Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
schleppten Schiffe Hunderte Con-
tainer mit Waren heran.
Bowanenkowo gilt bei Gazprom
als Megaprojekt: Es könnte allein
den Gasbedarf Deutschlands für
ungefähr ein halbes Jahrhundert
decken. Wie Pioniere fühlen sich die
Arbeiter in diesen unwirtlichen Brei-
ten, in denen nicht einmal Sträucher
wachsen, die Menschen dem Perma-
frost aber Bodenschätze aus mehr
als zwei Kilometer Tiefe abtrotzen.
„Kein anderes Land hat etwas Ähn-
liches in der Arktis geschaffen“, kom-
mentierte einmal der Gazprom-Chef
Alexej Miller stolz. „Russland hat be-
wiesen, dass es in der Arktis keine
Konkurrenz hat.“ Witalij Bugaj, stell-
vertretender Produktionsleiter, sagt:
„Das ist erst der Anfang.“
Bugaj, ein kräftiger Mann mit Bril-
le, sitzt im blauen Gazprom-Overall
in seinem Büro und blickt auf die
Pipelines des Gasfeldes. In einem La-
byrinth aus Rohren wird der Rohstoff
aus dem Eis gereinigt, getrocknet, zu-
sammengepresst und schließlich in
gasförmigem Zustand von einer Tur-
bine in die Pipelines gedrückt.

Sieben Tage braucht es von hier
nach Deutschland. Bowanenkowo
soll auch die umstrittenen Pipelines
von Nord Stream 2 beliefern, ein
Projekt, das viele deutsche Politiker
heute gern stoppen würden und
Deutschland international viel
Ärger einhandelte: Umgeht es doch
die alten Transportwege durch die
Ukraine, die so Milliarden verliert.
Die Männer auf dem Gasfeld kön-
nen sich nicht vorstellen, dass die
Pipeline nicht fertig gebaut wird.

Als Bugaj 2012 zum ersten Mal
in Bowanenkowo landete, wurde das
Gasfeld gerade erst fertig. „Ich krie-
ge jetzt noch Gänsehaut, wenn ich
daran denke“, erzählt er. Alles war
neu, Routine gab es nicht. Im Win-
ter verstopften bei Schneesturm
die Filter der Aggregate, bei minus
40 Grad mussten Installateure jede
einzelne Heizung kontrollieren,
damit in der Kälte die Technik nicht
versagte. Nach einem Monat rausch-
te trotzdem das erste Gas durch die
Pipeline. „Das erste Gas!“, sagt Bugaj
andächtig. „Ich war dabei!“
Manchmal kommt er sich immer
noch vor, als wäre er auf einem an-
deren Planeten gelandet. Im Winter
wird es monatelang nicht hell. Trotz-
dem herrscht Luxus: Zu Sowjetzei-
ten schufteten die Gasarbeiter im
Schnee und quälten sich in kalten
Baracken. Heute sind nur 140 Mit-
arbeiter auf dem größten der drei
Gasfelder im Einsatz, einschließlich
Sicherheitsdienst, Feuerwehr und
Hilfsarbeitern. Längst ist Hightech
ins Eis gezogen, viele sitzen tagsüber
an ihren Computern im Büro, sky-

pen abends mit ihren Familien. Wie
Entdecker fühlen sie sich dennoch.
„Ohne Romantik“, sagt Bugaj, „ist der
Norden nicht zu ertragen.“
Er stellt sich das Feld gern wie
einen Organismus vor. Das Gehirn
der Anlage ist das Steuerpult. Jedes
einzelne Rohr ist auf den Monito-
ren zu sehen, auch die Fördermen-
ge lässt sich am Pult regulieren.
„Wenn sich in Deutschland das Wet-
ter ändert“, scherzen die Männer am
Pult, „klicken wir hier mit der Maus.“

Dort harren Streckenarbeiter für
einen Monat in der Einsamkeit aus,
überprüfen Gleisbetten und Schie-
nen, schaufeln mehrmals am Tag den
Schnee aus dem Weg. Höhepunkt der
Abwechslung ist das Bahnwärter-
häuschen in Pajuta: Dort haust Was-
silij, der Kater, angeblich zugelaufen
aus dem Nichts.

D


as Gasfeld Bowanenkowo
erreicht der Zug nach 24
Stunden. Wie eine Oase in
der Wüste ragt die Siedlung aus
der vereisten Tundra. Gemütlich
sieht der Ort nicht aus, eher wie
ein Industriegebiet ohne Stadt,
Containerhäuser, inmitten eines
Gewirrs aus Pipelines. Bowanen-
kowo ist Sperrzone, zu besuchen
nur mit Sondergenehmigung.
Den Gasarbeitern erscheint der
kleine Ort wie ein Wunder. In der kal-
ten Einöde gibt es ein Krankenhaus
und Speisesäle, Bibliotheken und
Wintergärten, ein Kulturhaus mit
Bühne, ein Schwimmbad mit Tundra-
Blick, eine Salzhöhle, in der Men-
schen mit Plastikhauben auf dem
Kopf gesunde Luft einatmen, außer-
dem einen Sportsaal, in dem der Trai-
ner ein ehemaliger Profivolleyballer
ist. Nur Alkohol ist nicht zu haben. So
bestimmt es der Konzern. Wodka soll
auf keinen Fall die Langeweile töten,
die aufkommen kann am Ende der
Welt. Ein Sicherheitsdienst durch-
sucht vor der Abfahrt der Züge sogar
die Taschen der Passagiere.
Die Gasvorkommen in Bowanen-
kowo wurden bereits 1971 entdeckt,
doch damals fehlten sowohl Geld als
auch Technik, um das Feld zu er-
schließen. Jahrzehntelang verwit-
terten ein paar Bohrtürme im Eis.
Erst 2006 begannen die Bauarbeiten.
Hubschrauber flogen das Baumate-
rial ein, in den kurzen Sommern

MIT ZULAGEN WERDEN ÄRZTE, LEHRER


UND SANITÄTER HIERHER GELOCKT


86 24.10.2019
Free download pdf