Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
Einmal hat sich Bugaj im Atlas
eine Karte der Halbinsel angesehen
und sich die Zukunft vorgestellt.
„Wir haben hier alles“, sagt er, „Me-
tall, Diamanten, Öl, Gas.“ Bowanen-
kowo scheint ihm erst ein Anfang
zu sein. 100 Kilometer nördlich bau-
en mehr als 5000 Arbeiter bereits
am Gasfeld Charassawejskoje. „Wir
haben hier das erste Unternehmen
gebaut“, sagt Bugaj. „Nun gibt es die
Infrastruktur. Jetzt können andere
nachkommen.“
Draußen bläst der Wind den
Schnee durch die Gasarbeiter-Sied-
lung, trotzdem verkaufen Männer
aus einem selbst gezimmerten
Schlitten Fisch. In ihren Trachten
sehen sie aus, als hätte eine Zeit-
maschine sie hierher katapultiert.
Sie tragen Jacken, die mit Rentier-
fellen gefüttert sind, und Unty,
weiche Fellstiefel ohne feste Sohle.
Knapp 19 000 Nenzen – so heißt das
indigene Volk auf dem Jamal – füh-
ren noch immer ein Nomadenleben
und ziehen mit ihren Herden an der
Gasindustrie vorbei. Den Mini-
Marktstand haben die Männer für
die Schichtarbeiter aufgebaut, die
in den Heimaturlaub fahren und
sich vorher mit tiefgefrorenem
Fisch eindecken wollen. „Wir helfen
Gazprom!“, sagt Roman, einer von
ihnen, der sich nur mit Vornamen

vorstellt. Das soll natürlich ein Witz
sein. Er weiß, dass Gazprom seine
Hilfe nicht braucht.

R


oman wohnt 400 Kilometer
entfernt von Bowanenko-
wo – eine Ewigkeit in dieser
Gegend ohne Straßen. Nach Hause
nimmt er den Zug der Gasarbeiter,
den auch die Rentierzüchter nutzen
können, danach geht es im Gelän-
dewagen acht Stunden über einen
gefrorenen Arm des Flusses Ob bis
in die Siedlung Jar-Sale. Von dort aus
sind es nur zwei Stunden mit dem
Schneemobil, an das Roman einen
Schlitten befestigt.
Die Fahrten durch die weiße Ein-
öde sehen romantischer aus, als sie
sind. Der Holzschlitten springt über
das wellige Eis, der Wind schneidet
ins Gesicht. Inmitten der Tundra
steht wie vom Himmel gefallen sein
Zelt. Vor hundert Jahren sah das
wohl nicht anders aus: Dutzende
Rentierfelle, aufgespannt an Stan-
gen aus Holz. Roman, seine Frau und
die beiden Kinder wohnen nicht im-
mer hier, sie haben eine kleine Woh-
nung im Ort und helfen nur aus. Die
Schwiegereltern, sein Schwager Was-
silij und dessen Frau aber leben in
dieser Fellhütte, dem Tschum. Was-
silij zeigt stolz seinen Pass. Unter
Meldeadresse steht: „Tundra“.

Es gibt nur wenige andere Orte
auf der Erde, an denen das Leben so
erkämpft werden muss wie hier, wo
die Temperaturen auf bis zu minus
50 Grad fallen. Draußen brennt und
blendet die Sonne in unendlichem
Weiß. Drinnen, in der Hütte, ist es
selbst am Tag fast finster. Die Kälte
aber herrscht überall. Sie kriecht
durch die Kleider, durch die Rentier-
felle auf dem Boden, sie steckt in den
Kisten, selbst in den Stiefeln.
Das Überleben unter Bedingun-
gen, die gegen das Überleben spre-
chen, beschäftigt die Nenzen den
ganzen Tag. Wie soll man den Ofen
heizen, wenn kaum Bäume wach-
sen? Nur ein paar nackte Stöcke ste-
cken im Eis. Im Zelt ist es deshalb
nur am Tag warm, nachts legt nie-
mand mehr das spärliche Brennholz
nach. Wasser gibt es genug. Oma
Nadja, Romans Schwiegermutter,
schleppt einen Armvoll Schnee in
das Zelt und legt den Haufen in
einen Topf neben den Kessel am
Ofen. Das ganze Zelt ist vollgestopft
mit Kisten für Geschirr, Decken und
Töpfen. Wassilij besitzt einen Gene-
rator, doch weil das Benzin so teuer
ist, benutzt er ihn nur abends. So kön-
nen seine kleinen Neffen auf dem
Computer noch ein bisschen den
Zeichentrickfilm „Shrek“ gucken,
den die Mutter irgendwann im Ort
heruntergeladen hat. Eigentlich ist
nur die Lagerung der Lebensmittel
kein Problem – in der riesigen Open-
Air-Tiefkühltruhe um sie herum.
Mehr als 700 000 Rentiere leben
nach Angaben der Behörden noch
auf dem Jamal, so viele wie nirgend-
wo sonst auf der Welt. Wassilij be-
sitzt fast 200. Sie sind sein Ein und
Alles. Selbst nachts muss er los, die
Tiere zurückholen, weil diese auf
ihrer Futtersuche sonst im Nirgend-
wo verschwinden. Das Futter ist das
größte Problem. Flechten und Moo-
se sind unter dem Schnee verborgen,
der aber liegt im Frühjahr oft unter
einer feinen Schicht aus Eis. Nur mit
Mühe kratzen die Tiere das weg. Da-
ran ist der Klimawandel schuld. Mal
taut die oberste Schicht, mal regnet
es, dann friert die Kälte alles wieder
fest. Dauernd muss Wassilij mit sei-
nen Schaufeln los, um Löcher für die
Rentiere zu buddeln.

Links: „Wir
machen Russ-
land stärker“
steht über dem
ge malten Eis-
brecher an einer
Hauswand

Mitte: Schüler
bereiten sich
in der „Gazprom-
Klasse“ ihrer
Schule auf die
Karriere vor


Rechts: In einer
eigenen Salz-
höhle atmen
die Kinder-
garten kinder in
Labytnangi
gesunde Luft ein

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