Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
Sandra Louven Madrid

D


er geschäftsführende
spanische Ministerprä-
sident Pedro Sánchez
schont seine potenziel-
len Koalitionspartner
nicht. Die anderen Parteien hätten
keine Projekte, die über zwei Wochen
hinausgehen, ätzte er Ende Oktober.
„Sie konzentrieren sich darauf, zu
verhindern, dass die PSOE regiert.“
Seine sozialistische Partei PSOE ist
für die Parlamentswahlen am Sonn-
tag der erneute Favorit. Sie hatte
schon die Wahlen im vergangenen
April mit 29 Prozent der Stimmen ge-
wonnen. Doch Sánchez konnte sich
mit der linkspopulistischen Unidas
Podemos nicht auf eine Regierungs-
konstellation einigen. Vielleicht woll-
te er es auch gar nicht. Viele Beob-
achter glauben, er habe sich von den
Neuwahlen an diesem Sonntag ein
besseres Ergebnis und damit eine
stärkere Verhandlungsposition ver-
sprochen. Doch damit könnte er sich
gehörig verkalkuliert haben: In den
Umfragen kommt er aktuell nur noch
auf 27 Prozent (siehe Grafik). Dage-
gen erstarken die konservative PP
und die rechtsradikale Vox.
Der 47 Jahre alte gelernte Ökonom
gewinnt Wahlen, aber hat ein großes
Problem. In der stark von den Partei-
chefs dominierten spanischen Politik
hat er keine Brücken zu möglichen
Koalitionspartnern geschlagen. Das
Verhältnis zu Unidas Podemos ist von
tiefem gegenseitigem Misstrauen ge-
prägt. Die traditionelle Kluft zur kon-
servativen Partido Popular (PP) hat
sich zementiert. Eine Große Koalition
hat Sánchez ausgeschlossen.
Das Land droht unregierbar zu
werden. Zum vierten Mal in vier Jah-
ren wählt Spanien. Die Minderheits-
regierungen seit 2015 waren immer
nur von kurzer Dauer. Jahrzehnte-
lang war das Königreich eines der po-
litisch stabilsten Länder Europas: Im
Zweiparteiensystem wechselte sich
die konservative PP mit der sozialisti-
schen PSOE an der Regierung ab.
Reichte das Wahlergebnis nicht für
eine absolute Mehrheit, gaben die ka-
talanischen oder baskischen Separa-
tisten im nationalen Parlament mit
ihren Stimmen den Ausschlag.

Sechs statt zwei Parteien
Doch das Gefüge ist gehörig durchei-
nandergeraten. Statt zwei gibt es in-
zwischen sechs größere Parteien.
Jüngster Zuwachs: „Más País“ des
ehemaligen Podemos-Mitgründers
Íñigo Errejón. Hinzu kommt, dass die
Stimmen der katalanischen Separa-
tisten spätestens seit den brutalen
Straßenprotesten Mitte Oktober als
Königsmacher kaum mehr infrage
kommen. Doch ohne die Stimmen
der Separatisten dürfte sich Sánchez
erneut schwertun, eine Koalitions-
mehrheit zu erreichen.
„Allen ist klar, dass die Parteien sich
dieses Mal auf eine Regierung einigen
müssen“, sagt Gabriel Colomé, Sozio-
loge an der Unabhängigen Universität
Barcelona. Doch eine erneute Minder-
heitsregierung ist auch keine stabile
Lösung. Die letzten beiden Minder-
heitsregierungen scheiterten, weil sie
nicht genügend Stimmen für einen
Haushalt zusammenbekamen.
Die Wirtschaft ist beunruhigt, weil
durch die kurzlebigen Minderheitsre-
gierungen wichtige Reformen auf der
Strecke bleiben. Zudem kühlt sich
die bislang florierende spanische
Wirtschaft ab. Der Verband der Fa-
milienunternehmer forderte die Po-
litik deshalb jüngst auf, Abkommen
für eine stabile Regierung zu schlie-
ßen. Es sei nötig, „die großen The-

men für die Zukunft Spaniens anzu-
gehen wie die Bildung, die Innovati-
on und technologische Entwicklung
oder das Rentensystem“, mahnt Ver-
bandschef Francisco Rivera.
Als Lösung könnte sich abzeichnen,
dass sich die rechtsliberalen Ciudada-
nos und die konservative PP enthalten
könnten, um Sánchez zur Regierung
zu verhelfen – und anschließend punk-
tuell wichtige Reformen zu unterstüt-
zen. Doch gerade in der Wirtschafts-
politik lägen Sozialisten und Konserva-
tive weit auseinander, meint Pablo
Simón, Politologe von der Universität
Carlos III in Madrid. Sánchez steht für
einen Abbau der Ungleichheit, steigen-
de Investitionen in das Bildungssystem
und eine Steuererhöhung für Unter-
nehmen. Casado dagegen verspricht
eine allgemeine Steuersenkung.

Der Katalonieneffekt
Cuidadanos könnten eine Minderheits-
regierung tolerieren, wollen aber auch
keinesfalls Teil einer Koalition mit Sán-
chez sein. Überzeugt davon, dass in
Spanien langfristig kein Platz in der
politischen Mitte ist, hat Albert Rivera
seine zunächst als liberal angetretene
junge Partei nach rechts gerückt und
jegliche Kooperation mit Sánchez ab-
gelehnt. Er hat Sánchez nicht verzie-
hen, dass dieser nach seinem erfolg-
reichen Misstrauensvotum gegen den
konservativen Regierungschef Maria-

no Rajoy 2018 keine Wahl angesetzt,
sondern die Bühne als Regierungschef
für seine Partei genutzt hat. Riveras
Rechtsruck indes hat zu einer tiefen in-
ternen Krise bei Ciudadanos geführt
und die Partei in den Umfragen absa-
cken lassen.
Hingegen haben die Ausschreitun-
gen in Katalonien die konservative
Partido Popular und die rechtsradika-
le Vox in Umfragen gestärkt. Die
meisten Spanier haben kein Ver-
ständnis für die Separatisten und be-
fürworten eine harte Hand, wie sie

die drei rechten Parteien verspre-
chen. Die im April erstmals ins Parla-
ment eingezogene Vox vertritt die
härteste Haltung gegenüber den Se-
paratisten. In Umfragen liegt sie bei
rund 14 Prozent und könnte damit
drittstärkste Kraft werden.
Sánchez dagegen will in Katalonien
ein erneutes Einschreiten des Staats
vermeiden, um die Wut der Unab-
hängigkeitsfanatiker gegen Madrid
nicht weiter anzuheizen. Er hatte das
Misstrauensvotum auch mithilfe der
katalanischen Separatisten gewon-
nen. Im Wettstreit mit den rechten
Herausforderern hat er seine Haltung
gegenüber den Separatisten aber
deutlich verschärft und angekündigt,
jedes Unabhängigkeitsreferendum als
Straftat einzustufen.
Dieser Wandel ist charakteristisch
für seinen Politikstil. „Er ist ein Cha-
mäleon“, sagt der Politologe Pablo Si-
món. „Sein politischer Instinkt sagt
ihm, wo er stehen muss, und da passt
er sich dann sehr gut an.“ Die einen
loben das als Flexibilität, die anderen
kritisieren, Sánchez sei nicht zu trau-
en. Kritiker in der eigenen Partei mo-
nieren, solche Kehrtwenden seien
mit dafür verantwortlich, dass es so
schwer sei, eine Regierungsmehrheit
zu finden. „Seine Politik hat keinen
logischen roten Faden, und seine
Glaubwürdigkeit hat gelitten“, sagt
ein Parteimitglied.

Spanien


Regierungsmehrheit


verzweifelt gesucht


Der Sozialist Pedro Sánchez wollte bei Neuwahlen seinen Vorsprung


ausweiten, doch in den Umfragen legen vor allem Konservative und


Rechtsradikale zu. Das Land droht unregierbar zu werden.


28,

16,

15,

14,





1,

Sozialisten (PSOE)

Konservative (PP)

Cuidadanos (CS)

Podemos (UP)

Más País

Rechtsradikale (Vox)

%

%

%

%

%

27,

2,

9,

12,

3,

13,

% % % % % %

Parlamentswahl in Spanien
Amtliches Ergebnis der
Wahl am 28.4.2019 in Prozent

Wahlumfrage,
Stand 4.11.2019

HANDELSBLATT

1) Durchschnittswerte aller Erhebungen; 2) Wurde erst nach der Wahl gegründet
Quelle: Sociométric

Proteste in Katalonien:
Die jüngsten Aus-
schreitungen in
Barcelona stärken die
rechten Parteien.

dpa

Europa
DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
16
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