8 NZZ-Verlagsbeilage Spotlight Schweiz Donnerstag, 31. Oktober 2019
Lernen und Technologie: Neue Sicht- und Handlungsweisen
Leitarti kel von Manu Kapur, Professor für Lernwissenschaften s owie Inhaber des Lehrstuhls für Lernwissenschaften und Hochschulbildung an der ETH Zürich.
Als Wissenschaftler, der das Lernen im
Kontext des technologischenWandels
erforscht,werde ich oftgefragt, wieTech-
nologie unser Leben und unsereArbeit
verändern wird.Wie soll man Studie-
rende auf dieseZukunft vorbereiten?
Und welcheRolle könnteTechnologie
im Rahmen dieserVorbereitung spielen?
Die Geschichte zeigt, dassTechnologie
dazu neigt,menschliches Handeln funda-
mental zu verändern.Von der Erfindung
desRads zumPapier, vom Buchdruck
zumFernsehen,von derDampfmaschine
zum Internet hatteTechnologie seitje-
her nicht nur einen grossen Einfluss auf
unsereWahrnehmung der Dinge, wie wir
diese miteinander verknüpfen, wie wir
lernen und arbeiten, sondern auch auf
unsereWerte und unser Selbstverständ-
ni sdessen, was uns zu Menschenmacht.
Es istkeine grosse Überraschung,dass
auchFortschritte in der modernenTech-
nologie solche Erschütterungen auslösen
dürften. Ich skizzierederen fünf:
Erstens wird unsTechnologie neue
Sichtweisen eröffnen.Heute istes uns
möglich,komplexe Phänomene zu visua-
lisieren und zu simulieren, wie nie zuvor.
Ob wir nun Nanopartikel betrachten,
intermolekulare Kräfte oder emergen-
tes Verhalten dynamischer Netzwerke.
Neue Entwicklungen inVirtualReality
undAugmentedReality, die uns erlau-
ben, in unbekannteWelten und Erfah-
rungen einzutauchen, können – sofern
gut konzipiert – unserem Lernen äus-
serst förderlich sein.
Zweitens wird Technologie wei-
terhin die Art undWeiseverändern,
wie wiruns miteinander inVerbin-
dung setzen.Einerseits erleichtert sie
uns den Zugang zuWissen und Exper-
tise. Praktisch das gesamte geteilteWis-
sen ist im Internet auffindbar. Man kann
denrenommiertesten Experten zuhören
und durchTeilnahme an Online-Kursen
sich vielleicht sogar mit ihnen austau-
schen. Andererseits birgt der einfache
ZugangzuWissen auch die Gefahr zur
Vereinsamung. Ein zu starkerFokus auf
Online-Kontakte kann die Illusion einer
engen Zusammenarbeit schaffen und in
psychologischer Isolation enden.
Drittens wirdTechnologie das Ler-
nen zunehmend personalisieren.Nicht
alles eignet sich für jeden, unddas muss
es auch nicht. Neue Entwicklungen
maschinellen Lernens und künstlicher
Intelligenz machenSysteme möglich,
die sich an individuelle Lernfortschritte
anpassen. Und wenn diese Systeme
die jüngsten Erkenntnisse der Lern-
forschung berücksichtigen, ist dasPoten-
zial für erfolgreiches Lernen enorm.
Viertens erlaubt unsTechnologie,
Lernaktivitäten besser in der fach-
lichen Praxis zuverankern.So müssen
Medizinstudierendenicht auf eine Prak-
tikumsstelle warten, bis sie ihrWissen
anwendenkönnen, wenn ihnenTechno-
logie die Möglichkeit bietet, klinische
Praxis invirtuellenWelten zu üben,
die mehr und mehr derRealität ähneln
werden.
DieVerankerung von Lernen in
authentischenKontexten hat zudem
denVorteil, dass explizites und impli-
zitesWissen gekoppelt werdenkönnen,
was für die Entwicklung von Expertise
unerlässlich ist. ExplizitesWissen kann
nach aussen externalisiert, das heisst,
dargestellt, festgeschrieben undkom-
muniziert werden.Gesetze, Prinzipien,
Theoreme oderFormalismen sind Bei-
spiele für explizitesWissen. Man er-
wirbt es aus Büchern, inVorlesun-
gen oder im Gespräch mit Experten.
ImplizitesWissen dagegen ist etwas,
das nicht externalisiert, das heisst, dar-
gestellt, festgeschrieben oder kom-
muniziert werden kann. Man kann es
weder aus Büchern noch inVorlesun-
gen lernen, auch nicht durchFragen an
Experten.
Die Expertiseforschung zeigt, dass
Experten nicht nur über explizitesWis-
senverfügen.Stattdessen ist es die enge
Verbindung von explizitem und impli-
zitemWissen, die Expertise charakteri-
siert.TechnischeFortschritte werden das
Design von Lernumgebungen ermög-
lichen, in denen explizites und implizites
Wissen gekoppelt werden. DieseVerbin-
dung wird tiefgehendes Lernen – soge-
nanntes Deep Learning – ermöglichen.
Fünftens wird uns Technologie
immer stärker dazu zwingen, unse-
ren Fokus auf kritisches Denken, Syn-
these, und darauf, wietiefesVerstehen
erarbeitet wird, zu legen.Die Demo-
kratisierung von Informationen und
ihre einfacheVerfügbarkeit machen
deren kritische Evaluation wichtiger
denn je. Die Bildung muss ihr Bestre-
ben,kritisches Denken zu fördern,noch-
mals deutlich vergrössern.Dahingehend
stellt sich folgendes Problem:Wiekön-
nen wir lernen, die Flut von Informatio-
nen aufzunehmen und zu interpretieren
und gleichzeitig jedes einzelne Element
kritisch zu hinterfragen? DieFähigkeit
zu Synthese sowieVerstehen selbst zu er-
arbeiten, wird gefragter sein als je zuvor.
Ich möchte kurz eine andereFrage an-
sprechen, die mir oft gestellt wird:Wird
Technologie die Lehrpersonen erset-
zen? Meine Antwort ist simpel: Insofern
sich Unterricht auf dasWeitergeben von
explizitemWissen beschränkt, werden
Maschinen vermutlich besser sein. Inso-
fern sich Unterricht auf dasVermitteln
von einfachenTatsachen und Prozessen
beschränkt, werden Maschinen vermut-
lich bessersein. Insofern sich Unterricht
vor allemauf den individuellen Lernen-
den ausrichtet, werden Maschinen das
Lernen vermutlich besser personalisie-
renkönnen.
Was wir brauchen, ist ein Unterricht,
der sowohl auf das Individuelle als auch
auf das Soziale fokussiert, auf Grund-
lagenkenntnisse sowie auf kritisches Den-
ken, auf explizites und implizitesWissen
gleichermassen. In anderenWorten, wir
müssen den Unterricht wieder darauf
fokussieren, was es bedeutet, ein «gebil-
deter» Mensch zu sein – im besten Sinne
des Wortes. Eine solcheRückbesinnung
setzt die Zusammenarbeit vieler Interes-
sengruppen voraus:Forschende, die sich
mit dem Lernen beschäftigen,Techno-
logen, Pädagogen, Entscheidungsträger,
Philosophen, Ethiker usw.–wie auch die
Gesellschaftals Ganzes.
AnstattTechnologie als Bedrohung
zu betrachten, als etwas, das uns stö-
ren oder ersetzenkönnte, sehe ich eine
transformative Gelegenheit für ein viel-
versprechendesParadoxon, das uns er-
laubt, Seite an Seite mitder Technolo-
gie zu gedeihen. Sprich, technologische
Fortschritte lassen uns garkeine andere
Wahl, als dass wir wieder darauf fokus-
sieren,was uns zu Menschen macht.Und
das ist unsere Nische, die nicht ersetzt
werden kann.
Dieser Leitarti kel wurde auf Englisch verfasst
und auf Deutsch übersetzt; Mitarb eit: Tobias
Halbherr, ETH Zürich.
Zur Person
Manu Kapur (45) ist seit 2017 Professor
für Lernwissenschaften am Departement
Geistes-,Sozial- und Staatswissenschaf-
ten sowie Inhaber des Lehrstuhls für
Lernwissenschaften und Hochschulbil-
dung an derETH Zürich. Zuvor hat er in
Hongkong und Singapur geforscht und
gelehrt. Er ist weltweit bekannt für seine
Arbeiten zumThema «Lernen durch
Scheitern» und hat erfolgreiche Mathe-
matik-Lernprogramme entwickelt.Manu
Kapur stammt aus Indien,ist ursprünglich
Maschineningenieur und hat als Mathe-
Lehrer am Gymnasium unterrichtet.
«Es ist die engeVerbindung von explizitem und implizitemWissen, die Expertisecharakterisiert», sagt Manu Kapur. KILIAN KESSLER
«Wir müssen
den Unterricht wieder
darauf fokussieren,
was es bedeutet,
ein ‹gebildeter›
Mensch zu sein.»
Die acht Partner von Spotlight Schweiz
WeAre Play Lab Foundation
Die Mission ist:Kinder mit denKompetenzen
ausrüsten, die sie für ein erfolgreiches Leben
benötigen. DieWe Are PlayLab Foundation ist
ein Non-Profit-Start-up, das eine interdisziplinäre
Gemeinschaft von Lehrpersonen,Wissenschaft-
lerinnen, Designern und Unternehmerinnen zu-
sammenführt.Auf derBasis vonForschung und
durch partizipative Einsätze zusammen mit ihren
Partnern kreiert sie effiziente, integrative und
erschwingliche Lernmöglichkeiten für das 21. Jahr-
hundert. DieWeAre PlayLab Foundation ist
Mitglied derFondation desFondateurs und des
Swiss EdTech Collider.
Gebert Rüf St iftung
Die GebertRüf Stiftung fördert Innovationen zum
Nutzen der SchweizerWirtschaft und Gesellschaft.
Sie finanziert, begleitet und vermittelt transfer-
orientierteForschungs- und Bildungsprojekte mit
zukunftsweisendemPotenzial. Um neuen digita-
len Lern- und Lehrarrangementsmit Skalierungs-
potenzial zumDurchbruch zu verhelfen, unter-
stützt die GebertRüf StiftungLehrpersonen, die
durch beispielhafte Projekte eineVorbildfunktion
einnehmen. Mit dem Programm «Digital Edu-
cation Pioneers» werden Projekte im Sinne von
Laboratorien ausgezeichnet, dierelevante Impulse
für die Schule der Zukunft setzen.
Jacobs Foundation
DieJacobsFoundation ist eine weltweit tätige Stif-
tung im Bereich der Kinder- undJugendentwick-
lung. Der Unternehmer KlausJ. Jacobs gründete
sie 1989 in Zürich. DieJacobsFoundation fördert
Forschungsprojekte, Interventionsprogramme und
wissenschaftliche Institutionen mit einemJahres-
budget von rund 40 MillionenFranken.Dabei
ist die Stiftung in besonderem Masse der wissen-
schaftlichen Exzellenz und Evidenz verpflichtet.
Mercator Stiftung Schweiz
Die Stiftung Mercator Schweiz setzt sich für eine
engagierte und weltoffene Gesellschaft ein, die
verantwortungsvoll mit der Umwelt umgeht und
allen Kindern undJugendlichen die Möglichkeit
bietet, ihr Potenzial zu entfalten.Dafür initiiert
und fördert sie Projekte in den vierThemen Bil-
dung,Verständigung, Mitwirkung und Umwelt.
Die Stiftung ermöglichtWissenschafts- und Pra-
xisprojekte, stärkt Organisationen in ihrer Ent-
wicklung und sorgt dafür, dass Erfahrungen und
Erkenntnisse verbreitet werden.
Beisheim Stiftung
Die Beisheim Stiftung ist fördernd und operativ tä-
tig. Sie entwickelt nicht nureigeneProjekte, son-
dern stellt ihrWissen und ihreRessourcen auch
vielversprechendenKonzepten zurVerfügung,
die das gesellschaftliche Zusammenleben stärken
und einen sozialen Mehrwert schaffen wollen. Die
Beisheim Stiftung ist deshalb immer auf der Suche
nachMenschen und Organisationen, die mitihren
Ideen und Projekten das gesellschaftliche Zusam-
menleben stärken und einen sozialen Mehrwert
schaffen wollen.
digitalswitzerland nextgeneration
Die Generationvon morgen,die Talenteund Ge-
stalter der Zukunft sind zentral für die Schweiz.
Aus diesem Grund setzt sich digitalswitzerland
für konkrete Projekte zurVermittlung von digita-
len Kompetenzen ein. Mit nextgeneration unter-
stützt digitalswitzerland gezielt Bildungsangebote
für Kinder undJugendliche im Bereich der digi-
talen Innovation. Organisiert werden etwa Akti-
vitäten und Camps fürTeilnehmende im Alter
von5bis 19 Jahren.
Pädagogische Hochschule Zürich
DiePädagogische Hochschule Zürich (PH Zürich)
ist die grösste Bildungsinstitution für Lehrpersonen
in der Schweiz. Mit ihrenAus- undWeiterbildun-
gen,Forschungsaktivitäten sowie Dienstleistungen
gestaltet sie Bildung, Schule und Unterricht aktiv
mit.Rund 3600 angehende Lehrpersonen studie-
ren an der PH Zürich,jährlich nutzen an die12 000
Teilnehmende dieWeiterbildungsangebote. Die
PH Zürich beschäftigt gegen 600 Dozierende,
wissenschaftliche Mitarbeitende undAssistierende
sowie 230 administrative und technische Mitar-
beitende.
HundrED (Finnland)
Die gemeinnützige Organisation HundrED ent-
deckt, erforscht und teilt inspirierende Bildungs-
innovationen. Ihr Ziel ist es, Bildung zu verbessern
und wertvolle, wirkungsvolle und skalierbare Inno-
vationen zu unterstützen, die weltweit weiterver-
breitet werdenkönnen – stets unter Berücksichti-
gung des jeweiligen Umfelds. Seit 2016 sucht und
selektiert HundrED jährlich 100 inspirierende Bil-
dungsinnovationen. Alle Erkenntnisse und ausge-
wählten Projekte werden dokumentiert,überarbei-
tet und mit Lehrpersonen rund um den Globus ge-
teilt, sodass sie einfach umgesetzt werdenkönnen.