Zeitgefühl basiert auf Marathonläufen, nicht auf
kurzen Sprints. Gleichzeitig ist Social Media gerade für jemanden,
der wie ich zeitweise sehr isoliert arbeitet, natürlich sehr verfüh
rerisch: Zurückgezogenheit fühlt sich anders an, wenn man die
Möglichkeit hat, sich online mit anderen Menschen zu verbinden.
Davon erzählen Sie in Ihrem zweiten, bisher nur auf Englisch
erschienenen Buch »Exposure«.
Genau. Es ist ein Buch über das Schreiben in der digitalen Zeit.
Die meisten handwerklichen Bücher über das Schreiben stammen
ja aus den Achtzigerjahren. Sie sind noch relevant, aber die Be
dingungen haben sich seither sehr verändert. Außerdem hatte ich
nach meinem ersten Buch eine Art Betrügersyndrom. Das Gefühl,
keine richtige Autorin zu sein, sondern nur so zu tun, als ob. Ich
glaube, viele Frauen kennen dieses Gefühl, dass sie ihren Job nicht
richtig gut machen. Die Arbeit an Exposure hat mir geholfen, das
zu überwinden. Vor allem geht es in dem Buch um anxiety, also
eine bestimmte Form von Unruhe.
Was genau meinen Sie damit?
So eine übertriebene Wachsamkeit: Alle Sinne sind extrem scharf
gestellt, und man befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft,
ob etwas passiert. Wenn zusätzlich irgendein äußerliches Er
eignis diesen besorgten Grundmodus verstärkt, hat man es mit
echter Angst zu tun. Unter evolutionärem Gesichtspunkt macht
die Alarmbereitschaft total Sinn: Ursprünglich ging es darum,
auf der Hut vor wilden Tieren zu sein. Heute erleben wir zwar
keine physischen Bedrohungen mehr, aber unser Hirn steuert
immer noch die gleichen biochemischen Prozesse. Wir werden
nicht nervös, weil ein Tiger um die Ecke kommt, sondern weil
jemand auf eine Nachricht nicht reagiert hat. Der Körper sendet
die gleichen Si gna le wie in der Steinzeit – aber der Kopf kann kei
ne reale Bedrohung erkennen. Ich finde es sehr schwer, meinem
Hirn in solchen Momenten der Verunsicherung zu trauen. Wem
oder welcher Sache kann ich überhaupt noch trauen, wenn nicht
meinem Instinkt? Das Schlimme an anxiety ist: Ich weiß nicht,
warum ich Angst habe und ob mir nicht womöglich mein Hirn
einen Streich spielt.
Wird diese diffuse Unruhe durch Social Media geschürt?
Es entsteht ein Teufelskreis: Je mehr ich mich aus dem »realen«
Leben mit seinen Bedrohungen zurückziehe, desto eher vermitteln
mir soziale Netzwerke das Gefühl, mein Leben kontrollieren zu
können. Aber das ist nur eine kurzfristige Illusion, denn nach einer
Weile fühle ich mich machtloser als vorher. Um mir und meinen
Freunden den Eindruck zu vermitteln, es gehe mir gut, poste ich
dann sehr viel auf Social Media. Je mehr ich poste, desto schlechter
fühle ich mich, und je schlechter ich mich fühle, desto mehr poste
ich. Es funktioniert wie eine Droge oder jede andere Sucht.
Wie wirkt sich das Internet auf das Schreiben aus?
Die neuen Technologien verändern unsere Wahrnehmung von
Raum und Zeit: Wir springen ständig hin und her zwischen alten
Fotos und Nachrichten, können jederzeit alle möglichen Men
schen irgendwo in der Welt kontaktieren oder Informationen
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Abnehmendhektisch,
zunehmendhimmlisch:
dieersteMeisterSinger
mitMondphasenmodul.
http://www.meistersinger.de
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