von philipp crone
M
anchmal kann man es ihr anse-
hen. Hannelore Lambauer, 68,
läuft an einem Abend Ende Okto-
ber wie immer durch die Reihen ihres Ge-
schäfts. Eine Frau, so hoch wie fünf Bierkäs-
ten, wie immer im blauen Kittel, wie immer
mit den kurzen dunklen Haaren und wie
immer spricht sie in rausgedrückten
Schnellsätzen. Wie zu der Kundin, die um
kurz vor sieben die Tür langsam öffnet, so
dass die Glöckchen am Rahmen nur einmal
bimmeln. „Paulaner, zehne?“, sägt Lambau-
er knarzend durch den kleinen Raum in
Richtung Tür. Die Antwort der Stammkun-
din: ein Nicken. Lambauer läuft zwischen
den im Raum gestapelten Kästen zum Pau-
laner-Platz, greift die Flaschen raus,
kommt zurück, kassiert.
„Es wird ja immer weniger hier“, sagt die
Frau. Lambauer erzählt, dass sie Ende No-
vember schließt. „Ja, was machen wir denn
dann?“ Lambauer schaut sie an, erst noch
mit ihrem leicht schelmischen Geschäfts-
blick, den Mund minimal zu einem Lächeln
hochgebogen. Dann sinken Blick und
Mundwinkel nach unten. Als ob sie durch
den Giesinger-Kasten vor ihr durchschau-
en würde und die vergangenen 40 Jahre
noch einmal aufscheinen. Die Anfänge mit
ihrem Mann, die Veränderungen nach und
nach, ihr Glockenbachviertel, das vom Ar-
beiter- zum Arbeitgeber-Viertel wurde. Die
Kundin sagt: „So eine Welt“, tritt zurück
auf die dunkle Westermühlstraße und lässt
Lambauer mit ihren letzten Kästen und ei-
nem leisen Bimmeln zurück.
Der nächste Kunde, ein Maler, ganz in
Weiß, kauft drei Augustiner, „Zweineun-
undsiebzig“, Lambauer rechnet alles im
Kopf, die alte wuchtige Casio-Kasse wird
nur an der Schublade bedient. Rucksack
auf, Flaschen rein, Rucksack zu, bimmeln,
Ruhe. So geht das im Minutentakt. Als sie
anfing, blieb die Tür oft lange zu, „da war
das ein Pleiteladen“.
Lambauer war Köchin, als 1980 ein Be-
kannter ihres Mannes von dem Laden er-
fuhr. „Damals gab es Getränkemärkte an je-
der Ecke.“ Sie übernahmen den Laden trotz-
dem, auch ihr Mann war in der Gastrono-
mie, Schichten, immer Schichten, nie da-
heim. Sie wollten feste Arbeitszeiten. Also
verkauften sie Getränke, „es gab damals
auch kaum eine Auswahl, Augustiner, Pau-
laner, Erdinger, Wasser und Limo“. Sie wa-
ren fremd in der Gegend, noch kannte sie
niemand.
„Das erste Jahr war eine Durststrecke.“
Jetzt lacht sie, ein Grinsen. Durststrecke.
Damals, als in München Überkinger noch
ein Synonym für Mineralwasser war. Es
steht auch heute noch bei Lambauer, jetzt
mit schickem Design, „aber weniger Salz“,
deshalb hätten es die Leute früher so gern
im Sommer getrunken. Heute kaufen sie
St. Leonhard oder Adelholzener, die Heil-
wasser. „Mei, des kommt doch aus eigener
Kraft hoch, das Wasser, oder so. Da kann
man sich gesund trinken.“
Lambauer geht in Rente. Aber sie wirkt,
als ob sie nicht weiß, ob sie sich freuen soll.
„Die Stammkunden sind traurig, einer hat
mir sofort einen Blumenstrauß gebracht.“
Stolz und Vorfreude. Das geht auch beides.
Sie will mehr in die Berge, „solange ich
noch laufen kann“, sie wird 69, lebt alleine.
Bimmeln.
Drei Augustiner Hell, ein Edelstoff,
„Dreisiebenundsiebzig“, „machen wir Drei-
achtzig“. Bimmel. Früher gab es fünf Sor-
ten, heute 50. „Die Jugend trinkt Gösser
und Club Mate“, sagt Lambauer, nur Spezi
ist konstant geblieben über 40 Jahre. Und
beim Bier ist es jetzt Lammsbräu, Giesin-
ger und Tegernseer. „Aber aufs Tegernseer
musst du ja manchmal wochenlang war-
ten.“ Das sei beim Augustiner besser, „das
war und ist immer noch führend“.
Lambauer war immer da, jedes Jahr nur
drei oder vier Tage Urlaub, wenn sie mal
länger in die Berge wollte. Das kann sie
jetzt häufiger machen. Gibt es eigentlich ei-
nen Nachfolger? „Nein, es wird renoviert.“
Blick nach unten. Sie hatte am Anfang 30
Quadratmeter Verkaufsraum, später etwas
mehr, da war dann auch mehr Platz für Ge-
schenke an den Wänden. „Manche haben
mir mal was zum Essen mitgebracht“, ande-
re Bilder, Postkarten. Wie München früher
war, „als man noch auf die Tram aufsprin-
gen konnte“. Sie hat das selbst erlebt.
Ein Mann nimmt zehn Spezi in einer
Plastiktüte mit, 70 Cent Trinkgeld. Zehn
Flaschen, das sind keine großen Lasten,
aber für eine WG-Party kaufen die Leute
auch mal zehn Kästen. „Früher hab ich die
Tragerl scho rumgschubst“, sagt Lambau-
er. Und auch deshalb wohl im Winter nicht
gefroren. Denn es gibt keine Heizung.
„Warme Socken, Nierenschützer, Puls-
wärmer und Bergsocken.“ Und im Winter
das Bier schon trinkfertig gekühlt „und
Strom gespart“. Krank war Lambauer
kaum. Sie war einfach immer da, stapelte
lieber als zu reden, trank und trinkt keinen
Alkohol, „lieber Tee“. Eine zierliche Person
in einem kahlen Raum voller schwerer Käs-
ten. Ein Ort, der in diesem Viertel von Jahr
zu Jahr mehr aus der Zeit fiel. Wahrschein-
lich sind deshalb ihre Kunden so unglück-
lich. In einen Beauty-Salon kann man nicht
reingehen und mit drei gekauften Bier und
dem geschenkten seltenen Lächeln der Be-
treiberin wieder rausgehen.
Lambauer wohnt außerhalb der Stadt,
fährt jeden Morgen in ihr Viertel, in ihren
Laden mit den handschriftlich geschriebe-
ne Preiszetteln. Dann bimmelt es den gan-
zen Tag, zwischendrin ist Ruhe, ein biss-
chen so eine Ruhe, wie Lambauer sie in den
Bergen sucht. So vergingen Jahre. Die Leu-
te wollten immer mehr alkoholfreies Bier,
dann kam der Schnappverschluss wieder,
„den es ja ganz früher immer schon gab, als
ich noch Kind war“, aus der Telefonfabrik
ums Eck wurde das Tertianum, eine Luxus-
Seniorenresidenz, aus einem Heizkraft-
werk das The Seven, wo so selten Licht
brennt, aus Glasflaschen wurden Plastikfla-
schen. „Und heute wollen hier natürlich al-
le wieder Glas, wegen der Weichmacher.“
Bimmel, ein abgerissener Mann stellt ei-
ne leere Flasche auf den Tresen. „Nomoi
oans? A warms?“ Er nickt. „Fünfundacht-
zig.“ Sie schaut ihm nach, reibt sich leicht
die Hände. Bimmel.
Starnberg– „Mitdem Begriff Heimat tue
ich mich sehr schwer“, sagt Benjamin Til-
lig. Vielleicht ist er gerade deshalb genau
der Richtige, um für das ehemalige Heimat-
museum der Stadt Starnberg, heute Muse-
um Starnberger See, ein neues Konzept zu
entwickeln. Der gebürtige Leipziger stu-
dierte in Köln und wechselte diesen Som-
mer nach nur einem Jahr am Wilhelm-
Busch-Museum in Wiedensahl bei Hanno-
ver nach Starnberg.
Hatte Tillig bei seinem ersten öffentli-
chen Auftritt in Starnberg mit der Ankündi-
gung, er wolle sich dem Thema „Seeunge-
heuer“ widmen, noch für Irritationen ge-
sorgt, so hat er jetzt mit seiner ersten Aus-
stellung ein deutliches Zeichen gesetzt:
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner
hinterfragt mit seinen Bildern die kulturel-
le Umdeutung seiner Heimat und ihrer Tra-
ditionen zum emotionalen Konsumartikel
bei Konzerten der volkstümlichen Musik
von Hansi Hinterseer und Co. In der Aus-
stellung „Volks Musik“ sind ebenso anrüh-
rende wie erschreckende Porträtfotos von
Fans der Szene zu sehen. Zum Rahmenpro-
gramm gehört ein Abend zum Thema „Hei-
mat“ mit der Kulturwissenschaftlerin Si-
mone Egger, die unter anderem über das
Phänomen Wiesn-Tracht forschte.
Hinter den Kulissen passiert aber be-
reits viel mehr. Man müsse das Museum
ans Hier und Jetzt anbinden, davon ist Til-
lig überzeugt. Tiefgreifende Veränderun-
gen seien dafür notwendig, aber er wolle
bewusst langsam vorgehen. „Was man
jetzt anpackt, muss Hand und Fuß haben“,
betont er. Anders als seine Vorgängerin Si-
bylle Küttner, die sich mit ihren Ideen für
die Umgestaltung der Dauerausstellung
nicht durchsetzen konnte und schließlich
entnervt das Handtuch warf, hat sich Tillig
vom Kulturausschuss des Stadtrats und
der Stadtverwaltung offiziell mit der Ent-
wicklung eines neuen Leitbilds, eines Mu-
seums-, Sammlungspflege- und Vermitt-
lungskonzepts beauftragen lassen.
„Ich trage eine riesige Verantwortung
und ich trage sie gerne“, sagt Tillig. Für das
„Abstauben“ im Museum hat er allerdings
eine ausgesprochen hochkarätige „Putzko-
lonne“ bestellt, wie er es scherzhaft formu-
liert: Die Leiter von namhaften Museums-
einrichtungen und ein Stuttgarter Gestal-
ter beraten ihn im Leitbildprozess zu unter-
schiedlichen Themen. Schon jetzt weiß er,
dass er Geschichte anhand von Exponaten
erzählen will. Eine heute gängige Methode,
die auch im neuen Regensburger Museum
der Bayerischen Geschichte praktiziert
wird. Die Umgestaltung des Museums
wird auch das Thema der nächsten Sonder-
ausstellung sein, für die Tillig noch nie ge-
zeigte Exponate aus dem Depot holen will.
Aber auch das Museumsgebäude selbst
steht im Fokus seiner Aufmerksamkeit:
„Das ist der größte Schatz, den wir hier ha-
ben“, sagt er mit Blick auf die Kombination
aus historischem Gebäude und moderner
Museumsarchitektur.
Im Untergeschoss hat er bereits begon-
nen, die Schönheit des vom Büro Guggen-
bichler & Netzer geplanten Gebäudes wie-
der freizulegen. Die Lösung einiger techni-
scher Probleme will er kurzfristig ange-
hen, ebenso die Brandschutzmaßnahmen
für den Altbau. „Ich bin überzeugt, dass je-
des Museum nur gewinnen kann, wenn es
dem Besucher die Möglichkeit gibt, es sich
auf eigenen Wegen zu erschließen“, sagt er
im Hinblick auf die Umgestaltung der Dau-
erausstellung. Und: „Wenn es nach mir
geht, dann wird es ein Museum, das große
Bögen spannt zwischen Geschichte und Ge-
genwart.“
Es soll also künftig nicht nur um Fische-
rei und Schifffahrt, Tradition und Tracht,
Volkskundliches und Heimatgeschichtli-
ches gehen, nach Tilligs Vorstellungen sol-
len auch zeitgenössische künstlerische Po-
sitionen Platz im Museum haben. Das ist
kein Wunder, denn er hat anders als seine
Vorgängerinnen keinen volkskundlichen
oder historischen Hintergrund. Tillig arbei-
tete nach einem Studium der Medienkunst
und Medienwissenschaft zunächst als
Künstler und bezeichnete sich dann als Ku-
rator.
Den Begriff „Heimat“ sieht Tillig vor al-
lem historisch belastet und heute von Po-
pulisten vereinnahmt. Er selbst assoziiere
damit auch ein Abschließen nach außen. Ei-
ne „ganz seltsame Sehnsucht“ nach Hei-
mat spüre jedoch auch er: „Vielleicht liegt
es daran, dass ich in einem Land aufge-
wachsen bin, das es heute nicht mehr gibt.“
Tillig wurde 1981 in Leipzig geboren und
hat an seine Kindheit in der DDR positive
Erinnerungen. So etwas wie Heimatgefüh-
le spüre er aber auch in Köln und in Mün-
chen, wo er heute lebt. katja sebald
„Ich trage eine riesige Verantwortung, und ich trage sie gerne“, sagt Benjamin
Tillig, Leiterdes Museums Starnberger See. FOTO: GEORGINE TREYBAL
Der Eindruck täuscht, Hannelore Lambauer steht auf den Stufen zu ihrem Büro im Laden, die zierliche Frau ist nur so groß wie fünf aufeinandergestapelte Kästen, die sie
jahrzehntelang „rumgeschubst“ hat. FOTO: STEPHAN RUMPF
Rolf Schimpfwird an diesem Donnerstag
95 Jahre alt, und man darf, ohne despek-
tierlich zu sein, sagen, dass „Der Alte“ alt
geworden ist. Schimpf spielte von 1986 bis
2007 in der ZDF-Krimiserie den Haupt-
kommissar Leo Kress. Als er aufhörte, war
er bereits 82 Jahre alt. In den 222 Folgen, in
denen Kress ermittelte, hatte er die Kolle-
gen Gerd Heymann (gespielt von Michael
Ande), Henry Johnson (Charles M. Huber),
Axel Richter (Pierre Sanoussi-Bliss) und
Werner Riedmann (Markus Böttcher) an
seiner Seite. Schimpf lebt heute in einem
Seniorenheim in München. Seine Frau, die
Schauspielerin Ilse Zielstorff, starb vor
vier Jahren. „Mit 95 ist man kein Mann in
den besten Jahren mehr“, sagte er derBild,
„aber im Hirn bin ich noch ganz fit.“ gfi
Der Gestalter
Der neueLeiter des Museums Starnberger See, Benjamin Tillig, will für das Haus ein Konzept entwickeln, das nicht nur auf Tradition setzt
Ein Ort, der in diesem Viertel
von Jahr zu Jahr
mehr aus der Zeit fiel
Bastion
aus Bierkästen
40 Jahre lang führte Hannelore Lambauer
ihren Getränkemarkt im Glockenbachviertel,
jetzt geht sie in Rente. Über einen besonderen
Blick auf den Wandel der Stadt
Den Begriff „Heimat“ sieht Tillig
historisch belastet und heute
von Populisten vereinnahmt
Schauspieler Rolf Schimpf, bekannt aus
der Krimiserie „Der Alte“, lebt heute in ei-
nem Seniorenheim in München. FOTO: DPA
LEUTE DES TAGES
Früher gabes
fünf Sorten,
heute 50
R6 PFF (^) LEUTE Donnerstag, 14. November 2019, Nr. 263 DEFGH
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