Handelsblatt - 14.11.2019

(Steven Felgate) #1

Walter-Borjans dann von einer „Grundsicherung“


spricht, verbessert ihn Scholz im gleichen Atem-


zug: „Grundrente, nicht Grundsicherung.“ Scholz


lässt Walter-Borjans in diesem Moment wie jeman-


den wirken, der nicht genau weiß, wovon er redet.


Der Vizekanzler muss die Arbeit der Großen Ko-


alition verteidigen, muss auf die Erfolge der SPD


hinweisen. Auch das zählt zu seiner Strategie: Er


will mit Geywitz die SPD-Mitglieder abholen, die


sich eine verlässliche Regierungsarbeit wünschen,


die nicht glauben, dass die Partei gesunden wird,


wenn sie überstürzt die Koalition sprengt. Deshalb


will Scholz Walter-Borjans und Esken bei der Frage


stellen, wie sie es mit der Koalition halten. Jedem


soll klargemacht werden: Wer den früheren NRW-


Finanzminister wählt, der entscheidet sich im


Zweifel für einen chaotischen Regierungsbruch.


Andererseits weiß Scholz auch um die Unbeliebt-


heit des Bündnisses mit der Union. Den Eindruck,


er wolle einfach so weitermachen, muss er zer-


streuen. Wurde er im ersten Jahr als Olaf Schäuble


verspottet, weil er die Politik seines CDU-Vorgän-


gers Wolfgang Schäuble ziemlich nahtlos fortsetzte,


trägt die Politik des Finanzministers nun eine sehr


deutliche sozialdemokratische Handschrift.


Auch auf dem Arbeitgebertag am Dienstagnach-


mittag hält Scholz eine Rede, die wohl eher seiner


Partei als den versammelten Unternehmern gefal-


len soll. Ausgiebig referiert er darüber, was nötig


sei, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Und


dass sich die Notwendigkeit nicht mit dem Wunsch


der Wirtschaft nach Steuersenkungen vertrage. Da


wolle er ihnen keine großen Hoffnungen machen.


Tatsächlich aber hat Scholz im Finanzministerium


längst verschiedene Maßnahmen zur Entlastung


von Unternehmen durchrechnen lassen – doch die


liegen derzeit alle gut gehütet in den Schubladen.


Später mag er diese Pläne einmal gebrauchen,


wenn er SPD-Chef ist und als möglicher Kanzler-


kandidat auch wieder in der Mitte punkten muss.


Doch bis zum SPD-Parteitag Anfang Dezember


heißt es erst einmal: alle Augen nach links. Ent-


sprechend macht der Finanzminister seit Wochen


einen Vorstoß nach dem anderen. Scholz ist bereit,


ein EU-Einlagensicherungssystem aufzubauen, was


vor allem die Europafreunde in der SPD überzeu-


gen soll. Scholz bietet an, dass sich der Bund an ei-


nem milliardenschweren Entschuldungsfonds für


klamme Kommunen beteiligt, was die Bürgermeis-


ter und Lokalpolitiker freuen wird. Und Scholz


trommelt für die Erhöhung des Mindestlohns auf


zwölf Euro sowie für eine Vermögensteuer.


Doch ist das glaubwürdig? Die Chance von Esken


und Walter-Borjans ist es, Zweifel daran zu säen.


Ob er denn verstehen könne, dass viele Menschen


sich fragen würden, ob er als SPD-Vorsitzender


auch das umsetzen würde, was er jetzt ankündige,
etwa bei der Finanztransaktionssteuer, fragt Wal-
ter-Borjans am Dienstagabend. Daran hätten viele
ihre Zweifel. Bislang habe Deutschland in der Euro-
papolitik ja eher „im Bremserhäuschen gesessen“
und Frankreich vorgerechnet, „dass dieses Stück
mehr Gerechtigkeit jetzt leider zu teuer wird“.

Walter-Borjans will Investitionen


Daraufhin wird Scholz noch kämpferischer, seine
Hände fahren von oben nach unten herab, als ob er
mit ihnen die Luft zerschneiden will. Er sei für eine
linke Reformpolitik, das habe er doch deutlich ge-
macht. Auch seien seine Zustimmungswerte und sei-
ne Glaubwürdigkeit laut Umfragen in der Bevölke-
rung sehr hoch. „Willst du also sagen, die Menschen
irren sich?“ Walter-Borjans kontert: Nein, allerdings
könnten sich 30 Prozent der Wähler vorstellen, die
SPD zu wählen, in Umfragen stehe man aber nur bei


  1. „Ich interessiere mich auch für die anderen 16
    Prozent. Was erwarten die von uns, damit wir sie zu-
    rückgewinnen?“ Walter-Borjans’ Subtext: offensicht-
    lich eine andere Politik als die von Scholz.
    Gegen Ende kann Walter-Borjans mehrfach
    punkten. So seien die Investitionen viel zu niedrig,
    sagt er, man brauche 240 Milliarden Euro für Schu-
    len und Straßen, 100 Milliarden für Digitalisierung.
    „Da musst auch du, Olaf, sagen, dass für die Inves-
    titionen im Zweifel auch Schulden gemacht werden
    müssen, sonst schieben wir die materiellen Schul-
    den in die Zukunft. Das müssen wir jetzt durchset-
    zen und nicht erst 2021 ankündigen.“


Kanzler-Duell


Umfrage: Wenn Sie den Bundeskanzler direkt wählen könnten, für wen würden Sie stimmen?


Olaf Scholz (SPD)


34 %


31 %


25 %


13 %


14 %


24 %


Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)


Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU)


Robert Habeck (Grüne)


HANDELSBLATT Stand: 9.11.2019 • Quelle: Forsa


Robert Habeck (Grüne)


Olaf Scholz (SPD)


Sozialpolitik


Neue Zweifel an


der Grundrente


N


ach dem Grundrenten-Kompromiss der
Großen Koalition zeigte sich Sozialminister
Hubertus Heil (SPD) überzeugt, dass die
Aufwertung niedriger Renten zum 1. Januar 2021
starten kann. Die Verwaltung hat allerdings massi-
ve Zweifel am offiziellen Zeitplan. Nach Einschät-
zung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ist
der „relativ kurze Zeitraum“ für die technische Um-
setzung „problematisch“. Zudem könnte sich der
Gesetzgebungsprozess verlängern, weil das Projekt
im Bundesrat zustimmungspflichtig sei. Und bei
der Finanzierung befürchtet die Behörde, dass am
Ende entgegen den Beteuerungen von Union und
SPD doch in die Rentenkasse gegriffen wird.
Der Grundrenten-Kompromiss sieht eine Ein-
kommensprüfung vor, um den Kreis der Empfän-
ger einzuschränken. Der dafür erforderliche Daten-
austausch zwischen Rentenversicherung und
Finanzämtern soll „automatisiert und bürger-
freundlich“ ablaufen, so steht es im Koalitionsbe-
schluss. DRV-Präsidentin Gundula Roßbach gab am
Mittwoch in Würzburg zu bedenken, dass der Auf-
bau vergleichbarer Verfahren in der Vergangenheit
„in der Regel mehrere Jahre gedauert hat“. Die Fi-
nanzverwaltung habe Heils Ministerium bereits
wissen lassen, dass für Planung und Umsetzung
„mindestens zwei Jahre“ anzusetzen seien. Neben
den Finanzämtern müsse auch ein Datenaustausch
mit den Meldebehörden aufgebaut werden, um
Partnereinkommen bei der Prüfung berücksichti-
gen zu können. Schließlich gebe es in der Regel kei-
ne Verknüpfung der Rentenkonten von Ehepart-
nern.
Sollte der Datenaustausch „in dem ambitionier-
ten Zeitplan“ nicht realisiert werden, „gehen wir
von einem Mehrbedarf von mehreren Tausend zu-
sätzlichen Stellen bei der Rentenversicherung aus“,
sagte Roßbach. Selbst mit elektronischen Datenlie-
ferungen stehe die Rentenversicherung vor einem
deutlichen Verwaltungsaufwand. „Alles andere als
trivial“ ist demnach die Prüfung, ob die für die
Grundrente erforderlichen 35 Beitragsjahre er-
reicht werden. Die Rentenversicherung müsse vor
dem Start Anfang 2021 nicht nur die 1,6 Millionen
Neuanträge, sondern den gesamten Bestand von
rund 21 Millionen Rentnern auf mögliche Begüns-
tigte durchleuchten. Die teils sehr alten Versiche-
rungskonten von Bestandsrentnern könnten dabei
nicht alle Informationen zu den Beitragsjahren ent-
halten. „An dieser Stelle wird man unter Umstän-
den über pauschale Regelungen nachdenken müs-
sen“, sagte Roßbach. Die DRV-Präsidentin brachte
angesichts des Verwaltungsaufwands ein ähnliches
Vorgehen wie bei der Einführung der Mütterrente
ins Gespräch: Damals wurden zunächst nur Neu-
rentner bearbeitet, der Bestand erhielt die Leis-
tung erst später rückwirkend ausgezahlt.
Eigentlich wäre für die Abwicklung der Grund-
rente auch ein Datenaustausch mit ausländischen
Behörden nötig, wenn Grundrentenempfänger ih-
ren Wohnsitz außerhalb Deutschlands haben. Ein
automatisches Verfahren sei hier aber „praktisch
ausgeschlossen“. Der Koalitionsbeschluss sieht für
diese Fälle „äquivalente Einkommensnachweise“
vor. Wie genau diese aussehen sollen und welcher
Personalbedarf dadurch bei der Rentenversiche-
rung entsteht, ist unklar.
Zweifel bestehen auch daran, ob die Grundrente
tatsächlich voll aus Steuermitteln finanziert wird.
„Wir sind aus Erfahrung gewarnt“, sagte der Vorsit-
zende des DRV-Bundesvorstands, Alexander Gun-
kel. Die Mütterrente habe die Politik schließlich
auch systemwidrig aus Beitragsgeldern finanziert.
Problematisch im Finanzierungskonzept der Gro-
ßen Koalition sei die Verbindung mit einer Finanz-
transaktionssteuer, deren Einführung noch in den
Sternen steht. „Selbst wenn sie startet, ist fraglich,
ob ausreichend Einnahmen reinkommen, um die
Grundrenten-Ausgaben zu decken“, so Gunkel.
Gregor Waschinski

SPD-Kandidaten
beim Duell:
Stichwahl startet
am 19. November.

HCPlambeck

Wirtschaft & Politik


DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2019, NR. 220


7

Free download pdf