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uropa kann nicht kämpfen. Für
nichts. Noch nicht mal für sich
selbst. Kein Gedanke galt jenen
Briten, die standhaft für die EU-
Mitgliedschaft streiten, kein Wort
wurde über sie verloren, als die
Staats- und Regierungschefs Boris John-
son mit einem Deal zum Austritt beglück-
ten. Es war der Verrat Europas – von Euro-
päern an Europäern. Den Täter belohnte,
die Opfer bestrafte man. Obgleich die, ak-
tuell ermittelt, klar in der Mehrheit sind.
Welche Schande. Johnson, ausgerechnet.
Der Premier ist weder vom Volk noch vom
Parlament gewählt, nur von seiner eigenen
Partei. Gemeinsam mit dem Hetzer Nigel
Farage war er vor drei Jahren, zum Brexit-
Referendum, über die Insel gezogen und
hatte die Hirne seines Volkes mit Lügen
vergiftet. 350 Millionen Pfund gingen jede
Woche nach Brüssel, stand in riesigen Let-
tern auf seinem Tourbus, die sollten bes-
ser im heimischen Gesundheitssystem in-
vestiert werden. Oder, als Gerücht gestreut:
Die Türkei werde demnächst in die EU auf-
genommen, dann hätten 75 Millionen Os-
manen das Recht, in Britannien zu leben.
Strategisch betrachtet sind Johnson und
Farage aber nur die Handpuppen eines viel
mächtigeren Spielers: Donald Trump. Er
nennt sie Freunde, „zwei sehr gute Kerle“.
stören. Nicht die EU rettete die eigene
Währung, ein einzelner mutiger Mann tat
es, auf eigene Faust – und wurde dafür
auch noch geschmäht. Mario Draghi, Prä-
sident der Europäischen Zentralbank, ver-
kündete am 26. Juli 2012 in London, die EZB
werde den Euro verteidigen. „Whatever it
takes“ – was auch immer das erfordert.
Nun setzt die Brechstange Amerikas an
der EU selbst an. Als John Bolton, damals
Sicherheitsberater Trumps, im August
nach London kam, verkündete er gar, die
USA würden einen harten Brexit ohne Deal,
nun vom Unterhaus blockiert, „begeistert
unterstützen“. Völlig ungeniert. Der Brexit,
von Europa naiv durchgewunken, ist auch
und vor allem Trumps Brexit.
Die EU hat das alles schweigend hinge-
nommen – und Freundschaft geheuchelt
mit dem Berserker im Weißen Haus. Der
hatte schon die Brexit-Kampagne von 2016
als Versuchslabor genommen für seinen
Wahlkampf im selben Jahr. Die dubiose
Beratungsfirma Cambridge Analytica
saugte die Daten von 87 Millionen Face-
book-Nutzern ab, um Desinformation und
Lüge zu verbreiten. Ein kanadischer Able-
ger, berichtete der britische „Observer“,
könnte bereits beim Brexit eine wichtige
Rolle gespielt haben. Politisch betrachtet
sind Trump und Johnson jedenfalls reak-
tionäre Zwillinge. Trump lügt permanent,
Johnson seltener, dafür aber faustdick.
Und die EU? Ist eine Horde von Krämern.
Kommerz hält sie zusammen, nicht Klug-
heit. Als der Brexit-Deal abgehakt war,
bekundete man auf dem Brüsseler Gipfel
Solidarität mit der Regierung in Nikosia,
weil die Türkei vor der Küste Zyperns nach
Gas bohren möchte. Kein Wort wurde da-
gegen über die türkische Invasion in Syrien
verloren. Es mutet schier unglaublich an.
Sie haben die europäisch empfindenden
Briten verkauft, um die Krämer auf dem
Kontinent ganz sicher zu machen vor
einem harten Brexit. Jean-Claude Juncker,
der Kommissionspräsident, schreckte
sogar vor dem schmutzigen Trick nicht
zurück, dem Londoner Parlament vorzu-
gaukeln, es könne keine Verlängerung der
Brexit-Fristen mehr geben. Welches Ap-
peasement, welche Kumpanei mit Johnson!
Zu einer Strategie gegen den ärgsten
Feind Europas konnte sich die EU nie auf-
raffen. Ein zweites Referendum hätte das
Ziel sein müssen. Das fürchtet Johnson,
denn er würde es wohl verlieren. Die Stim-
mung hat sich gedreht, längst liegen die
EU-Anhänger vorn, aktuell mit 52 zu 48
Prozent. Europa aber sieht sie nicht. 2
Schon vor seinem Amtsantritt hatte
Trump verkündet, worauf es ihm ankam:
Europa zu schwächen im globalen Wett-
streit, die EU zu zerlegen. „Der Brexit wird
sich letztlich als eine großartige Sache
herausstellen.“ Denn die EU sei nur „ein
Mittel zum Zweck für Deutschland“.
Das hatte, nicht zu vergessen, ein böses
Vorspiel. Mächtige amerikanische Fonds
versuchten Anfang des Jahrzehnts, den
Euro mit Milliardenspekulationen zu zer-
EUROPAS VERRAT
Die EU verbündet sich mit Boris Johnson,
ihrem ärgsten Feind. Und lässt die Pro-Europäer allein.
Obgleich sie die Mehrheit sind unter den Briten
18 24.10.
KOLUMNE
JÖRGES
Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle
ZWISCHENRUF AUS BERLIN
ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN