Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von helmut mauró

A


ls vor Kurzem die fabelhaften Jus-
sen-Brüder, das holländische Kla-
vierduo, in einer Talkshow gefragt
wurde, wie sie es als Musiker so weit brin-
gen konnten und welche Rolle die Eltern
dabei spielten, imitierte der jüngere eine
schlagende Handbewegung. Die Ironie
kam bei der Moderatorin nur bruchstück-
haft an, sie verbalisierte die Pantomime so:
Eine gewisse Strenge sei wohl vonnöten.
Die kleine Szene beinhaltet alle wesentli-
chen Missverständnisse im Umgang mit
begabten Kindern. Demnach ist es der
Normalzustand eines Kindes, nichts Neues
lernen zu wollen, schon gar nichts Musika-
lisches. Folglich funktioniert Entwicklung
nur unter Zwang, also mit Gewalt, und sei
sie noch so subtil. Es geht dann mehr um
„Grenzen setzen“ statt darum, die persönli-
che Entfaltung zu unterstützen.
Leopold Mozart, der Vater von Wolfgang
Amadé, dachte anders. Er förderte Sohn
und Tochter nach Kräften, statt auszu-
bremsen. Selten, etwa wenn Wolfgang um
Mitternacht noch immer am Klavier impro-
visierte, schritt er autoritär ein. Im Übri-
gen war er Vorbild und fleißiger Lehrer,
vom Sohn innig geliebt. Es gibt wohl weni-
ge Vater-Sohn-Beziehungen dieser Art, die
zudem einigermaßen gut dokumentiert
sind. Gegenseitige Zuneigung und sogar
Bewunderung bilden hier das Fundament
einer Beziehung, die kaum fruchtbarer hät-
te sein können. Leopold hat die Entwick-
lungsprozesse seines Sohnes genau beob-
achtet und deren Bedingungen reflektiert.


Der Augsburger Buchbinder-Sohn war
belesen und ein glühender Anhänger der
Aufklärung. Die ging einher mit einem neu-
en Denken von Erziehung, Entwicklung,
Charakter- und Geistesbildung. Leopold
Mozart hat sich schon nach der Geburt sei-
ner Tochter intensiv mit Erziehungsfragen
beschäftigt, las den „Traité de l’éducation
des filles“ von François Fénelon, traf den
Arzt Samuel Tissot, der sich mit dem
Nervensystem des kindlichen Genies be-
schäftigte und einen Bericht über Wolf-
gang Amadé verfasste.
Die Musikwissenschaftlerin Silke Leo-
pold verweist in ihrer jüngst erschienenen
Biografie über Leopold Mozart zu Recht
auf Johann Georg Sulzers „Versuch einiger
vernünftiger Gedanken von der Auferzie-
hung und Unterweisung der Kinder“ von
1745 – ein Bestseller seiner Zeit. Bekannt
wurde Sulzer dreißig Jahre später durch
seine „Allgemeine Theorie der Schönen
Künste“. Das hing nun alles zusammen
und bildete noch die Grundlage für die
romantische Theorie. Leopold Mozart, der
spätestens mit seiner Violinschule zum


international beachteten Musiklehrer
avancierte, besaß nicht nur pädagogisches
Geschick, sondern auch ein stets reflek-
tiertes Verantwortungsgefühl.
Zunächst wollte er seine Kinder Wolf-
gang und Nannerl gar nicht selbst unter-
richten, suchte nach einem geeigneten
Lehrer. Doch je mehr ihm das ungeheure
Talent des Sohnes bewusst wurde, fühlte
er sich verpflichtet, es als Gottesgeschenk
anzunehmen und sein eigenes Künstlerle-
ben hintanzustellen. Dass seine Kunst
mehr war als nur alltägliches Handwerk
eines Hofmusikers, interessierte die Nach-
welt kaum. Schon gar nicht, dass er als
Komponist von irgendeiner Bedeutung für
Wolfgang Amadé gewesen sein könnte.
Der Musikologe Laurenz Lütteken hat in
seiner Mozart-Beschreibung von 2017 die
Qualitäten der Symphonien Leopolds gera-
de vor dem Hintergrund der Aufklärung
detailliert gewürdigt. Leopold hatte sich an
einer zwischen Paris und Berlin tobenden
Ästhetikdebatte von Salzburg aus betei-
ligt. Es ging um einen neuen Freiheitsbe-
griff in der Betrachtung der musikalischen
Fantasie. Der Musiktheoretiker Friedrich
Wilhelm Marpurg verstand die französi-
sche Musik als Domestizierung der freien
Fantasie, sein Kollege Agricola verteidigte
die ungebundene Fantasie der Italiener.
Karl Wilhelm Ramler und Moses Mendels-
sohn haben den Diskurs später in eine all-
gemeinere Debatte überführt.
Während man in Paris theoretisierte,
führten in Deutschland die Musiker selbst
das Wort. Leopolds Violinschule, sein Vor-
wort dazu, aber auch seine Kompositionen
durfte man dabei als gezieltes Statement
für dieimaginationals wesentliche schöp-
ferische Kraft verstehen. Nicht die virtuo-
se Nachahmung, sondern die Entwicklung
eigener Vorstellungskraft ist für ihn ent-
scheidend. Natürlich gelten handwerkli-
che Regeln, aber für das Gelingen oder die
Schönheit eines Werkes zähle allein die
Wirkung beim Hörer. Für das künstleri-
sche Bewusstsein des Sohnes wird diese
Einstellung später Folgen haben; Wolf-
gang Amadé ist besonders versiert darin,
die Emotionen des Publikums zu lenken
Davon berichtet er stolz dem Vater. Leo-
pold selber schrieb in diesem Zusammen-
hang vier programmatische Symphonien
mit entsprechenden Titeln.
Die ersten beiden firmieren unter „De
gustibus non est disputandum“, die beiden
übrigen unter „Non è bello quello che è
bello ma quello che piace“ – es gibt nichts
Schönes außer dem, was gefällt. In der Kon-
zertpraxis haben neben dem Trompeten-
konzert allerdings drei andere Sinfonien
Leopolds überlebt: Musikalische Schlitten-
fahrt, Jagdsinfonie, Kindersinfonie – in
deren Gesangseinlage jener Mozartsche
Humor aufblitzt, den man beim Sohn in
Wort und Ton wiederfindet.
Diese Sinfonien werden aber meist in
biedermeierlicher Schlichtheit geboten,
einer Mischung aus Dilettantismus und

Spießertum, die man Leopold stets unter-
stellte. Wolfgang Hildesheimer hat dieses
Bild in seinen sonst anrührenden Mozart-
Meditationen 1977 leider noch einmal ze-
mentiert. Wider besseren Wissens? Leo-
pold Mozart war nicht nur in theologischen
und philosophischen Fragen ein informier-
ter und aufgeklärter Geist, er war auch als
Komponist auf der Höhe der Zeit,vertraut
mit Fux, Marpurg, Scheibe, Rameau und
anderen einflussreichen Musikern und
Theoretikern. Als Komponist war er neben
den Bach-Söhnen und Michael Haydn
wichtigstes Vorbild für Wolfgang Amadé.
Dieter Riesenberger geht in seiner Bio-
grafie so weit zu formulieren, dass der
Komponist Wolfgang Amadé Mozart auf
den Schultern Leopolds stehe. Dabei hat
dieser immer versucht, den Sohn auf die
Musik der anderen aufmerksam zu ma-
chen, hat ihn auch bereits verlorene Techni-
ken studieren lassen, den Kontrapunkt,
den der Sohn bei Padre Martini in Bologna
und in den Noten Johann Sebastian Bachs
lernte. Das Ergebnis? Selten hat ein Sohn
seinen Vater so überstrahlt. Es ist dem früh-
romantischen Idealismus und späteren na-
tionalistischen Übertreibungen zu verdan-
ken, dass die Kluft zwischen Genie und Di-
lettant noch unüberbrückbarer gezeichnet

wurde, als sie natürlicherweise ist. Als sie
zwischen Bach und seinen Söhnen herrsch-
te und erst recht zwischen Wolfgang und
Leopold. Der hat das selbst nicht anders
gesehen. Michael Lemster erzählt in seiner
Clan-Geschichte „Die Mozarts“ von dem
Moment der väterlichen Peripetie, wie sie
vom Trompeter Johann Andreas Schacht-
ner, ein Freund der Familie, überliefert ist.

Demnach kam Leopold eines Tages von
der Kirche nach Hause und fand den Fünf-
jährigen komponierend am Klavier. Er
besah das Notenblatt – darauf ein halb ferti-
ges aber nach allen Regeln der Kunst konzi-
piertes Klavierkonzert – und brach in Trä-
nen aus. Einerlei, ob sich das nun so zugetra-
gen hat – es beschreibt Leopolds Fähigkeit,
aufgeklärten Geist und Gefühlsleben auf
einen Nenner zu bringen. Vielleicht war
genau dies sein pädagogisches Genie. Leo-
pold war selbst begabt und gebildet genug,
um das ungewöhnliche Talent seines Soh-
nes zu erkennen. Das war vielleicht auch
leichter in einer Zeit, in der persönliche Leis-

tung geschätzt wurde, in der nicht Chancen-
gleichheit als Ergebnisgleichheit verstan-
den wurde. Auch damals gab es Neid, und
man kann Leopold nicht nachsagen, er ha-
be das Licht Wolfgangs unter den Scheffel
gestellt, aber die Anerkennung einer außer-
gewöhnlichen Leistung war Gemeinplatz.
Für den Bewunderten galt allerdings
das Bescheidenheitsgebot. Auch dies war
eines der Erziehungsziele Leopolds, wie
man den Mozart’schen Briefen entnehmen
kann. Die sind nach wie vor Hauptquelle
aller Mozart-Erzählungen. Leider sind
zahlreiche Briefe zwischen Leopold und
Wolfgang, offenbar sämtliche der letzten
zehn Lebensjahre, verschollen. Oder ver-
schollen worden, wenn man bedenkt, wie
die Witwe im Nachlass wütete, um für sie
Unvorteilhaftes zu eliminieren.
Silke Leopold spekuliert, das Verschwin-
den der Briefe könne mit den Interessen
der konkurrierenden Nachlassverwal-
terinnen Schwester Nannerl und Witwe
Constanze zusammenhängen. Die Briefe
würden die bis dahin unvorstellbare Ent-
fremdung von Vater und Sohn dokumentie-
ren. Der Verlust dieser Briefe reißt eine
schmerzliche Lücke in den umfangreichen
und bei aller Formalität doch intim
aufschlussreichen Briefwechsel. Vielleicht
wäre daraus ein ähnlich tragischer Bil-
dungsroman erwachsen wie in Hermann
Francks berühmtem „Tagebuch für Hugo“
ein halbes Jahrhundert später.
Aber auch das Vorhandene liefert Auf-
schlussreiches. Selbst dort, wo Leopolds
penible Spießigkeit zutage tritt, erkennt
man wichtigere Dimensionen seines
Verhaltens. Zwar liebte er Ordnung, hatte
Freude am Streben nach einem tugendhaft-
gottgefälligen Leben. Aber auch hier
schaffte er den Spagat, die Vermittlung
äußerer Gegensätze in sich selbst: Aufklä-
rung versus Katholizismus, Künstlertum
versus soziale Pflichten, also letztlich:
seiner Rolle und der seines Sohnes.
Leopolds Verhalten war auch der Situati-
on zwischen Absolutismus und revol-
tierenden Tendenzen der Gesellschaft ge-
schuldet. Er konnte in Salzburg nur eine
gemäßigt moderne Position vertreten. An-
dererseits war Leopold Freimaurer, las und
lebte die Literatur der Aufklärung, genoss
die Konzertreisen mit den Kindern in die
Städte Europas mit Zwischenstopps, etwa
in Frankfurt, wo der Kaiserliche Rat Jo-
hann Kaspar Goethe mit seinem 14-jähri-
gen Sohn Wolfgang ein Konzert besuchte.
Diese unbequemen Fahrten waren auch in-
tensive Bildungsreisen – und frei verwirk-
lichtes Lebensideal.

Michael Lemster:Die Mozarts. Geschichte einer
Familie. Benevento-Verlag, München und Salzburg
2019.383 Seiten, 24 Euro.
Silke Leopold:Leopold Mozart. Metzler Verlag,
Stuttgart 2019. 280 Seiten, 29,99 Euro.
Dieter Riesenberger:Leopold Mozart. Donat Ver-
lag, Bremen 2019. 362 Seiten, 24,80 Euro.


  1. November, Berlin
    Lost incomic translation. Mit Daria
    Bogdanska, Katharina Erben u.a.Litera-
    risches Colloquium, Tel. (030) 816 996 -







      1. November, Cottbus
        Globale Geschichte in lokalen Muse-
        en? Objekte außereuropäischer Prove-
        nienz in Heimat-, Stadt- und Regional-
        museen. Mit Sarah Fründt, Corinna Jun-
        ker u. a.Kontakt: Museumsverband des
        Landes Brandenburg, Tel. (0331) 232











      1. November, Berlin
        Verwalten - verwerten - vernichten.
        Kulturpoetische Formen des Abfalls.
        Mit Jörg Schuster, Moritz Baßler u. a.
        Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kul-
        turforschung, Tel. (030) 20 192 173.









      1. November, Berlin
        Selbstbehältnisse. Orte und Gegen-
        stände der Aufbewahrung von Indivi-
        dualität. Mit Andreas Gehrlach u. a.
        Humboldt-Universität, Tel. (030) 2093 -
        66 267.





  2. November, Potsdam
    Juden im geteilten Deutschland: Ge-
    meinsames - Trennendes - Anekdoti-
    sches. Ein Gespräch zwischen Julius
    Schoeps und Peter Fischer. Kontakt:
    ZZF, Tel. (0331) 28991 - 13.





      1. November, Hamburg
        Dr. Seltsam Oder: Aus den Wolken
        kommt das Glück. Film zwischen Polit-
        Komödie und Gesellschafts-Satire.
        Mit Michael Töteberg, Petra Rauschen-
        bach u. a.CineGraph, Tel. (040) 352 194.





  3. November, München
    Cultural Heritage: On Sharing, Caring
    and Accessing.Mit Antoinette Maget
    Dominicé, Thomas Laely, Malick Ndiaye
    u.a.Center for Advanced Studies, Tel.
    (089) 2880 - 72084.





      1. November, Potsdam
        Von gegenstrebigen Fügungen. Jacob
        Taubes und linke Leser Carl Schmitts.
        Mit Horst Bredekamp, Jan Assmann u. a.
        Einstein Forum, Tel. (0331) 271 78 - 0.









      1. November, Zürich
        Extraterritorial Human Rights Obliga-
        tions in the Age of Reemerging Natio-
        nalism - Are They Really Justified?Mit
        David Cole, Samantha Besson u. a.Uni-
        versität, Tel. (0041) 44 634 53 33.









      1. November, Leipzig
        Neuverräumlichungen und gesell-
        schaftlicher Wandel in der Globalge-
        schichte. Mit Katja Naumann, Antje Diet-
        ze u. a.Universität, Tel. (0341) 97 377 65.









      1. November, Berlin
        Die DDR in der deutschen und europäi-
        schen Zeitgeschichte. Alte und neue
        Wege der Forschung. Mit Katharina
        Hochmuth, Kerstin Brückweh u. a.Insti-
        tut für Zeitgeschichte, Tel. (030) 84 37 05
        -11.






Leopold war begabt und gebildet
genug, um das ungewöhnliche
Talent seines Sohnes zu erkennen

von jan kedves

D


ie Göttin der Weisheit, der Kampf-
kunst und des Handwerks, Athene,
hat sich heute Abend als afro-japa-
nische Karate-Geisha zurechtgemacht.
Toll sieht sie aus mit den blitzenden Sil-
bernadeln, die sie sich oben durch die
schwarz-grünen Haarteile gesteckt hat.
Ihr Plastik-Bustier erinnert an eine Amazo-
nen-Panzerung. So hebt Brittney Denise
Parks, die sich als Musikerin Sudan Archi-
ves nennt, ihre E-Violine an, und wüsste
man nicht, dass sie gerade auf der Bühne
des Berliner Säälchens steht, könnte man
denken, sie fiedele sich vom „Star
Trek“-Holodeck aus in eine Show-Spelun-
ke aus „Blade Runner“ oder ins afro-mythi-
sche „Black Panther“-Reich Wakanda.
Anders gesagt: Der Auftritt von Sudan
Archives am Dienstagabend in Berlin war
eine ausgezeichnete Gelegenheit nachzu-
vollziehen, warum von dem futuristischen
und zugleich archaisch klingenden R’n’B
der 25-jährigen Musikerin aus Cincinnati,
Ohio, gerade sehr viele Menschen begeis-
tert sind – junge und ältere Hipster, Nerds
und Ohrwurmliebhaber der alternativen
Art. Ihre Songs wie „Glorious“ oder „Limit-
less“ sind eingängig, und sie klingen wohl
auch deswegen so erfrischend, weil sie sich
auf keine kulturelle Reinheitsdebatte
einlassen. In der Single „Glorious“ liegt ein
quietschiges Gefiedel, das im Ohr als
„irisch-keltisch“ identifiziert wird, über ei-
nem Monster-Flatter-Bass. Sudan Archi-
ves fiedelt den Song perfekt, auch wenn sie
nie Geigenunterricht hatte.
Die vergangenen Jahre waren ja geprägt
von Diskussionen um kulturelle Aneig-
nung. Die waren politisch wichtig, zeigten
häufig aber auch ein eher beschränktes
Kulturverständnis. Wer darf sich welcher
kultureller Traditionen auf welche Weise
bedienen, oder sollte es besser bleiben
lassen? Wer kann sich musikalisch weiter-
entwickeln, wenn er doch lieber bei dem


bleiben soll, was man ihm ohnehin schon
zuschreibt?
Sudan Archives nimmt sich dagegen,
was sie kriegen kann. Im Sudan war sie nie,
aber wenn sie ihr fantastisches Debütal-
bum „Athena“ (Stones Throw) unter ihrem
Namen Brittney Denise Parks veröffent-
licht hätte, wäre das Säälchen in Berlin nur
halb voll geworden. In Interviews spricht
sie über ihre Faszination für Ethnomusik-
Archive und die Geigenmusiktradition im
Sudan. So erst stößt mancher auf die
superbe Kompilation „Two Niles to Sing a
Melody: The Violins & Synths of Sudan“,
die 2018 erschien und dokumentiert, wie
die Geige im Sudan populär wurde. Ein
Song darauf, „Al Sourah (The Photo)“ von
Mohammed Wardi, klingt, als wären Hip-
Hop-Grooves schon 1970, als es Hip-Hop
noch gar nicht gab, in der Pekingoper ge-
spielt worden.
„Huch, du auch hier?“, sagen also Stile
und Traditionen freundlich zueinander,
wenn Sudan Archives sie mit ihren Saiten
und Bogenhaaren zusammenbindet. Die
Geige ist dabei natürlich nicht einfach ein
Instrument, sondern die Königin der
europäischen Sinfonietradition, oder: das
Instrument des weißen Privilegs. Im
schwarzen R’n’ hat sie allerdings auch eine
Tradition – wenn man an die Siebziger-
jahre zurückdenkt.
Damals wurde der Philly Soul sinfo-
nisch, das Label Philadelphia Internatio-
nal Records hatte sein eigenes Orchester,
MFSB. Das spielte mit „Love Is The Mes-
sage“ die buttrigste aller Disco-Hymnen
ein. Philly Soul war der Sound der Bürger-
rechtsbewegung. Die hatte ja erst ermög-
licht, dass zwei schwarze Männer, Kenneth
Gamble und Leon Huff, überhaupt ihr
eigenes Label betreiben und ein Orchester
unterhalten können. Dass Philly Soul die
akustischen Möglichkeiten der Violine voll
ausschöpfte, kann man allerdings nicht sa-
gen. Die Geige war akustische Aufbettung.
Luxus als Wohlklang.

Bei Sudan Archives dient die Geige nicht
zur opulenten Untermalung, sondern zur
Verinnerlichung, zur Identitätsbestim-
mung. Viele Songs, in denen Sudan Archi-
ves ihr Instrument klopft, zupft, streicht
und sägt und die Spuren dazu durch die
Effektkanäle eines neben ihr aufgestell-
ten, bunt blinkenden Digitalgeräts schickt,
klingen, als würden sie erst durch die
Geige hindurch entstehen. Gesang und
Instrument stehen sich manchmal eher

gegenüber, als allzu sehr miteinander zu
harmonieren. „Black Vivaldi Sonata“ ist we-
der Sonate, noch Vivaldi, noch besonders
schwarz – aber der Sound individueller
schwarzer Selbstfindung.
Siebzig Minuten lang allein auf der
Bühne zu stehen und ein paar Hundert
Fans zu fesseln, ist für Sudan Archives kein
Problem. In manchen Momenten hat sie
sogar den konfrontativen Rap-Swagger –
ein Geigenbogen kann auch ein Schwert

oder ein Pfeil sein, vor allem, wenn mit ei-
nem Mann Schluss gemacht werden muss
(„Coming Up“). So mancher Übergang
zwischen den live erzeugten Glissando-,
Pizzicato- und Säge-Loops und den von
Festplatte zugespielten Rhythmusspuren
könnte eleganter sein. Aber Sudan Archi-
ves geht es nicht um Eleganz, sondern um
die Harmonie gröberer Gegensätze. Das
Publikum ist begeistert. Und bekommt
von ihr zwei Zugaben.

Ein bewegender Bildungsroman


Vordreihundert Jahren wurde Leopold Mozart geboren – Vater, Vorbild und Vertrauter von Wolfgang Amadé. Zwischen


Unterwerfung und Freimaurertum, Aufklärung und Katholizismus schuf er als Pädagoge die Basis für das Genie seines Sohnes


AGENDA


Der Geigenbogen


ist ein Schwert


Pop heißt nehmen, was man kriegen kann: Die


R’n’B-Avantgardistin Sudan Archives in Berlin


Nach den jüngsten Vorwürfen gegen
Regisseur RomanPolanski haben De-
monstrantinnen die Premiere seines
neuen Films „J’accuse“ in einem Kino
in Paris verhindert. Sie blockierten den
Zugang mit Spruchbändern, die Vorfüh-
rung wurde abgesagt. In einem Kino
auf den Champs-Elysées hingegen wur-
de der Film mit Applaus gewürdigt,
Polanski war nach Angaben von Zeugen
anwesend. Zuvor hatte die Schauspiele-
rin Valentine Monnier den Regisseur
beschuldigt, sie 1975 als 18-Jährige
vergewaltigt zu haben. Polanskis An-
walt wies den Vorwurf zurück.dpa

Glenn D. Lowry führt in diesem Jahr die
„Power 100“-Rangliste des Magazins
Art Reviewan, ihm folgt die Künstlerin
Nan Goldin auf dem zweiten Platz. Da-
mit ist New York wieder unangefochte-
ner Hauptspielplatz der zeitgenössi-
schen Kunstszene: Lowry ist Direktor
des Museum of Modern Art, das in die-
sem Herbst nach Renovierung mit neu-
er Hängung wieder eröffnete. Die Foto-
grafin Nan Goldin gilt dagegen nicht als
künstlerisch einflussreich, sondern weil
der von ihr angeführte Protest gegen
die Mäzenaten-Familie Sackler so er-
folgreich war, dass Museen auf Schen-
kungen und Stiftungen verzichteten.
Die Künstlerin Hito Steyerl, auf Rang
vier, ist die erfolgreichste Deutsche auf
der Liste; die Künstlergruppe Ruangru-
pa, mit der Leitung der nächsten Docu-
menta-Ausstellung in Kassel betraut,
rangiert jetzt schon auf Platz 10.lorc

Der britische Historiker Peter Franko-
pan erhält den mit 20 000 Euro dotier-
ten Kalliope-Preis für praxisnahe Migra-
tionsforschung. Der Preis wird alle zwei
Jahre vom Deutschen Auswanderer-
haus Bremerhaven und seiner Stiftung
vergeben. Der in Oxford lehrende Fran-
kopan verbinde „wegweisende global-
historische Erkenntnisse mit dem not-
wendigen Optimismus“, hieß es zur
Begründung. Die Preisverleihung ist am


  1. November in Bremerhaven.kna


Dass seine Kunst mehr war als


alltägliches Handwerk,


interessierte die Nachwelt kaum


Harmonie gröberer Gegensätze: Brittney Denise Parks alias Sudan Archives am Dienstag in Berlin. FOTO: ROLAND OWSNITZKI

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
LITERATUR
Leopold Mozart, geboren am 14. November 1719, war Hofmusiker in Salzburg,
Komponist und ein außergewöhnliches pädagogisches Talent. FOTO: GEMEINFREI
Polanski-Auftritt gestoppt
Kunst-Power-Liste
Preis für Peter Frankopan
KURZ GEMELDET

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