Eine Szene aus dem wahren Leben: Louise*,
vier Jahre alt, sitzt im Kindergarten auf dem
Klo und weigert sich aufzustehen. Nur Papa
dürfe ihren Hintern abwischen. Die Erziehe-
rin ruft zu Hause an. Der Vater eilt in den
Kindergarten und greift zum Toilettenpapier.
Das Kind strahlt.
Ach, die lieben Kleinen. Sie geben einem
ja so viel zurück. Nicht nur ein Lächeln.
Auch das schöne Gefühl, gebraucht zu
werden. Unersetzbar zu sein. Besonders
unersetzbar ist Mami, wenn sie schwitzend
ihren Achtjährigen per Lastenfahrrad
durch die Stadt kutschiert. Das Kind könn-
te theoretisch auch selbst in Begleitung
der Erziehungsberechtigten in die Pedale
treten, aber der Großstadtdschungel ist be-
kanntlich hochgefährlich. Überall Autos.
Nicht, dass noch was passiert. Mami
schwitzt, Kind wird gefahren. Läuft hier
was falsch? Möglicherweise.
Erziehung ist, je nach Blickwinkel, eine
ganz einfache oder sehr komplizierte
Angelegenheit. Jeder kann mitreden. Mit
Erziehungsratgebern lassen sich ganze
Bibliotheken füllen. Allein in Deutschland
berichten Eltern in grob geschätzt etwa
3000 Internetblogs von ihren Erfahrungen.
E
Ob Erziehung gelingt, ist immer eine
Frage der Wertung. Dabei enthält der un-
geschriebene Vertrag, den Eltern mit
ihren Kindern schließen, stets die übli-
chen Klauseln: „Wir wollen uns lieben
und achten und gegenseitig helfen. Wir
wollen regelmäßig Oma besuchen und
nicht so viel streiten und viel Freude ha-
ben. Wir wollen jeder im eigenen Bett
schlafen und Konflikte in gegenseitigem
Respekt lösen, voller Empathie und
Wohlwollen. Wir wollen einfach glück-
lich sein und glücklich bleiben, jetzt und
für immer und in alle Ewigkeit.“
Die weiteren Bedingungen des Erzie-
hungsvertrages finden sich im Kleinge-
druckten: „Eltern sind ihren Kindern
gegenüber weisungsbefugt, vielleicht
auch umgekehrt, keine Ahnung, Genau-
eres regelt das Leben. Mal sehen, wie es
so läuft.“ Und dann läuft es ganz anders
als erwartet.
Familie. Sobald das zwei Jahre alte Mäd-
chen nach der Brust verlangt, macht sich
Mutti obenrum frei. Festere Nahrung will
das Kind nur einnehmen, wenn es nicht
im Kinderstuhl, sondern mitten auf dem
Tisch sitzen darf. Die Eltern gehorchen. 4
HÜBSCHE IDEE?
Schatz, willst du
vielleicht aufhören,
dem Bären die Innereien
rauszureißen? Das tut
dem doch weh.
Willst du nicht? Na gut
WIR WOLLEN UNS
LIEBEN UND ACHTEN
UND REGELMÄSSIG
OMA BESUCHEN
*In diesem Text sind alle Namen von Kindern und Eltern redaktionell geändert. Die kursiv gesetzten Szenen
haben stern-Redakteure innerhalb der vergangenen zwölf Monate erlebt.
24.10.2019 31