Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
„Perfekte Eltern finde ich
eher anstrengend. Ich glaube, es
reicht vollkommen, sich Mühe
zu geben – und vorbehaltlos zu
seinen Kindern zu halten. Ich
habe immer viel gearbeitet, und
meine Söhne wuchsen in einer
Patchworkfamilie auf. Da hatte ich
oft ein schlechtes Gewissen.
Ich hätte mehr Gelassenheit
gebrauchen können. Meine Söhne
hatten fast nie Lust auf Schule,
das fand ich schade, weil ich selbst
gern hingegangen bin.
Aber am Ende haben sie ein gutes
Abi gemacht. Heute denke ich:
Sie hätten vielleicht mehr Sport
treiben und weniger kiffen sollen.
Nicht alles ist mir gelungen.
Andererseits: Das ewige Optimie-
ren ist falsch. Viele Eltern machen
sich das Leben selbst schwer.
Sie haben so viele Ängste. Bringen
das Kind mit dem SUV direkt
ans Schultor wie mit einem Panzer


  • als ob sie es vor dem Leben
    da draußen beschützen müssten.
    Vielleicht haben solche
    Befürchtungen mit der eigenen
    Unsicherheit zu tun. Viele
    Eltern wissen selbst nicht, wer sie
    sind und wo sie hingehören.“


Die Journalistin und Autorin
aus Köln hat zwei Söhne, 22 und 19
http://www.ursulaott.de

„DAS EWIGE OPTIMIEREN


IST FALSCH“
Ursula Ott, 55

Wie gelingt Erziehung? Was macht
ein gutes Verhältnis zwischen Kindern,
Müttern und Vätern aus?
Hier erzählen Autoren, Blogger
und andere Menschen, was sie im
Familienleben gelernt haben

ERFAHRUNGEN VON


ENGAGIERTEN ELTERN


FOTOS: ACHIM LIPPOTH; LENA UPHOFF

Abends geht das Mädchen erst zu Bett, wenn


auch die Erwachsenen schlafen gehen. Die


Eltern fügen sich.


Großraumwagen im ICE zwischen Hamburg

und Frankfurt, Ruhebereich. Die Eltern essen


belegte Brote, ihr Sohn, etwa sieben Jahre alt,


hört auf dem iPad ein Hörspiel. Über Laut-


sprecher. Andere Fahrgäste fragen die Eltern,


ob sie dem Kind nicht einen Kopfhörer geben


könnten. „Nö“, sagt der Vater, „mein Sohn mag


keine Kopfhörer.“


Lesen sie sich nicht hübsch, diese ech-


ten Beispiele aus dem Leben? Man kann so


herrlich den Kopf schütteln. Dieser Tanz


ums goldene Kind! Wie kann man sich nur


so terrorisieren lassen? Es lacht sich leicht


über Zirkuseltern, die von ihren Kindern


wunderbar dressiert werden. Über Heli-


koptereltern, die jeden Schritt ihres Nach-


wuchses mit GPS überwachen. Oder über


Rasenmähereltern, die ihrem Kind einen


hindernisfreien Weg durchs Leben ebnen


und jedes noch so kleine Steinchen aus


dem Weg räumen. Nicht von ungefähr


werden Bücher wie „Verschieben Sie die


Deutscharbeit – mein Sohn hat Geburts-


tag“ zu Bestsellern.


Aber warum verhalten sich Eltern so?


Haben sie Erziehung verlernt? Waren Kin-


der früher einfacher zu handhaben? Das


Klagen über die Jugend ist so alt wie die


Menschheit. „Die Kinder von heute sind


Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern,


kleckern mit dem Essen und ärgern ihre


Lehrer“, schrieb Sokrates lange vor Christi


Geburt.


Apropos kleckern:

Kita. Paul, zweieinhalb, hat sich beim Mit-

tagessen mit Sauce bekleckert und muss um-


gezogen werden. Die Erzieherin greift in einen


Korb mit Ersatzwäsche und zieht dem Kind


einen sauberen Body an. Als die Mutter das


Kind später abholt, ist sie empört. „Ein rosa-


farbener Body für einen Jungen! Der Paul


schämt sich doch total!“ Sie beschwert sich bei


der Kita-Leitung.


Sonnenklar: Diese Mutter hat nicht


mehr alle Tassen im Schrank. Oder ist es


doch anders? Vielleicht leidet sie einfach


unter den Gefühlen, die in diesen Zeiten


trotz Frieden und Wohlstand so viele


Eltern quälen: Unsicherheit und Angst,


etwas falsch zu machen.


Dabei scheinen Eltern heute sehr viel


richtig zu machen: Laut „Kinderbaro-


meter“ der Landesbausparkasse LBS füh-


len sich heute mehr 9- bis 14-Jäh rige in


ihren Familien wohl als noch vor fünf


Jahren. Nach einer Untersuchung der


Zeitschrift „Eltern family“ sagen 90 Pro-
zent aller Kinder, sie fühlten sich bei ihren
Eltern sicher und geliebt. Laut Shell-
Jugendstudie sagen mehr als 90 Prozent
der Kinder und Jugendlichen, sie hätten
ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Fast
zwei Drittel der Befragten gaben an, Res-
pekt vor Gesetz und Ordnung wichtig zu
finden. Umfragen zufolge nimmt das
Interesse von Jugendlichen an politischen
Themen zu. Jugendliche rauchen weniger
als früher und beginnen später mit dem
Trinken. Die Kriminalitätsrate sinkt seit
Jahren.
Gar nicht so übel, oder? Könnte bedeu-
ten: Eltern, entspannt euch. Aber Ent-
spannung ist das Letzte, was einem ein-
fällt, wenn man mit Menschen spricht,
die sich auskennen mit Eltern- und Kin-
dersorgen.

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