Die Zeit - 07.11.2019

(Elle) #1

genössische amerikanische Autorinnen gelesen, Lydia Davis
und Miranda July zum Beispiel, und das hat mich aus dem
ziemlich verklemmten britischen Kanondenken befreit.
Das geht anderen Frauen um die dreißig offenbar sehr ähn-
lich: Zurzeit werden viele weibliche Debüts veröffentlicht.
Frauen wollen endlich selbst ihre Erfahrungen in der Li-
teratur reflektieren. Wir sind gerade dabei, den Kanon neu
zu formen.
Haben Sie selbst mal die Erfahrung gemacht, als Autorin
nicht ernst genommen zu werden?
Ich hatte neulich auf einem großen Literaturfestival einen
Bühnenauftritt mit einem Autor. Natürlich habe ich ihn
vorher gegoogelt, denn es war ein Livegespräch vor gro-
ßem Publikum, und ich wollte gut vorbereitet sein. Er hat
das offensichtlich anders gesehen, denn als ich ihn begrüßt
habe, hielt er mich für jemanden aus der Tonabteilung, der
ihm das Mikrofon anstecken will. Okay, ich hatte einen
blauen Anzug an – aber trotzdem. Es hat ihn offenbar null
interessiert, mit wem er da auf der Bühne übers Schreiben
spricht. Es ging dann auch weitgehend um sein Leben und
seine Anekdoten. Was die Ernsthaftigkeit seines »Werkes«


in keiner Weise beeinträchtigt hat. Wäre ich genauso per-
sönlich geworden, hätte man mich als trivial degradiert, da
bin ich sicher.
Woran arbeiten Sie gerade?
An der Überarbeitung meines neuen Romans. Er er-
zählt die Geschichte einer jungen Frau, die im Bosnien-
Krieg nach England floh und 2017, kurz nach der Brexit-
Entscheidung, ihre Familie in Sarajevo besucht.
Sie haben serbokroatische Wurzeln. Erzählen Sie in dem
Buch Ihre Familiengeschichte?
Meine Großeltern sind kurz vor dem Zweiten Weltkrieg
nach England emigriert und 1946 zurück nach Monte-
negro gezogen. Während der Arbeit an dem Roman habe
ich zwar viel an meinen Großvater gedacht, aber die Ge-
schichte ist viel weiter gefasst: Es geht um den Zerfall und
die Fragmentierung in Europa. Und um Identität. Ziem-
lich zu Beginn des Buches verliert die Protagonistin ihr
Handy. Sie ist jetzt total von ihrem Freund abhängig und
fühlt sich komplett hilflos, unverbunden mit sich und der
Welt. Es geht im Roman um Verbindungen und Techno-
logie, um das Lebensgefühl in der postfaktischen Zeit.

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