Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1

bedingungen ist die Privatisierung von EKO am En-
de aber geglückt“, sagt Unternehmenshistoriker Ni-
colaus. Wichtig dafür war, dass Autohersteller nach
dem Mauerfall Werke in den osteuropäischen Län-
dern aufbauten. „Hier war der Stahl aus Eisenhüt-
tenstadt logistisch in vielen Fällen im Vorteil.“ Heu-
te liegt der Anteil des Umsatzes, der mit der Auto-
branche verdient wird, bei etwa 50 Prozent.
So wie die Konkurrenz steht auch der Standort
in Eisenhüttenstadt vor Herausforderungen: Die
Dekarbonisierung der europäischen Wirtschaft be-
deutet das Ende von Kohle und Hochofen. Es wer-
den Investitionen in Milliardenhöhe fällig, um die
Anlagen auf klimaschonende Produktionsverfah-
ren umzustellen. Der Mutterkonzern Arcelor-Mittal
forscht derzeit an verschiedenen Wegen, das CO 2
aus dem Produktionsprozess zu verbannen. Wel-
ches Verfahren für Eisenhüttenstadt infrage
kommt, wird erst in einigen Jahren festgelegt.


Chemie: Brot, Schönheit, Dreck


Die gelungene Transformation zeigt sich nicht nur
in der Stahlindustrie, sondern auch in der Chemie.
Die Branche spielte eine zentrale Rolle in der DDR



  • das galt für Produkte wie die „Plaste und Elaste“
    ebenso wie für die Beschäftigung. In Hochzeiten ar-
    beiteten in den Chemiezentren 180 000 Menschen.
    „Die Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“,
    so das Motto im Arbeiter-und-Bauern-Staat.
    Nach der Wende stellte sich das als Farce heraus:
    Die Betriebe erwiesen sich als marode, die Kombi-
    nate waren allein nicht überlebensfähig. Bis Ende
    der Neunzigerjahre sank die Zahl der Beschäftigten
    auf 40 000. Dann begann eine bis heute andauern-
    de Erfolgsphase der ostdeutschen Chemie: 2003
    waren bereits wieder 45 000 Menschen beschäf-
    tigt, der Umsatz der Betriebe lag mit zwölf Milliar-
    den Euro wieder auf dem Niveau der Wendezeit.
    Bis 2018 hat die Branche auf einen Umsatz von 26
    Milliarden Euro und 57 000 Beschäftigte zugelegt.
    Der Wandel gelang mit einem Mix aus neuem
    Mittelstand, kapitalstarken Großkonzernen und ge-
    schickter Industriepolitik. Das zeigt sich etwa in
    Bitterfeld, 40 Kilometer von Leipzig entfernt. Im


nördlichen Teil des mitteldeutschen Chemiedrei-
ecks fertigte das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB)
fast den gesamten Bedarf der DDR an Grundchemi-
kalien, Farbstoffen, Pflanzenschutz-
mitteln und Lacken. Der eigentli-
che Superlativ war aber ein
anderer: Die Stadt galt als
dreckigster Ort in Europa.
„Bitterfeld, Bitterfeld,
wo der Dreck vom Him-
mel fällt“, hieß es in
der DDR. Stadt und
Region waren von ei-
ner grünlich-grauen
Patina bedeckt – dank
der Luftverschmutzung
des CKB, aus dessen
Schloten die Abgase der
Braunkohleverfeuerung un-
gefiltert aufstiegen. Bis zu 20
Zentimeter Asche sammelte sich
binnen 20 Jahren in Gärten an. Weil Um-
weltschutz in der DDR kaum eine Rolle spielte, si-
ckerten Quecksilber, Chlorbenzole und der Insek-
tizidwirkstoff DDT ins Erdreich.
Heute präsentiert sich die in Bitterfeld-Wolfen
umbenannte Stadt neu und herausgeputzt, ähnlich
wie der nahe gelegene Chemiepark. Die alten Pro-
duktionsstätten wurden 1990 stillgelegt, das Erd-
reich ausgehoben. Mit der Wende startete dort das
größte Umweltsanierungsprojekt Ostdeutschlands.
Auf dem Gelände der alten Dreckschleuder CKB
ist heute einer der modernsten, verbundenen Pro-
duktionskomplexe verschiedener Chemiehersteller
in Europa beheimatet. 1200 Hektar ist der Chemie-
park groß, 60 produzierende Firmen haben sich
seit der Gründung 1990 angesiedelt, darunter viele
neue, innovative Mittelständler, aber auch interna-
tionale Großkonzerne.
Die niederländische Nouryon (früher Akzo No-
bel) stellt Chlorchemikalien her, die von anderen
Firmen in dem Chemiepark gebraucht werden.
Evonik etwa verarbeitet Chlorstoffe für die Firma
Heraeus weiter, die dort Quarzglas herstellt. Bayer
hat hier 1992 ein neues Werk errichtet, das heute
vor allem rezeptfreie Medikamente wie Aspirin fer-
tigt. Mehr als 100 Milliarden Pillen sind seither von
dem traditionsreichen Chemiestandort ausgeliefert
worden.
Eine ebenso bunte Mischung findet sich 50 Kilo-
meter südlich im Chemiepark Leuna. 10 000 Men-
schen aus französischen, belgischen, amerikani-
schen und deutschen Firmen arbeiten dort zusam-
men. „Es wird so viel investiert wie seit der
Privatisierung nicht mehr“, sagt Christof Günther,
Chef des Betreibers Infra Leuna. Dort, wo der VEB
Leuna-Werke Walter Ulbricht einst Petrochemika-
lien und Kraftstoffe herstellte, soll ein europäisches
Zentrum für Wasserstoff-Verflüssigung entstehen.
Als Vorzeigestandort rühmt sich auch das Werk
von BASF in Schwarzheide, 50 Kilometer nördlich
von Dresden. In der Lausitz wurden zu DDR-Zeiten
im VEB Synthesewerk Kraftstoffe und Unkrautver-
nichter hergestellt. BASF produziert dort Lacke,
Pflanzenschutzmittel und Schaumstoffe. Jürgen

Fuchs, Chef von BASF Schwarzheide, ist stolz: Der
Standort gilt als Vorreiter in der digitalen Transfor-
mation, er soll zum ersten komplett digitalisierten
Produktionskomplex der gesamten BASF-Gruppe
werden.

Braunkohle: Die nächste Wende
Die Region um Schwarzheide wurde nach der Wen-
de als Industriewüste oder Mondlandschaft be-
schrieben. Die Lausitz war durchlöchert vom
Braunkohle-Tagebau. 30 Jahre später sind viele
Gruben zu Seen geworden, abgebaggerte Fläche
wird wieder von der Landwirtschaft genutzt. Der
einstige Energiemotor der DDR steht vor dem Still-
stand. Mit dem Kohleausstieg endet in der Lausitz
eine Ära. Der Zerfall begann mit der Wende.
Als die DDR nach dem Krieg von den Steinkohle-
vorräten Westdeutschlands abgeschnitten war,
wurden die Kumpel zu sozialistischen Helden. Zwei
Drittel der Energie lieferten die Tagebaubetriebe in
Mittel- und Ostdeutschland. Zwischen 90 000 und
100 000 Menschen fanden hier Arbeit. Aber mit
dem Zusammenbruch der DDR fehlten die Haupt-
abnehmer für die Kohle. Dazu kam die Konkurrenz
aus Westdeutschland. Tagebau um Tagebau wurde
stillgelegt. Aus den Betrieben wurde 1990 die Lau-
sitzer Braunkohle AG, die Kraftwerke gingen als
Verbundunternehmen Vereinigte Energiewerke AG
an die Treuhand. Beide wurden erst an westdeut-
sche Konkurrenz und 2002 an den schwedischen
Energiekonzern Vattenfall verkauft.
14 Jahre später ist der ehemalige DDR-Betrieb in
den Händen tschechischer Investoren. Die Zahl der
Beschäftigten ist massiv geschrumpft – auf nun-
mehr knapp über 10 000. Wurden vor der Wende
noch rund 300 Millionen Tonnen Braunkohle pro
Jahr gefördert, waren es 2018 noch 78 Millionen
Tonnen. Der Kohleausstieg mag das Ende der
Braunkohle-Ära in den Ländern der ehemaligen
DDR sein. Auflösen wollen sich die Braunkohle-Un-
ternehmen deswegen aber nicht.
„Wir arbeiten intensiv an einem Unternehmen
mit Zukunft und sind keine Abwicklungsgesell-
schaft“, sagt Leag-Chef Helmar Rendez. In Schwar-
ze Pumpe macht das Braunkohlunternehmen ei-
nen ersten Schritt für die Zeit nach der Kohle. Dort
entsteht gerade der größte Stromspeicher Europas.
In 13 Containern neben dem Kraftwerk sollen Lithi-
um-Ionen-Batterien eine Kapazität von 50 Mega-
wattstunden halten und bis zu 15 000 Haushalte
mit Strom versorgen können. Gleichzeitig beschäf-
tige man sich mit Wärmeversorgung, Digitalisie-
rung und virtuellen Kraftwerken.
Auch die Mibrag sieht ihr Schicksal mit dem En-
de der Kohleförderung noch lange nicht besiegelt.
Armin Eichholz, Chef des mitteldeutschen Braun-
kohleförderers, sucht nach neuen Geschäftsfel-
dern. Rund um die Kraftwerke in Deuben und
Wählitz will der ehemalige RWE-Manager Industrie
und Gewerbe ansiedeln. Außerdem investiert die
Mibrag in Windräder und Solarparks.
Aus den alten Kohlekonzernen sollen also mo-
derne Energiekonzerne werden. Es wäre zumin-
dest nicht der erste Wandel, den die ehemaligen
Ostunternehmen überstehen.

Volkseigene
Betriebe

8


TAUSEND
Betriebe und Kombinate gingen
nach dem Mauerfall in die
Verwaltung der Treuhand über.

Quelle: Schätzung

Destillationsanlage
von Total heute:
In Leuna ist die
Wende geglückt.

Bilfinger

Blühende Branche
Die chemisch-pharmazeutische Industrie in den sechs ostdeutschen Bundesländern
Umsatz in Mrd. Euro Beschäftigte

56 900 Beschäftigte

26,0
Mrd. €

HANDELSBLATT

1989 2018
Quellen: Statistische Landesämter/Bundesamt, VCI (z.T. eigene Schätzung)

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DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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