Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

tenfonds, der größte der Welt, im vierten
Quartal einen Verlust von 136 Milliarden
Dollar eingefahren. Doppelt so viel wie
das Bruttoinlandsprodukt Luxemburgs.
Nach langen Jahren ohne Zinsen können
nicht nur Lebensversicherungen kaum
noch Ausschüttungen für neue Verträge ga-
rantieren. Die Pensionsfonds, die ihr Geld
auch anlegen müssen, sind das größere Pro-
blem.
»Die Ära der Rente ab 70 wird früher
oder später kommen«, sagt etwa Katsuhi-
de Tanaka, der Präsident des Versiche-
rungsriesen Taiyo Life. Die japanische Re-
gierung denkt bereits über 75 nach. Es ist
nicht die japanische Art, dass deswegen
nun ein Aufschrei durchs Land gehen wür-
de, begleitet von Demonstrationen und
Protesten. Zumal viele Japaner nach der
ersten Pensionierung ohnehin noch eine
zweite, manchmal dritte Karriere angehen.
Marumono hat noch lange eine Tochter-
abteilung einer anderen Großbank geleitet
und arbeitet heute ehrenamtlich für eine
große Behindertenvereinigung.
Aber die Unruhe im Land ist zu spüren.
»Wir waren es gewohnt, uns in der Pensio-
nierung gut abgesichert zu fühlen«, sagt
Marumono. Für seine Generation sei noch
alles gut, aber für seine Kinder? »Vielleicht
geht alles gut, aber es sieht so aus, als wür-
de die Rentenversicherung viel teuer wer-
den und die Auszahlung runtergehen und
dann weniger Geld zum Leben da sein.«
Japan und Deutschland sind sich in vie-
lem ähnlich: ähnliche Geburtenrate, ähn-
liche Wirtschaftsleistung, ähnliche Bevöl-
kerungsstruktur, beide Länder wurden
nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufge-
baut.


Japan steckt allerdings seit über 25 Jah-
ren mehr oder minder in einer Krise. Die
Wirtschaft wächst kaum oder schrumpft,
die Löhne stagnieren, teils fielen sogar die
Preise auf breiter Front. Premierminister
Shinzō Abe wurde 2012 ins Amt gewählt,
weil er ein klares Rezept gegen die Dauer-
misere versprach: niedrige Zinsen und
massive Anleihenkäufe. Eine Nullzinsära
als Retterin der Wirtschaft.
Seither geht es Japan langsam besser,
zwischenzeitlich legte die Wirtschaft sogar
etwas kräftiger zu. 2017 wurde Abe mit ei-
ner Zweidrittelmehrheit wiedergewählt,
weil er den Japanern versprach, genauso
weiterzumachen: keine Zinsen und das
Land mit Geld überfluten, genauso wie
die EZB.
Doch der große Aufschwung bleibt aus,
ebenso wie grundlegende Strukturrefor-
men. Die japanische Zentralbank macht
die Arbeit weitgehend allein.
Alles fühlt sich nach Stillstand an. Japan
kämpft seit bald 20 Jahren mit Deflation.
Wenn Waren morgen billiger sind als heu-
te und das Geld damit mehr wert, dann
hemmt das den Konsum, die Menschen
sparen lieber, und Unternehmen investie-
ren weniger. Das kann eine Volkswirt-
schaft auf lange Zeit ruinieren. Deswegen
sagen viele Ökonomen und Wirtschafts-
politiker in Europa und den USA: bloß
nicht werden wie Japan. Wer einmal in ei-
ner »deflationären Mentalität« stecke, wie
die Experten sagen, komme da kaum noch
raus.
Die Marumonos sorgen sich, ob ihre
Kinder ein ähnlich gutes Leben haben kön-
nen wie sie selbst. Ihr Sohn lebt in Yoko-
hama, ihre Tochter in Düsseldorf, deswe-

gen interessieren sie sich sehr, ob es in
Deutschland besser läuft. Auch die Maru-
monos sind klassische Sparer, ihr Geld, sa-
gen sie, liege vor allem bei Banken, »mit
Aktien ist es kompliziert«.
Die Marumonos helfen ihren Kindern,
wo es geht. »Für sie wird es fast unmöglich
sein, im Alter genauso gut abgesichert zu
sein wie wir«, sagt Masamao Marumono.
»Als ich angefangen habe zu arbeiten,
konnte ich einfach Geld zur Seite legen,
und es wurde immer mehr. Meine Kinder
müssen andere Wege finden, sich viel stär-
ker selber kümmern.« Sich nicht auf den
Staat verlassen.

Gütersloh: Der Finanzchef eines Welt -
konzerns weiß nicht, wohin mit seinem
Geld. Für Mittelständler wird es schwer.

In letzter Zeit fühlt sich Bernd Hirsch re-
gelmäßig, als wäre er im Wilden Westen.
Zu verrückt ist einfach, was die neue Zins-
welt mit Unternehmen macht. Hirsch, 49,
ist Finanzvorstand bei Bertelsmann, dem
größten europäischen Medienkonzern, zu
dem etwa RTL und zahlreiche Buchverla-
ge gehören*. Dort regierte mal der extra-
vagante Thomas Middelhoff, der aus dem
traditionsreichen Haus einen Star der New
Economy machen wollte. Doch das ist lan-
ge her. Heute ist der Konzern eher ein kon-
servatives Familienunternehmen, Milliar-
den schwer und weltweit verzweigt, aber
vorsichtig geführt und finanziert.
Seit einiger Zeit aber ist für Hirsch die
geordnete Welt rund um Gütersloh aus
den Fugen geraten. Eine Grundregel für
Unternehmen lautete, dass Unternehmen
Zinsen und Dividenden zahlen müssen,
um von Banken oder Anleihegläubigern
und Aktionären Geld zu bekommen. Und
Investitionen mussten eine Rendite erwirt-
schaften, die höher ist als diese Kosten des
Kapitals, das man dafür aufbringen muss.
Bertelsmann beispielsweise kalkuliere
noch immer so, sagt Hirsch, als würde Ka-
pital acht Prozent kosten, als müsste also
jede Investition auch mindestens acht Pro-
zent Rendite einbringen. Man sei da eben
diszipliniert.
In Wahrheit aber kostet Kapital heute
praktisch nichts mehr, viele Konzerne kön-
nen sich Geld zum Nulltarif leihen.
Das ist inzwischen vor allem bei Firmen-
übernahmen deutlich zu spüren. Wenn
Geld so billig ist, kann man eben ordent-
lich einkaufen gehen. Nur verhalten sich
Unternehmen dann nicht anders als der
normale Konsument. Wer gerade zu viel
Geld in der Tasche hat, kauft auch mal un-
nötigen Quatsch. Denn bei Nullzinsen
müssen Investitionen kaum noch Gewinn
abwerfen. Unternehmen stecken also wo-

* Bertelsmann hält über seine Tochter Gruner + Jahr
eine Minderheitsbeteiligung am SPIEGEL-Verlag.

20 DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019

Titel

KENTARO TAKAHASHI / DER SPIEGEL
Ehepaar Marumono: »Meine Kinder müssen andere Wege finden«
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