Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1
Der Befund ist ambivalent. Jedem deut-
schen Sparer seien seit 2010 im Schnitt
4300 Euro Zinsen entgangen, hat eine
Bank ausgerechnet, und es klingt erst ein-
mal furchtbar. Andererseits ist die Arbeits-
losigkeit so niedrig wie selten zuvor. Die
deutschen Banken kriseln. Andererseits
kommen Start-ups und junge Unterneh-
men so leicht an Geld wie nie zuvor.
Es gibt keine eindeutigen Antworten.
Klar ist nur, dass nichts klar ist. Alte Regeln
gelten nicht mehr, und lange erprobte Re-
zepte sind plötzlich falsch. Die Experten
sind verwirrt. Niedrige Zinsen bedeuten
eigentlich: Die Wirtschaft beginnt rasant
zu wachsen. Aber das passiert nicht, sie
dümpelt nur vor sich hin. Wenn wahnsin-
nig viel Geld im Umlauf war, stiegen frü-
her die Preise immer rapide. Aber das pas-
siert nicht, die Inflation liegt weit unter
dem langjährigen Durchschnitt.
Trotzdem warnen die einen: Am Ende
wird die Geldschwemme zwangsweise
doch noch zu hoher Inflation führen, all
das Ersparte also entwertet werden. Eine

schleichende Enteignung, vor allem für die
ohnehin strapazierte Mittelschicht. Seht
doch, was zu Beginn der Siebzigerjahre in
den USA passiert ist, als der Präsident die
Preise einfrieren musste, so schnell wurde
alles immer teurer. Ganz zu schweigen von
der deutschen Hyperinflation der frühen
Zwanzigerjahre.
Die anderen dagegen fürchten: In diesen
Zeiten ist Inflation gar nicht mehr das Pro-
blem, sondern Deflation, also dass die Prei-
se fallen, statt zu steigen. Eine hochgefähr-
liche Spirale, Unternehmen produzieren
dann immer weniger, stellen keine Arbeits-
kräfte mehr ein, die Wirtschaft schrumpft,
ein Teufelskreis. Schaut doch, was in Japan
passiert ist, deswegen haben sie dort doch
überhaupt angefangen mit den niedrigen
Zinsen und der Geldschwemme.
Die einen sagen: Die Welt spart zu viel,
hortet das Geld, deswegen fliegt alles
durcheinander. Die anderen sagen, genau
andersrum: Wir sparen nicht genug, die
Schulden sind zu hoch, das macht die Wirt-
schaft kaputt.

Was denn nun?
Und führt diese neue Normalität
zwangsweise zu neuen Ungerechtigkeiten?
Weil etwa die Alten längst ihre Schäfchen
im Trockenen haben, die Jungen aber sich
weder ein besseres Leben ersparen noch
ein Haus leisten können? Haben es die
Deutschen wirklich schwerer als andere,
und wenn ja, warum unternimmt die Poli-
tik nichts?
Ein SPIEGEL-Team ist diesen Fragen
über Wochen nachgegangen, in Berlin und
London, in Tokio, New York, Frankfurt
am Main und Mailand, aber auch in Mül-
heim, Dietzhölztal und Gütersloh. Am
Ende steht ein klarer Befund: Weltwirt-
schaft und Welt finanzsystem sind dabei,
sich grundlegend zu verändern. Und die
Deutschen sind nicht vorbereitet.

Dietzhölztal, Mülheim:Die Starks
kämpfen für ihre Altersvorsorge. Die
Spar kassen schmeißen ihre Kunden raus.
Die Deutschen sparen immer mehr und
werden trotzdem nicht wohlhabender.

Zu Beginn ein Rechenexempel. Angenom-
men, ein 35-Jähriger möchte mit 65 Jahren
in den Ruhestand gehen und zusätzlich
zur Rente jeden Monat 500 Euro mehr
zur Verfügung haben. Wie viel muss er
sparen? Bei einem Zinssatz von 4,5 Pro-
zent hätte er dafür jeden Monat 242 Euro
zurücklegen müssen. Und wie viel wären
es bei einem heute höchstens zu erwarten-
den durchschnittlichen Zinssatz von 0,
Prozent? 780 Euro.
Es reicht also nicht mehr, sparsam zu
sein. Es braucht Kreativität.
Wenn Simon Stark über die Spartricks
seiner Familie spricht, erzählt er keine
Anekdoten, er hält Vorträge wie ein Steu-
erberater. Er besitzt mittlerweile mehrere
Tagesgeldkonten und Bausparverträge,
verteilt seine Investitionen, demnächst will
er mit Aktien handeln. Die Familie legt
monatlich 1500 Euro beiseite; die Niedrig-
zinsen sollen ihr nicht gefährlich werden.
Bis vor Kurzem betrieb Stark einen Rat-
geberblog für Finanztipps, auf dem Auto-
renporträt trägt er eine Fuchsmaske aus
Karton: »Der Sparfuchs«, mit Hemd und
Krawatte. Stark will nicht jammern, er will
dagegenhalten.
Auf seinem Wohnzimmerboden rollt
Stark die großflächige Zeichnung seines
Architekten aus, er ist stolz. Die Familie
hat den Bau ihres Eigenheims um zwei
Jahre vorgezogen, demnächst bauen die
Starks ein Haus im Nachbardorf, zweistö-
ckig, mit Doppelgarage und Vordach -
terrasse. Auf der Suche nach der passen-
den Finanzierung wurde die Familie vom
Opfer der Niedrigzinspolitik zum Profi-
teur. Dreimal ließ sich Simon Stark im ver-
gangenen Jahr Kreditangebote zuschi-
cken – dreimal sanken die Zinsen, die die

14 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

DIETMAR KATZ / STAATSBIBLIOTHEK ZU BERLIN / BPK


Werbeposter, 1939: Deutsche Spezialdisziplin
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