interview annett scheffel
D
ie meisten kennen Julie Delpy,
1969 in Paris geboren, als Schau-
spielerin in dialogreichen Roman-
zen. Aber ihre sechste Regiearbeit ist an-
ders als vorhergehende Delpy-Filme, auch
wenn zunächst alles wie gewohnt beginnt:
Im Zentrum von „My Zoe“ steht eine von
ihr selbst gespielte Genetikerin, die sich
mit ihrem Ex-Mann um das Sorgerecht für
die gemeinsame Tochter streitet. Als die
plötzlich an einer Hirnblutung stirbt, ent-
wickelt sich Delpys Film zum Wissen-
schaftsthriller und zur Science-Fiction-Pa-
rabel: Die verzweifelte Mutter versucht,
die tote Tochter mittels Klontechnik zu-
rückzuholen.
SZ: Ihr Film könnte viele Zuschauer über-
raschen, die Sie nur aus romantischen Be-
ziehungsdramen kennen. War es Ihre Ab-
sicht, einen unerwarteten Film zu ma-
chen, um der Richard-Linklater-Welt zu
entkommen, durch die Sie berühmt wur-
den mit „Before Sunrise“?
Julie Delpy: Ich bin Richard sehr dankbar.
Der Erfolg von „Before Sunrise“ hat mir als
Schauspielerin und als Drehbuchautorin
viel ermöglicht. Aber es hat mich auch ge-
langweilt, immer die gleichen reizenden,
neurotischen Frauenfiguren zu spielen,
die alle von mir wollten. Es ist schwer, die
Leute von etwas anderem zu überzeugen.
Aber ich wollte eine unkonventionelle Ge-
schichte erzählen. Eine leicht verzerrte
Spiegelung unserer Gesellschaft. Ein Blick
in eine potenzielle Zukunft. Etwas Fantasti-
sches, das trotzdem realistisch ist.
Würden Sie sagen, Ihre Hauptfigur ist un-
moralisch?
Man könnte das sagen, ja. Aber es geht mir
dabei um etwas Spezifischeres als das Klo-
nen im Allgemeinen, um die Frage, wie wir
bestimmte Fragen für uns beantworten,
wenn wir uns in einer persönlichen Tragö-
die wiederfinden. Verschiebt sich die Gren-
ze zwischen moralisch und unmoralisch
nicht, wenn es um unser Kind geht? Meine
Figur tut etwas Egoistisches, ja. Aber sie
tut es aus Liebe zu ihrer Tochter.
Ist die Liebe zu einem Kind nicht vielleicht
auch immer ein bisschen egoistisch?
Ich glaube, dass man diese Liebe nicht von
sich selbst trennen kann. Wir lieben ein
Kind, weil es unser Kind ist. Was ich inter-
essant finde, ist, dass ich manchmal das Ge-
fühl habe, das Handeln meiner Figur be-
stürzt auch deswegen so sehr, weil sie eine
Frau ist. Das Publikum scheint es gewohnt
zu sein, dass die männlichen Figuren die
Dinge in die Hand nehmen. Ein besonders
sensibles Thema, weil wir auch über repro-
duktive Selbstbestimmtheit sprechen. Ich
wollte die Entscheidung meiner Figur aber
gar nicht beurteilen. Und auch nicht sagen,
dass ich für das Klonen bin. Es geht darum,
Fragen aufzuwerfen. Wissenschaftliche ge-
nauso wie philosophische.
Was könnte passieren, wenn das Klonen
eines Menschen eines Tages Realität
wird?
Lustig, dass Sie „eines Tages“ sagen. Das
tun viele. Ich habe in den letzten Jahren vie-
le wissenschaftliche Artikel und Magazine
gelesen. Die Klontechnik ist ja schon jetzt
ganz real. Es ist nicht so kompliziert, wie
viele glauben, und es wird nicht mehr lange
dauern, bis das mit Menschen problemlos
funktioniert.Vor der wirklich wichtigen
Frage scheinen alle Angst zu haben: Wie
wollen wir das regulieren? Wer sagt uns
denn, dass Kim Jong-un oder irgendein an-
derer Größenwahnsinniger nicht schon da-
bei ist. Elon Musk etwa. Obwohl, der würde
sich wahrscheinlich einfach selbst klonen.
Was bereitet Ihnen am Klonen am meis-
ten Angst?
Wahrscheinlich das, was viele Leute an der
Vorstellung beunruhigt, dass man einfach
die exakte Kopie eines Menschen anferti-
gen kann. Was macht uns besonders, wenn
wir reproduzierbar werden? Sind wir dann
noch individuell? Haben wir eine Seele?
Wenn Gene so entscheidend sind, was sagt
das über den Einfluss unserer Umgebung
aus?
... und verändert das nicht auch die ganze
Idee der Elternschaft?
Genau. Ich habe von Eltern von adoptier-
ten Kindern gehört, dass es deswegen
schwer für sie war, meinen Film zu schau-
en. Die Vorstellung, dass Kinder immer die
Nachkommen ihrer genetischen Eltern
bleiben, ganz egal, was man tut, ist
schmerzlich für sie.
Die Idee für „My Zoe“ ist schon alt. Sie
ging aus einem Gespräch mit dem Regis-
seur Krzysztof Kieślowski hervor, mit
dem Sie einen Teil seiner „Drei Far-
ben“-Trilogie drehten. Worum ging es da
genau?
Wir haben uns damals zum Beispiel viel
über Schicksal, Handeln und Identität un-
terhalten. Wie kann man gegen Dinge an-
kämpfen, die man nicht steuern kann? All
das, worum es in seiner Filmreihe eben so
ging. Und darüber, wie verrückt Eltern-
schaft ist. Bis ich vor zehn Jahren selbst ei-
nen Sohn bekam, waren das aber nur vage
Konzepte in meinem Kopf. Plötzlich wurde
die Vorstellung, Mutter zu sein, zu einer er-
schreckenden Realität. Erschreckend we-
gen der enormen Angst, die damit einher-
geht. Da ist dieses wunderbare, ganz und
gar außergewöhnliche Wesen, das du
mehr liebst als alles andere. Und du musst
feststellen, wie fragil es ist. Das ist ein Alb-
traum.
Es geht in dem Film um Ihre eigene Angst?
Jedenfalls hat es damit angefangen.
Kieślowski hat immer gesagt, die besten Er-
zählungen seien die, in denen ein Teil eige-
ne Wahrheit steckt. Das gilt auch für ein an-
deres Thema, dass sich durch den Film
zieht: Was macht es mit einem, wenn man
sich plötzlich in einem Sorgerechtsstreit
um ein Kind wiederfindet? Auch das habe
ich selbst erlebt. Und es verdoppelt die
Angst. Weil du über die eine Hälfte des Le-
bens deines Kindes die Kontrolle verlierst.
Und du verpasst diese Hälfte auch. Es ist,
als würde auch das Kind in zwei Teile ge-
schnitten. Du musst dich als Mutter ganz
neu erfinden. Ich habe beim Schreiben des
Drehbuchs viel an Bergmans „Szenen ei-
ner Ehe“ gedacht.
Sie haben sechs Jahre gebraucht, um den
Film zu realisieren. Warum?
Es war schwer, Produzenten von meiner
Idee zu überzeugen. Es ist ein Drahtseil-
akt. Quasi das Gegenteil eines Hollywood-
Films. Eigentlich ist die Geschichte sehr
simpel. Ich wollte aber keinen eindeutigen
Film. Nichts zu Melodramatisches, aber
auch keine silbrig glänzende, kühle Sci-
ence-Fiction. Und ich wollte keine kitschi-
ge Filmmusik, die das Publikum lenkt und
ihm sagt, wann es welche Emotionen zu
fühlen hat. Ich wollte meine Geschichte so
ungekünstelt wie möglich erzählen. Jeder
Zuschauer soll einen anderen Film sehen.
Hatten Sie das Gefühl, dass die schwierige
Finanzierung mit sexistischen Vorbehal-
ten zu tun hatte?
Natürlich ist es für Frauen in der Filmbran-
che immer noch schwieriger, gleichwertig
bezahlt zu werden oder Budgets für Projek-
te zusammenzubekommen. Daran hat
„Me Too“ nichts geändert. Dieses System
des Machtmissbrauchs hat so lange funkti-
oniert. Ich stehe vor der Kamera, seit ich
vierzehn Jahre alt bin. Ich habe viel erlebt
während meiner Karriere. Ich sehe aber
auch, dass sich in dieser Hinsicht gerade in
der jüngeren Generation viel ändert. Die
Leute beginnen langsam zu begreifen, wie
spannend die weibliche Perspektive sein
kann.
Klaus
fritz göttler:Die Geburt des Weih-
nachtsbusiness mit seinem Drum und
Dran aus dem Geist der königlichen Post-
akademie. Der erste Animationsfilm des
Ex-Disney-Zeichners Sergio Pablos,
der versucht, auf Distanz zu bleiben zum
großen Vorbild, die Formen vor allzu per-
fekter Abrundung zu bewahren. Ein ver-
zogener Postlehrling wird auf einen
Selbsterfahrungstrip geschickt, auf die
Insel Smeerensburg, um das Postwesen
auf Trab zu bringen, was ihm gelingt,
über die Kinder. Die Erwachsenen sind
in zwei Streithansl-Lager geteilt, dazu
gibt es historische Bilder, bis zurück zu
den Höhlenmalereien (Netflix, ab 15.11.).
Last Christmas
anke sterneborg:Als Weihnachts-
hasser muss man schon masochistische
Züge haben, um als Elf verkleidet im
Weihnachtsshop zu arbeiten. Es ist na-
türlich nur eine Frage der Zeit, bis die
Zynikerin Kate (Emilia Clarke) nach dem
Vorbild von Dickens’ Scrooge bekehrt
wird. Umspült von George-Michael-
Songs ist das ganz charmant konstru-
iert. Gemessen an der frechen Respektlo-
sigkeit, mit der sichPaul Feigsonst auf
die Seite der Außenseiter schlägt, und an
der Brillanz der Drehbuchautorin Emma
Thompson, ist das Ergebnis aber doch
nur mittelmäßig amüsant.
Le Mans 66 – Gegen jede Chance
fritz göttler:Matt Damon als Car-
roll Shelby, der geniale Ex-Rennfahrer
und Konstrukteur, und Christian Bale
als Ken Miles, Ingenieur und besessener
Rennfahrer. Wie sie sich zusammenta-
ten, um für Henry Ford einen Wagen zu
konstruieren, der die gefürchteten
24 Stunden von Le Mans gewinnen und
die Vorherrschaft des italienischen Auto-
bosses Ferrari beenden könnte, im Jahr
1966.James Mangolderzählt von Stolz
und dem Abwägen von Kompromissen,
von Treue und fiesen Machenschaften,
was spektakulär mit einer Fülle aufre-
gender Figuren beginnt und dann doch
auf ein röhrendes, genregerechtes Bud-
dy Movie zusammenschnurrt.
Morgen sind wir frei
doris kuhn:Hossein Pourseifier-
zählt von der iranischen Revolution.
1979 muss der Schah Iran verlassen, der
Ayatollah Khomeini wird Staatsober-
haupt. Iranische Dissidenten kehren in
die Heimat zurück. Einer von ihnen hat
in der DDR geheiratet, bringt Frau und
Tochter mit nach Teheran. Am Beispiel
dieser Familie sieht man die Verände-
rung der Gesellschaft, von der Freiheit
zur Diktatur der Religion.
My Zoe
doris kuhn:Lauter schlimme Sachen:
Eine Mutter, die ihr Kind besitzergrei-
fend liebt. Eine Trennung, in der die Ehe-
leute dieses Kind instrumentalisieren.
Ein Unfall, der alle Helikoptermütter in
Alarmbereitschaft versetzen wird. Ein
Wissenschaftler, den eine egozentrische
Frau in Frankenstein verwandelt. Und
hinter allem RegisseurinJulie Delpy,
die glaubt, aus ein paar althergebrach-
ten Science-Fiction-Motiven ließe sich
ein seriöser Problemfilm machen.
PJ Harvey – A Dog Called Money
annett scheffel: Fotojournalist
Seamus Murphyhat einen Film über PJ
Harvey gedreht, eine Kreuzung aus
Kunstprojekt, Making-of und Reisetage-
buch der britischen Musikerin, die auf
der Suche nach Inspiration die Krisenge-
biete der Welt durchstreift: Afghanistan,
Kosovo und die Armenviertel von Wa-
shington, D. C. Die Dokumentation ihres
kreativen Prozesses ist faszinierend. Bei
der Beschreibung von Themen wie Ge-
walt und Ungerechtigkeit befördert der
Film aber wenig Wesentliches ans Licht.
Searching Eva
magdalena pulz:Eine postmoderne
Joan of Arc wird sie genannt. Kopf ra-
siert, Achseln und Scham nicht, Model,
Influencerin, Sexarbeiterin, Dichterin,
drogensüchtig, bisexuell. Eva Collé lebt
vor großem Publikum im Internet. So
viel Offenheit ist vielleicht Freiheit, viel-
leicht pathologische Selbstzerstörung.
RegisseurinPia Hellenthallässt Eva in
ihrer Pseudodokumentation Eva sein –
vielleicht zu sehr. So fühlt sich der Film
wie die Inszenierung der Selbstinszenie-
rung an: flach und kompliziert zugleich.
Smuggling Hendrix
ana maria michel:Weil Jimi ist, wie
er ist, rennt er über die Grenze. Der
Hund darf den türkisch besetzten Teil Zy-
perns nun aber nicht mehr verlassen.
Yannis tut alles, um ihn wieder auf die
griechische Seite zu holen. Den Wunsch
des Einzelnen nach ein bisschen Glück
stelltMarios Piperidespolitischen Ab-
surditäten gegenüber, um den Zypern-
konflikt im Kleinen nachzuzeichnen.
Das gelingt mit Humor und Leichtigkeit,
ohne den Ernst der Lage zu verkennen.
Sterne über uns
martina knoben:„Man sieht nix,
oder?“, fragt Melli ihren Sohn, nachdem
sie in ihrer Flugbegleiteruniform ge-
stürzt ist. Ein Satz mit doppelter Bedeu-
tung: Niemand soll sehen, dass die bei-
den obdachlos geworden sind. Sie hau-
sen jetzt im Zelt im Wald an der Kölner
Peripherie. Ben geht weiter zur Schule,
Melli serviert weiter adrett Getränke.
Christina Ebeltzeigt eine Frau unter
Hochdruck, eine Kämpferin, der die Luft
ausgeht. Franziska Hartmann spielt das
großartig. Die Not, der große Bluff, das
ewige Sichabstrampeln, der Film spie-
gelt viel vom heutigen Lebensgefühl.
„Plötzlich wurde
die Vorstellung, Mutter
zu sein, zu einer
erschreckenden Realität.“
Die Starts ab 14. November auf einen
Blick, bewertet von den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.
Bamboo Stories
philipp stadelmaier:Shaheen Dill-
Riazdokumentiert die vielen Facetten
des Geschäftes mit Bambus in Bangla-
desch, seinen Abbau, Transport (in Form
riesiger Flöße über den Fluss) und
Handel. Waldpächter, Holzfäller, Flößer,
Groß- und Einzelhändler begegnen sich
in einer Ökonomie der Armen, in der
immer weniger verdient wird. Schöner
Film über ein Material und die Men-
schen, die von ihm und auf ihm leben.
Bis dann, mein Sohn
anke sterneborg:Der Tod eines Kin-
des, die Schuldgefühle eines anderen
und wie sie über Jahrzehnte hinweg Fa-
milien- und Freundschaftsbeziehungen
belasten. Persönliche Schicksale werden
mit den Stromschnellen des politischen
Wandels in China verknüpft, von der Kul-
turrevolution über die Ein-Kind-Politik
bis zum modernen Wirtschaftsboom. Im
Spannungsfeld zwischen Tradition und
Moderne, großer Stadt im Norden und
Küstenort im Südosten spanntWang
Xiaoshuaidiese epische Erzählung über
einen Bogen von 30 Jahren. Statt sie
linear zu verfolgen, kompiliert er die Tei-
le im Wechsel zwischen den Zeitebenen,
bis sich ein vollständiges Bild ergibt.
Black and Blue
doris kuhn:Eine schwarze Frau wird
nach der Army Polizistin. Sie fährt in
New Orleans mit weißen Cops Streife in
den Slums, in denen sie aufwuchs. Das
nehmen ihr die alten Freunde übel – bis
zu dem Moment, in dem sie Schutz vor ih-
ren Kollegen braucht.Deon Taylorhat
ein Gangsta-Movie gemacht, als wäre
noch das 20. Jahrhundert: Korruption,
Drogen, Rap, Bling. Sehr sympathisch,
aber so nah am Klischee, dass es häufig
die Grenze zur Parodie überschreitet.
Booksmart
martina knoben:Noch eine High-
school-Komödie? Unbedingt, wenn sie
so komisch ist wieOlivia WildesRegie-
debüt. Herrlich die Hauptdarstellerin-
nen Kaitlyn Dever und Beanie Feldstein,
die zwei Streberinnen spielen, die am
letzten Schultag entsetzt feststellen,
dass sie immer nur gebüffelt haben, wäh-
rend die anderen feierten – die Party-
kids aber auf die gleichen Eliteunis ge-
hen wie sie. In einer Nacht wollen sie al-
les nachholen. Die Achterbahnfahrt
kann beginnen.
But Beautiful
anke sterneborg:Klimawandel, Um-
weltzerstörung, Finanzkrise, Bildungs-
misere: Es gibt viele Gründe zur Klage.
Statt wie in seinen früheren Filmen das
schlechte Leben anzuprangern, sucht
der österreichische Dokumentarfilmer
Erwin Wagenhoferjetzt lieber Inspirati-
on fürs gute, nachhaltige Leben, unter
anderem beim Dalai Lama, bei einem ös-
terreichischen Förster, der in seinen Häu-
sern die Kräfte des Waldes nutzt, bei den
Frauen, die im indischen Barefoot Col-
lege lernen, Solaranlagen zu bauen, bei
einem Schweizer Ehepaar, das auf Mal-
lorca verödetes Ackerland aufbereitet.
Ein bunter, etwas beliebig anmutender
Strauß von Ideen, zusammengehalten
von drei jazzig aufspielenden Musikern.
Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
annett scheffel:Eigentlich hatte Pe-
trunya, die Titelheldin inTeona Strugar
MitevskasSatire-Drama über die Rück-
ständigkeit der mazedonischen Gesell-
schaft, nicht mehr im Sinn als das Recht
auf ein bisschen Glück. Stattdessen löst
sie einen handfesten Skandal aus, als sie
beim traditionellen Kreuztauchen das
vom Priester geweihte und Männern vor-
behaltene Kreuz aus dem Fluss fischt.
Bald ist die so lethargische wie trotzige
Antiheldin Mittelpunkt eines absurden,
herrlich überspitzten Kammerspiels, in
dem religiöse Würdenträger, Polizisten,
eine emanzipierte Lokalreporterin und
ein pöbelnder Männermob auftreten.
The Irishman
tobias kniebe:Ein Epos voll gewalti-
ger Wehmut. Robert De Niro ist „The
Irishman“ Frank Sheeran, ein allzeit
loyaler Mafiascherge, der in einen unauf-
lösbaren Machtkampf zwischen seinen
beiden Mentoren gerät, gespielt von Joe
Pesci und Al Pacino als Gewerkschafts-
boss Jimmy Hoffa. Die drei Superschwer-
gewichte jenseits der siebzig tun dank
CGI-Verjüngung alles, um vergessen zu
machen, dass sie vor 15 Jahren noch im
richtigen Alter waren, als der Film ur-
sprünglich gedreht werden sollte. So wie
der alte Killer auf sein Leben zurück-
schaut, blicktMartin Scorsesehier auf
sein Werk zurück, und die späten Er-
kenntnisse, die beide dabei gewinnen,
sind von großer und finaler Wucht (siehe
Feuilleton vom Mittwoch).
Die Kinder der Toten
sofia glasl:Elfriede Jelineks Roman-
ungetüm „Die Kinder der Toten“ galt als
unverfilmbar. Das amerikanische Künst-
lerkollektiv„Nature Theater of Oklaho-
ma“macht daraus nun einen Stumm-
filmtrip in Super-8-Ästhetik. Produziert
hat Ulrich Seidl, der Chronist der öster-
reichischen Provinzhölle. Zu Blasmusik-
trauermärschen wandeln Zombiescha-
ren durch ein steirisches Bergdorf und
erzwingen die Auseinandersetzung mit
der Nazivergangenheit. Ein trashiger
Seelenkarneval zwischen Piefigkeit und
Opfermythos, in dem Realität und Satire
zu einem schaurigen und urkomischen
Horrortrip verschwimmen.
Die Ansage klingt energisch: „Philipp Kra-
mer! ... Ich glaube, wir werden gut mitein-
ander auskommen.“ Den Namen in diesem
Satz kann man als Anrede verstehen, aber
es kann sich auch einer damit vorstellen.
Bei diesem Mann, zu Beginn von „Fremde
Stadt“, 1972, ist beides der Fall. Er steht im
Hotelzimmer vor dem Spiegel, und spricht
mit sich selbst – ein paar Jahre bevor Ro-
bert De Niro solche Spiegelsätze kanonisch
machte fürs junge Kino. Roger Fritz ist der
Mann, der da mit sich spricht, entspannter
als De Niro, ein Bankräuber, der mit seiner
Beute nach München kommt. Natürlich
heißt er gar nicht Philipp Kramer.
„Fremde Stadt“ ist ein wenig bekannter,
verdrängter Film von Rudolf Thome, der
letzte, den er in München drehte, schwarz-
weiß, dann ging er nach Berlin, auch des-
halb, weil die Independent-Finanzierung
in den Siebzigern schwierig wurde. Thome
drehte erst mal weiter schwarz-weiß, einer
der Filme ist nach Goethes Wahlverwandt-
schaften und heißt „Tagebuch“. München
ist seine Stadt geblieben, und in allen späte-
ren Filmen in und ausgehend von Berlin
klingen Echos der Swinging Sixties von
München nach. Die sind besonders leucht-
kräftig im Kultfilm „Rote Sonne“, über ei-
ne Gruppe Frauen, die Männer nach fünf
Tagen Beziehung umbringen, danach sind
Emotionen zu gefährlich. Eine Unbedingt-
heit wie bei Godard, „Le Mépris“ und „Pier-
rot le fou“, nur ohne Capri und Côte d’azur.
Dafür mit Uschi Obermeier. Die Nouvelle
Vague ist ganz nah, aber ein Gefälle bleibt
zwischen München und Paris.
Rudolf Thome ist der Musterknabe des
deutschen Autorenkinos, der Jahrzehnte
Film um Film schuf, alle für seine Geschich-
ten begeistern konnte, Techniker, Stars,
Zuschauer, und es schaffte, sich treu zu
bleiben dabei. Es fing aber gar nicht an als
Autorenkino, sondern als Teamwork. Max
Zihlmann und Klaus Lemke waren immer
mit dabei, als die frühen Thome-Kurzfil-
me entstanden, Jean-Marie Straub lieferte
Filmmaterial für „Jane erschießt John,
weil er sie mit Ann betrügt“, seine Frau
Danièle Huillet montierte, und der Film
lief als Vorfilm zu Straub/Huillets „Chro-
nik der Anna Magdalena Bach“.
„Blicke der Liebe, das zeigt Thome im-
mer wieder, müssen sich nicht treffen“,
schrieb Hans Schifferle mal in der SZ. Die
Anschlüsse sind nie vorhersehbar in die-
sen Filmen. „Beschreibung einer Insel“,
den er mit seiner Frau Cynthia Beatt dreh-
te, zeigt ein Forscherteam auf Ureparapa-
ra. Die Bilder, schrieb Frieda Grafe, „sind
so realistisch wie beim abgefeimtesten
Kommerzkino. Sie sind gefaked, simuliert,
für die Kamera wiederholt. Sie spielen ihre
Unschuld ...“ Im Jahr darauf schuf Thome
noch einen Kult-Film, „Berlin Chamisso-
platz“, ein Kreuzberg-Liebesmusical, aus
der Frühzeit der Wohnungsmisere. Tho-
mes Kino, gern als poetisch, naiv gefeiert,
ist immer politisch. Selbst im idyllischen
„Paradiso“, wo Hanns Zischler zum Sech-
zigsten die sieben Frauen seines Lebens
zusammenschart, ist vom Balkankrieg die
Rede. „Ungeduld ist es, die den Menschen
von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er
sich unglücklich zu finden“ (Goethe). Stel-
len wir uns Rudolf Thome, der am Donners-
tag achtzig wird, als einen glücklichen
Menschen vor. fritz göttler
NEUE FILME (2)
Traum und Albtraum
Schauspielerin und Regisseurin Julie Delpy erzählt in „My Zoe“ vom Versuch, ein Kind zu klonen.
Ein Gespräch über Science-Fiction, Mutterliebe und Frauen in der Filmindustrie
NEUE FILME (1)
Die Blicke der Liebe
Rudolf Thome, der Münchens Kino der Sechziger prägte und sich dann nach Berlin verzog, wird achtzig
Die FilmemacherinJulie
Delpy, 49, wurde als
Schauspielerin in „Homo
Faber“ und „Before Sun-
rise“ berühmt. Sie studier-
te Regie in New York und
inszeniert seit 2007 auch
selbst, zum Beispiel
„Zwei Tage in Paris.“
FOTO: DPA
(^10) FILM Donnerstag, 14. November 2019, Nr. 263 DEFGH
„Jeder Zuschauer soll einen anderen Film sehen.“ Julie Delpy und Sophia Ally in „My Zoe“. FOTO:WARNER
Rudolf Thome, porträtiert von der Regis-
seurinSerpilTurhan. FOTO: VERLEIH