Der Stern - 24.10.2019

(ff) #1
Selten haben
stern-Reporterin
Bettina Sengling (l.)
und die russische
Fotografin Elena Chernyshova so
gefroren wie bei den Rentierzüchtern.
Dabei war nicht einmal Winter

Manche Züchter verlieren des-


wegen in den warmen Wintern ihre


Tiere. Ein Bekannter Wassilijs lebt


völlig verarmt nun unweit der


Siedlung Panajewsk im Zelt, ohne


Herde und Arbeit. „Unter unseren


Füßen liegt das Gas“, sagt er, „aber


wir leben schlimmer als die Hunde.“


W


assilij hält die Nenzen
für die Verlierer der In-
dustrialisierung. Pipe-

lines, Baustellen und Industriean-


lagen versperren die alten Wander-


wege. „In ein paar Jahren“, glaubt er,


„werden wir alle sesshaft sein.“ Was-


silij kann sich kein anderes Leben


vorstellen. Er will kein Fleisch im


Supermarkt kaufen, und er will auch


nicht im Warmen schlafen. Außer-


dem fragt er sich, wo die Menschen


arbeiten sollen. Gazprom stellt vor


allem hoch qualifizierte Arbeiter


vom Festland ein. „In anderen Re-


gionen Russlands gibt es heute auch


keine Rentierzüchter mehr“, sagt


Wassilij. „Die Männer sitzen jetzt


alle in ihren geheizten Wohnungen


und saufen.“


Manchmal kommt sein Bekann-


ter Jejko Serotetto vorbei. Er ist


schon von Weitem zu sehen, denn


an seinem Schneemobil steckt im-


mer die rote Flagge der Kommunis-


ten. Bei den Nenzen ist er vor allem


für seine Internetplattform be-


kannt, die er „Stimme der Tundra“


nennt. Serotetto schreibt über


Korruption, über Probleme mit den


Hubschrauberverbindungen und


die Strafen beim Fischfang. Im


vergangenen Frühjahr berichteten


Medien landesweit über ihn, denn


damals traf er sich mit 35 Rentier-


züchtern in der Tundra. Prompt ver-


klagten ihn die lokalen Behörden


wegen eines Verstoßes gegen das


Versammlungsrecht, als gäbe es im


Eis zu wenig Platz.


Die Rentierzüchter verfassten


damals zusammen einen Brief an


den Gouverneur. Sie sind gegen den


Bau einer Pipeline durch den Ob,


außerdem wollen sie Arbeit, auch


bei Gazprom. Serotetto träumt von


der Sowjetunion. Als sie zerbrach,


war er ein Kleinkind, aber seine


Eltern haben ihm viel erzählt. Sie


arbeiteten damals im staatlichen


Zuchtbetrieb und verdienten fast
doppelt so viel wie ein sowjetischer
Arzt. Anerkannt und gebraucht
fühlten sie sich, nicht an den Rand
gedrängt so wie nun. „Bald sind
wir nur noch Folklore“, fürchtet
Serotetto.
Dabei gibt es in ganz Russland
vermutlich nur wenige Dörfer, die
so intakt und gut ausgestattet sind
wie die sanierten Sowjetsiedlungen
auf dem Jamal: Zum Ausgleich für
den Bau der Gasanlagen zahlt Gaz-
prom viele Milliarden Rubel an die
örtlichen Verwaltungen. In Jar-Sale,
Wassilijs Nachbarort, steht die neue
Eishalle „Arktis“, im Krankenhaus

sind mobile Mammografiegeräte
im Einsatz. Der Schulleiter Alexan-
der Alisejewitsch ärgert sich, dass
in den Klassenräumen die Smart-
boards nicht auf dem neusten Stand
sind. Er plant gerade ein neues
Schulgebäude mit Sitzkissen und
offenen Arbeitsräumen, weil das
alte zu klein geworden ist.
Wer besonders gut lernt, darf in
die Gazprom-Klasse. Ein guter Ab-
schluss garantiert einen Studien-
platz, Stipendien und später einen
gut bezahlten Job. „Auf dem Jamal
ist unheimlich viel Energie“, sagt der
Schulleiter. Besucht er seine Hei-
matregion in Zentralrussland, ist er
schon fast schockiert davon, wie we-
nig sich entwickelt. „Die Perspekti-
ven sind hier.“
Seit Kurzem steht in Nadym, einer
50 000-Einwohner-Stadt in der Re-

gion, sogar eine Art Palast, der in
Wahrheit ein Kindergarten ist. Über
der Treppe am Eingang glänzt eine
verglaste Terrasse mit Spitzdach.
Insgesamt misst die Einrichtung
15 700 Quadratmeter und ist damit
knapp doppelt so groß wie das Ham-
burger Rathaus.
Julija Beliman, Leiterin des Kin-
dergartens, führt stolz herum, über
drei Etagen, durch Lego-Zimmer,
Sportsäle, eine Tischlerei, Mal-Zim-
mer mit Staffeleien, einen Com-
puterraum. Jede Gruppe verfügt
über zwei Spielplätze: einer ist
draußen, der andere, für die kalten
Tage, im Haus. Es gibt interaktive

Kletterwände, beleuchtete Tische
zur Sandmalerei, zwei Schwimm-
bäder, Krankenzimmer, eine Salz-
höhle, sogar ein Studio, in dem
die Kinder 3-D-Drucker benutzen
und Zeichentrickfilme drehen
können.
Noch sind kaum Kinder zu sehen,
das imposante Gebäude wurde erst
im Frühjahr fertiggestellt. Es ist ein
Geschenk von Gazprom an die Stadt.
Deshalb war der Name auch schnell
gefunden. Er heißt: „Der kleine Gas-
arbeiter“. 2

Die rote Flagge
der Kommunisten
flattert vom
Schnee mobil des
Tundra-Aktivisten
Jejko Serotetto

„ BALD SIND WIR NUR NOCH FOLKLORE“,


FÜRCHTET DER EINHEIMISCHE


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