Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
2012 2014 2016 2018


  1. November 2019
    Christine Lagarde löst Draghi
    ab und wird die erste Frau an
    der Spitze der EZB.

  2. Juni 2014
    Die EZB berechnet Geschäfts-
    banken erstmals einen Negativzins
    von 0,1%.

  3. Juli 2012
    Draghi sagt in London, er werde den
    Euro um jeden Preis verteidigen –
    »whatever it takes«.

  4. März 2016
    Die EZB entscheidet, ihre Anleihenkäufe auf
    monatlich 80 Milliarden Euro auszuweiten
    und den »Strafzins« auf 0,4 % zu erhöhen.


0,0 %



  • 0,4 %

    • 0,5 %




Im Minus


Der Einlagenzins der EZB
wird Geschäftsbanken für
die Anlage überschüssiger
Gelder berechnet.


A


ls Sparen noch einfach schien,
war Simon Stark 15 Jahre alt und
die SPD stärkste Partei im Land.
Seine Ferien verbrachte er mit
dem Zählen von Schrauben, als Inventur-
aushilfe im Maschinenbau. Und während
seine Freunde ihr Geld für Partys und Ur-
laube verprassten, legte es der stille Junge
aus dem mittelhessischen Breidenstein lie-
ber auf ein Jugendkonto bei der örtlichen
Bank. Ein Prozent Zinsen gab es dafür, mit
Zuwachsgarantie: Weil Stark regelmäßig
einzahlte, waren es im nächsten Jahr zwei
Prozent, dann drei, dann vier, irgendwann
über zehn. Geld auf eine Bank zu bringen
und beim Vermehren zuzuschauen war
einfach, »das konnte eigentlich jeder«.
Heute ist Stark 29 Jahre alt, verheirateter
Vater und das Sparen eine Qual.
Die Bankfiliale, zu der er am Weltspar-
tag früher regelmäßig seine Spardose trug,
gibt es nicht mehr. Sein Geld vermehrt sich
nur noch, weil Stark es auf gleich mehrere
Anlageformen und Konten verteilt hat.
Wer heute Geld anlegen will, sagt Stark,
müsse Zeit haben »und einen verdammt
guten Plan«.
Der deutsche Sparer im Jahr 2019 ist
ein armes Schwein. In den vergangenen
Monaten haben die Sparkassen Zehntau-
sende Sparverträge gekündigt. Die Lebens-
versicherungen werfen kaum noch etwas
ab. Die traditionelle Altersversorge ist
bedroht. Nach fast zehn Jahren extrem
niedriger Zinsen geht es für viele ernsthaft
um ihre Zukunft.
Schlimme Zeiten. Oder?


»Jeder, der investiert, hat von den Nied-
rigzinsen profitiert. 15 Millionen Europäer
haben ihren Job dank niedriger Zinsen«,
sagt Davide Serra. »Nur für Sparer, die
viel Geld in einer Bank geparkt haben, ist
die Sache schlecht.« Serra ist Chef einer
Investmentfirma namens Algebris mit Sitz
in London und Mailand. Im vergangenen
Jahrzehnt haben Serras Leute, die zwölf
Milliarden Euro managen, im Schnitt jedes
Jahr neun Prozent Rendite erwirtschaftet.
Trotzdem hat Serra im vorigen Jahr
einen 100 Millionen Euro schweren »Welt-
untergangs-Fonds« aufgelegt, mit extra -
sicheren Anlagen, falls die Wirtschaft so
richtig in die Binsen geht. Man wisse ja nie
in diesen Tagen, sagt Serra. In der heutigen
Lage müsse man sich eine Strategie zurecht-
legen, »mit der wir auch dann Geld verdie-
nen, wenn etwas gründlich schiefgeht«.
Die einen verdienen immer mehr, die an-
deren kämpfen um jeden Euro, das klingt
vertraut. Banker und Finanzprofis spielen
das System perfekt, die Bürger bleiben auf
der Strecke. Und doch ist heute alles anders.
Seit bald einem Jahrzehnt stehen die Zinsen
in Europa und den meisten anderen Indus-
trienationen nahe null, überfluten die Zen-
tralbanken die Wirtschaft mit Geld.
All das sollte eigentlich nur eine Phase
sein, eine Übergangszeit, solange die Welt
eben braucht, um die Folgen der großen
Finanzkrise von 2008 abzuschütteln.
Krisenmanagement, Notfallplan, Aus -
nahmesituation, das waren die Wörter, die
Politiker und Finanzexperten wählten,
und es sollte heißen: Das geht vorbei, und

damit auch die unerwünschten Nebenwir-
kungen.
Seit dem Untergang von Lehman
Brothers, dem Höhepunkt der Finanz -
krise, ist ein Jahrzehnt vergangen. Nur
eine Phase?
Die Ökonomen sprechen schon vom
»New Normal«, und diese neue Normalität
wird bleiben, da sind sich die Experten
einig, mindestens noch ein Jahrzehnt oder
länger, die Industriestaaten sind längst
abhängig vom billigen Geld. Würde man
es ihnen wegnehmen, wäre es wie ein kal-
ter, knallharter Entzug für einen Junkie,
der erst einmal übel durchgeschüttelt wird,
bevor es ihm wieder besser geht. Wenn
überhaupt.
Die neue Normalität wird geprägt von
lauter komplizierten Begriffen, Liquiditäts-
falle, Schuldenüberhang, Negativzinsen,
Kapitalüberschuss. Und die erste Reaktion
ist, sich erst einmal wegzuducken und zu
sagen: Was hat das mit mir zu tun, lass das
die Experten diskutieren. Nur prägt die
neue Finanzwelt unser Leben stärker als
die nächste Dummheit von Trump oder
der nächste Regierungswechsel. Sie be-
stimmt nicht nur, wie viel Geld sich auf
dem Konto sammelt, sondern auch, wel-
chen Unternehmen es gut geht, wie viel
Rente es gibt, wie viele Menschen arbeits-
los sind, was die Butter kostet.
Es ist also dringend Zeit, sich damit zu
befassen, was diese neue Normalität ei-
gentlich bedeutet und ob sie, wie vor allem
viele Deutsche meinen, ein Albtraum ist,
ein Fluch des billigen Geldes.

13

Titel

Der normale Wahnsinn


FinanzenSeit bald einem Jahrzehnt verharren die Zinsen auf historisch
niedrigem Niveau, alte Gewissheiten gelten nichts mehr. Wer Schulden macht, ist clever.

Die Sparer sind heute die Dummen. Wie lange kann das noch gut gehen?

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