Der Spiegel - 09.11.2019

(Jacob Rumans) #1

In der CSU-Spitze gibt es allerdings weni-
ge, die Merz als geeigneten Kanzlerkandi-
daten ansehen. Seine Attacken auf Merkel
und Kramp-Karrenbauer werden als Beleg
dafür gesehen, dass er sich nicht im Griff
hat. Am Rande einer Veranstaltung sagte
ein hochrangiger CSU-Politiker, auf Merz
angesprochen: »Ein Mann aus den Neun-
zigerjahren mit Rezepten aus den Neunzi-
gerjahren«.
Kramp-Karrenbauers Neigung, sich
auf einen Deal mit Merz einzulassen,
ist durch seine jüngsten Äußerungen nicht
gestiegen. Schon im Frühjahr drängte
Merz sie, Angela Merkel zu stürzen und
sich selbst zur Kanzlerin wählen zu lassen.
Er wäre in diesem Szenario Finanzminis-


ter geworden. Es ist nicht klar, ob Kramp-
Karrenbauer ernsthaft erwogen hat,
sich auf den Plan einzulassen. Sie hat je-
denfalls nicht gegen die Kanzlerin ge-
putscht.
Wie aber will Merz ohne Votum der Ba-
sis Kanzlerkandidat werden? Es ist ausge-
rechnet eine Sachfrage, die ihm auf dem
Parteitag eine Chance bieten kann, sich in
seiner neuen Lieblingsrolle zu inszenieren,
als Favorit der einfachen Mitglieder, die
gegen das Establishment antreten. Union
und SPD wollen am Sonntag auf einem
Koalitionsausschuss versuchen, einen
Kompromiss in der Frage der Grundrente
zu finden. Die Sozialdemokraten haben
die Grundrente zu dem Thema hochstili-

siert, an dem sich das Schicksal der Koali-
tion entscheiden könnte.
Der Kern des Streits ist die Frage der
sogenannten Bedürftigkeitsprüfung (siehe
Seite 40). Die CSU drängt auf eine Eini-
gung. Auch Merkel, Kramp-Karrenbauer
und Fraktionschef Ralph Brinkhaus möch-
ten das Thema aus der Welt schaffen. Al-
lerdings gibt es in Fraktion und Partei star-
ke Vorbehalte gegen jegliche Zugeständ-
nisse an die SPD.
Damit ist klar, dass es so oder so zum
Konflikt kommen wird: Einigt sich der
Koalitionsausschuss nicht, wird die Lage der
Großen Koalition immer prekärer. Es stiege
dann die Wahrscheinlichkeit, dass der SPD-
Parteitag den Austritt der Sozialdemokraten
aus der Regierung beschließen wird.
Verständigt sich die Koalition dagegen
auf eine Regelung, ist mit heftigem Wider-
stand in der Union zu rechnen. In einem
Brief an Merkel drohen der Parlaments-
kreis Mittelstand und die Junge Gruppe der
Fraktion mit Konsequenzen, falls eine
Einigung mit der SPD über den Koali -
tionsvertrag hinausgehe. »Aus unserer Sicht
darf auf eine Bedürftigkeitsprüfung nicht
verzichtet werden.« Diese Auf fassung, so
heißt es drohend in dem Schreiben, »teilen
viele Mitglieder der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion, was sich in einer Abstimmung
in der Fraktion entsprechend niederschla-
gen würde«.
Die Grundrente könnte für Friedrich
Merz ein Vehikel werden, der CDU-Füh-
rung eine Abstimmungsniederlage auf
dem Parteitag zu bereiten. Der Hambur-
ger Bundestagsabgeordnete Christoph
Ploß hat bereits einen Initiativantrag für
den Parteitag angekündigt. Die Chancen,
dass es dafür eine Mehrheit gibt, stehen
nicht schlecht.
Dann wäre die gesamte Führung beschä-
digt: Merkel, die sich in der Fraktion für
einen baldigen Kompromiss mit der SPD
ausgesprochen hatte. Kramp-Karrenbauer,
die eine solche Einigung mittragen müsste.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus, der
sich in den vergangenen Wochen als eiser-
ner Kämpfer gegen die Pläne der SPD
inszeniert hatte, um dann im letzten
Moment einzuknicken. Auch CSU-Chef
Söder, der sich für die Grundrente stark
gemacht hat und unbedingt eine Einigung
will, wäre düpiert.
Die Frage ist nur: Was nützte es Merz?
Ohne Verbündete in der Unionsspitze
wäre seine politische Karriere beendet. In
den vergangenen Wochen hat er alles ge-
tan, um mögliche Partner zu verprellen.
Es ist durchaus möglich, dass Merz Treffer
gegen Merkel und Kramp-Karrenbauer
landet und trotzdem wieder als Verlierer
eines CDU-Parteitags nach Hause fährt.
Florian Gathmann, Ralf Neukirch,
Lydia Rosenfelder

DER SPIEGEL Nr. 46 / 9. 11. 2019 35


DOMINIK BUTZMANN
Merkel-Kritiker Merz: »Ich fühle mich ermutigt«
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