Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.10.2019

(Axel Boer) #1

SEITE 4·DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019·NR. 245 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


BERLIN, 21. Oktober


S


chon lange nicht mehr hat eine Re-
gierung den Koalitionsausschuss der-
art ruhig und unaufgeregt als ganz
normales Abstimmungsorgan unter Part-
nern eingesetzt wie die dritte von Angela
Merkel geführte große Koalition. Nur zur
Erinnerung: Eine Koalition, die nach dem
Willen der SPD-Führung ursprünglich gar
nicht hätte zustande kommen sollen, die
dann aber doch die Unterstützung der sozi-
aldemokratischen Parteibasis fand. Alle
paar Wochen sitzen Union und SPD sonn-
tagabends für ein paar Stunden im Kanz-
leramt und besprechen in Ruhe offene Fra-
gen. Die Teilnehmer treten nicht mit Was-
serstandsmeldungen zwischendrin oder
zum nächtlichen Ende vor die Kameras,
wie das früher üblich war. Höchstens wird
zu vorgerückter Stunde eine abgestimmte
Mitteilung verschickt. Am Sonntagabend
gab es nicht einmal die.
Dennoch hat dieses Bündnis am Wo-
chenende nicht nur über den Einmarsch
der Türkei in Nordsyrien und die Klima-
politik gesprochen, sondern darüber,
wann man die – vor allem auf Wunsch der
SPD – im Koalitionsvertrag für die Mitte
der Legislaturperiode vereinbarte Zwi-
schenbilanz der Regierungsarbeit ziehen
wolle. Die Partner werden ihre Bewertung
in einem gemeinsamen Dokument vorle-
gen, mutmaßlich in der Kabinettssitzung
am 6. November, jedenfalls Anfang des
kommenden Monats. Das ist deutlich vor
dem CDU-Parteitag Ende November in
Leipzig und dem der SPD Anfang Dezem-
ber in Berlin. Vor allem die Unions-Leute
weisen in jüngster Zeit gern auf eine kürz-
lich erstellte Studie der Bertelsmann-Stif-
tung hin, die der vierten Regierung Mer-
kel beste Noten ausstellt, jedenfalls jede
Menge Fleißkärtchen. Stand Ende Juni sei-
en bereits mehr als sechzig Prozent aller
auf den 177 Seiten des Koalitionsvertra-
ges vereinbarten Vorhaben verwirklicht
oder auf guten Weg gebracht worden. Die
meisten von ihnen, 17 Prozent, kommen
übrigens aus dem vom CSU-Politiker
Horst Seehofer geführten Bundesministe-
rium für Inneres, Bau und Heimat.
Der Koalitionsvertrag gibt nur karge
Auskunft darüber, ob und wie es mit der
Bundesregierung ab Ende 2019 weiterge-
hen soll. Es heißt dort auf Seite 174 in we-
nigen Zeilen: „Zur Mitte der Legislatur-
periode wird eine Bestandsaufnahme des
Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit


dessen Bestimmungen umgesetzt wurden
oder aufgrund aktueller Entwicklungen
neue Vorhaben vereinbart werden müs-
sen.“ Die Möglichkeiten einer „Bestands-
aufnahme“ reichen theoretisch also vom
Abendessen im Kanzleramt bis hin zu Mit-
gliederentscheiden und Parteitagen zu ei-
nem Ausstieg aus der Koalition.
In der SPD hatte vor allem die populäre
„No Groko“-Bewegung unter Führung
des Juso-Chefs Kevin Kühnert darauf ge-
hofft, das von ihnen bekämpfte Bündnis
spätestens im Herbst 2019 zu Fall zu brin-
gen. Und zwar unabhängig davon, ob die
politischen Ziele des Koalitionsvertrages
erreicht sein würden oder nicht. Nach fol-
gendem Kalkül: Wären die Ziele erreicht,
gäbe es keinen Grund, die Arbeit in einer
dann erlahmenden Koalition fortzuset-
zen. Kühnert konnte dabei daran erin-
nern, wie es bei der Regierungsarbeit
2013 bis 2017 war. Auch da hatte die SPD
in der Regierung sehr zügig sehr viel
durchgesetzt, etwa Andrea Nahles den
Mindestlohn oder Heiko Maas die Miet-
preisbremse. Aber in den langen Mona-
ten bis zur Wahl war das alles vergessen
worden oder wurde Bundeskanzlerin An-
gela Merkel, also der CDU, zugerechnet.
Die SPD stand im Regen. Die logische
Konsequenz: rasch das Maximale errei-
chen, dann aber raus. Wenn, umgekehrt,
die Koalition nur wenig schaffen würde,

gäbe es ohnehin keinen Grund zur Fort-
setzung. In jedem Falle würde ein SPD-
Parteitag im Dezember geneigt sein, die
Koalition zu verlassen.
Dem entgegen steht der Plan der Koali-
tionsbefürworter, zu denen naturgemäß
die sozialdemokratischen Ministerinnen
und Minister gehören, die der Union oh-
nehin. Aber auch unter den rund 150 sozi-
aldemokratischen Bundestagsabgeordne-
ten sind viele, für die ein Ende der Koali-
tion ganz persönliche Konsequenzen ha-
ben würde. Wenn die gegenwärtigen Um-
fragen einigermaßen zutreffen, könnte
die SPD bei einer Bundestagswahl etwa
ein Drittel der Mandate verlieren.
Die Koalitionsbefürworter haben des-
wegen zwei große Vorhaben, die schon
recht weit gediehen, aber noch lange
nicht beschlossen sind: das Klima-Paket
und die Grundrente. Federführend dabei
ist Olaf Scholz. Er ist Finanzminister, Vi-
zekanzler und Vorsitzkandidat, letzteres
gemeinsam mit Klara Geywitz. Beide Vor-
haben, Klima und Grundrente, haben ei-
nen hohen moralischen und sozialen Stel-
lenwert, beide sind noch nicht vollendet.
Wer also jetzt die Koalition beenden
möchte, gefährdet diese Premiumprojek-
te der Sozialdemokratie, womöglich auf
viele Jahre.
Die Klimapolitik war auch ein wesentli-
ches Thema, als sich die Koalitionäre am

Sonntag für vier Stunden im Kanzleramt
trafen. Nachdem Union und SPD sich
zum Ende des Sommers schon auf um-
fangreiche Schritte geeinigt hatten, leg-
ten sie nun fest, die zentralen Elemente
aus dem Gesetzespaket bis zum Jahres-
ende zu beschließen. Dazu gehört die
CO 2 -Bepreisung von Benzin, Diesel und
Gas, aber auch im Gebäudesektor. Vom
Jahr 2021 an soll zunächst eine Abgabe
von zehn Euro auf die Tonne CO 2 erho-
ben werden, später soll der Betrag stei-
gen. Da ein Teil der geplanten Maßnah-
men im Bundesrat zustimmungspflichtig
ist, bleibt nicht mehr viel Zeit. Mitte No-
vember soll der Bundestag beschließen,
Ende November der Bundesrat in der vor-
letzten Sitzung des Jahres. So bliebe zu-
mindest ein kleiner Puffer.
Die Unionsparteien verstehen sich oh-
nehin als selbstverständliche Regierungs-
parteien. Anders als die historisch in Op-
position zu den herrschenden Strukturen
entstandene SPD müssen CDU und CSU
sich dieses Auftrags nicht immer wieder
vergewissern. Doch auch für die SPD lau-
tet im Herbst 2019 die Devise: Weiterma-
chen. Und das würde für die Sozialdemo-
kraten bedeuten, dass die Ministerien Bi-
lanzen des Geleisteten und ebenso Projek-
te für die verbleibenden zwei Jahre erarbei-
ten. Das wird von der erweiterten Partei-
führung irgendwann im November begut-
achtet und voraussichtlich mit einigen Er-
gänzungen und Mahnungen versehen dem
Parteitag Anfang Dezember zu einer Art
Ratifizierung vorgelegt. Zu diesem Zeit-
punkt steht fest, wer die SPD-Vorsitzenden
sein werden. Auf dem Parteitag findet die
Wahl statt, aber die wird den zuvor abge-
fragten Willen der Mitglieder exekutieren.
Die Basisabstimmung in der SPD läuft
zwar noch, aber man kann schon sagen:
Die Koalitionsgegner haben keine guten
Karten. Alle Paare, die sich als dezidierte
Gegner einer Fortsetzung der Arbeit prä-
sentiert hatten, liegen in Umfragen weit
hinten. Und auch auf den 23 Regionalkon-
ferenzen spielte der Ausstieg aus der Re-
gierung keine große Rolle. Jedenfalls fan-
den weder Nina Scheer und Karl Lauter-
bach noch Hilde Mattheis und Dierk Hir-
schel mit Fundamentalkritik an der Regie-
rungsarbeit große Resonanz. Mattheis
und Hirschel haben daraus bereits die
Konsequenzen gezogen und ihre Kandida-
turen zurückgezogen.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf
Mützenich bezeichnete die Arbeit in den
Ministerien am Montag als „technische
Bilanz“, die Partei müsse dann noch dar-
über befinden. Was für die lautstarken,
aber dann bei einem Mitgliederentscheid
doch klar unterlegenen GroKo-Kritiker
als Exit-Tag galt, scheint nun nicht viel
mehr als eine nüchterne Zwischenbilanz
und Auftragsplanung zu werden. Das The-
ma habe, so Mützenich im Deutschland-
funk, „überhaupt nicht im Mittelpunkt
der Fragen“ bei den Regionalkonferenzen
gestanden. Die Mitglieder wollten viel-
mehr wissen, wie es weitergeht, „und was
kann die Sozialdemokratie für die Men-
schen im Land noch leisten“. Er gehe da-
von aus, dass dies beim Parteitag im De-
zember nicht anders sein werde.(Kom-
mentar Seite 8.)

Frankfurter Zeitung
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HAMBURG, 21. Oktober. Als die Richte-
rin immer weiter fragt, wie es war als Wa-
che im Konzentrationslager, wie viele Lei-
chen Bruno D. gesehen und wer sie aus
den Baracken geschleppt hat, wie die Lei-
chen aussahen und wo sie hinkamen, wie
es gerochen hat, wenn man auf dem
Wachturm gleich neben dem Krematori-
um Dienst gehabt hat, und was er bei all
dem um ihn herum gefühlt und gedacht
habe, macht Bruno D. irgendwann eine
lange Pause. Dann sagt er: „Es war grau-
sam, was man gesehen hat.“ Und er sagt,
er sei froh gewesen, dass er das für sich
verarbeitet habe in den Jahren danach,
„dass ich Ruhe hatte“. Jetzt, durch den
Prozess, werde alles wieder aufgewühlt.
„So habe ich mir mein Alter nicht vorge-
stellt. Trotz allem.“ Die Richterin spricht
von den Überlebenden, für die es wichtig
sei, dass die Vergangenheit nicht verges-
sen werde. Die sich fragten, warum er das
gemacht, warum er da gewacht habe. Bru-
no D. sagt: „Weil ich dazu gezwungen wur-
de, dort Dienst zu machen.“
Bruno D. ist 93 Jahre alt. Er war Wach-
mann der SS im Konzentrationslager
Stutthof nahe Danzig. Er ist in Hamburg
der Beihilfe zum Mord in mindestens
5230 Fällen angeklagt. Zwischen dem



  1. August 1944 und dem 26. April 1945


soll er „die heimtückische und grausame
Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge
unterstützt“ haben.
Es ist der dritte Verhandlungstag in
Hamburg und der erste, an dem Bruno D.
ausführlich aussagt. Nach der Anklagever-
lesung am ersten Tag hatte am zweiten
ein Sachverständiger darüber berichtet,
wie das Lager Stutthof aufgebaut war.
Etwa 65 000 Menschen sollen hier getötet
worden sein, von Mitte 1944 an wurde es
zum Vernichtungslager. Der Sachverstän-
dige berichtete, wie die Baracken angeord-
net waren, wo die Gaskammer stand, das
Krematorium und die Wachtürme. Das ge-
hört zu den wichtigen Fragen in diesem
Prozess: Was konnten die Wachmänner se-
hen, was konnten sie wissen. Und was hät-
te ein Wachmann anders machen können.
Als der dritte Verhandlungstag beginnt,
gibt Bruno D. eine Erklärung ab. Er sagt,
ihn hätten die Menschen leidgetan, die er
habe bewachen müssen. Es tue ihm leid,
was ihnen angetan worden sei und dass er
seinen Wehrdienst an so einem Ort habe
ableisten müssen. Er habe keine Möglich-
keit gehabt, ihnen zu helfen. Die Bilder
des Schreckens hätten ihn sein Leben lang
verfolgt. Als die Richterin ihn fragt, wel-
che Bilder das denn seien, erzählt Bruno
D. von den Leichen. Er sagt: „Ich habe vie-

le Leichen gesehen.“ Vor allem in den letz-
ten Monaten im Lager. Wenn er morgens
auf einem Wachturm gestanden habe,
habe er gesehen, wie andere Häftlinge die
Leichen aus den Baracken gezogen und
übereinandergestapelt hätten. Damals
war eine Epidemie im Lager ausgebro-
chen, Fleckfieber, so sollen allein schon
etwa 5000 Menschen gestorben sein. Die
Leichen seien nackt und ausgemergelt ge-
wesen. Ein Wagen sei herangeschoben
und die Leichen darauf geworfen worden,
berichtet Bruno D. Als der Wagen voll
war, wurde er von anderen Häftlingen wei-
tergezogen. Es seien vor allem Frauen ge-
wesen. Warum sie da waren, was für Ge-
fangene es waren, will Bruno D. nicht ge-
wusst haben. Wie er überhaupt vieles
nicht gewusst, gefragt oder besprochen ha-
ben will.
Bruno D. wirkt trotz seines hohen Al-
ters präsent, versteht die Fragen und ant-
wortet höflich. Doch was er sagt, klingt im-
mer wieder zumindest erstaunlich. Er
habe nichts davon gewusst, wie es im La-
ger zugegangen sei – als Wachmänner hät-
ten sie es nicht betreten. Er will nicht ge-
wusst haben, wie die Versorgung war, wie
es in den Baracken aussah, er habe nie er-
schossene Gefangene gesehen und einmal
zwar ins Krematorium geblickt und die

zwei Öfen gesehen, aber sonst nicht ge-
wusst, was dort geschehen sei. Die Ankla-
ge geht davon aus, dass Bruno D. „teilwei-
se bis ins Detail“ Kenntnis gehabt hat von
den Vorgängen im Lager. Das klingt bei
Bruno D. anders. Auch von der Judenver-
nichtung will er „ganz wenig oder gar
nichts“ gewusst haben. Ausführlicher wer-
den seine Antworten erst wieder, als es um
die Zeit geht, bevor er als Wachmann nach
Stutthof kam. Wie er versucht hat, sich ei-
ner Einberufung zu entziehen. Auch zur
Hitlerjugend habe er nicht gewollt, er habe
vom Marschieren nichts gehalten. Wegen
eines Herzfehlers war er nicht kriegsdienst-
tauglich und wurde deshalb 1944 nicht an
die Front, sondern in das Lager als Wach-
mann geschickt.
Auch mit seinen Eltern will er nicht
wirklich über all das gesprochen haben,
was um sie herum passierte. Über Politik,
den Krieg. Seine Eltern hätten viel gearbei-
tet, sie hätten keine Zeitung gehabt oder
Radio. Über Adolf Hitler habe man nur ge-
sagt, dass der viel auf den Weg gebracht
habe, Leute in Arbeit, Straßen gebaut.
Und dass er dann aufgerüstet hat. Ob über
negative Seiten Hitlers diskutiert worden
sei? Bruno D. sagt: „Nein.“ Nach gut zwei
Stunden ist der Verhandlungstag vorbei.
Mehr lässt seine Gesundheit nicht zu.

Partner:Merkel und Scholz nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags Foto Stefan Boness


Viele Leichen, wenig Erinnerung


Der frühere SS-Mann Bruno D. zeigt Mitleid mit den Opfern von Stutthof – und mit sich selbst / Von Matthias Wyssuwa


FRANKFURT, 21. Oktober. Etwa ein
Jahrist es jetzt her, dass Jens Spahn beim
Deutschen Apothekertag in München
ans Rednerpult trat und der versammel-
ten Apothekerschaft von seiner Idee be-
richtete. Es ging ums Geld; die Pharma-
zeuten erwarteten vom neuen Bundesge-
sundheitsminister Vorschläge, wie mit
der Konkurrenz aus dem Internet umzu-
gehen sei. Am liebsten wäre ihnen ein
Verbot des verhassten Versandhandels
gewesen, doch darauf wollte Spahn sich
nicht einlassen. „Reden wir über andere
Honorarmodelle, die nicht nur an die Ab-
gabe einer Medikamentenpackung ge-
bunden sind“, sagte der CDU-Politiker.
„Ich könnte mir vorstellen, dass in Apo-
theken geimpft wird.“ Die Apotheker im
Saal waren erstaunt über diesen unerwar-
teten Vorstoß. Regelrecht erzürnt reagier-
ten hingegen die deutschen Ärzte – sie
fassten den Vorschlag als Angriff auf ih-
ren Beruf auf, was wenig überraschend
war. Schon immer sind die Aufgaben von
Arzt und Apotheker strikt getrennt, das
Verabreichen einer Impfung galt stets als
eine ärztliche Aufgabe.
Anders als viele Mediziner es wohl ge-
hofft hatten, erledigte sich das Thema
nicht von selbst wieder. Im Gegenteil.
Binnen eines Jahres ist aus der vagen
Idee des Ministers ein konkreter Plan ge-
worden. Am Freitag debattierte der Bun-
destag in erster Lesung über das vom Ge-
sundheitsministerium angestoßene Ma-
sernschutzgesetz, das eine Pflicht zur
Impfung gegen Masern unter anderem
bei Kindern und Erziehern vorsieht. In
einem Nebensatz ihrer Rede teilte die
SPD-Politikerin Sabine Dittmar mit,
dass sich die große Koalition auf einen
Änderungsantrag geeinigt habe. Dieser,
so Dittmar, werde es Apothekern im Rah-
men eines Modellversuchs künftig er-
möglichen, selbst Impfungen zu verabrei-
chen – zwar nicht gegen Masern, worum
es in dem Gesetz eigentlich geht, son-
dern gegen die Grippe. Auch dort sollen
die Impfquoten erhöht werden, fordern
Union und SPD. Zuletzt ließ sich nur je-
der Zehnte in Deutschland gegen das In-
fluenza-Virus impfen; vor allem Ältere,
denen als Risikogruppe eine Impfung
ausdrücklich empfohlen wird, seien zu
selten geschützt. Darüber hinaus wird
Schwangeren und chronisch Kranken
die Impfung empfohlen, gesunden Er-
wachsenen hingegen nicht.
Diese Beratung haben bislang die Ärz-
te erbracht, nun sollen sie sich die Aufga-

be mit den Apothekern teilen. Die Empö-
rung der niedergelassenen Mediziner,
die sich damit auch um einen Teil ihrer
Vergütung sorgen, ließ nicht lange auf
sich warten. „Nicht hinnehmbar“ nennt
Ulrich Weigeldt, der Vorsitzende des
Deutschen Hausärzteverbands, das Vor-
haben. „Impfungen gehören nicht in
eine Apotheke, das haben Apotheker nie
gelernt“, sagte Weigeldt dieser Zeitung.
Man habe für dieses Vorhaben kein Ver-
ständnis, teilte die Kassenärztliche Verei-
nigung Westfalen-Lippe mit. Das bisheri-
ge System funktioniere gut, es gebe
„überhaupt keine Notwendigkeit“, es zu
verändern. In Frankreich dürfen Apothe-
ker seit kurzem gegen die Grippe imp-
fen, auch da ging ein Modellversuch ei-
ner landesweiten Regelung voraus.
So klar der Wille der Koalition ist,
Apothekern das Verabreichen einer Grip-
peschutzimpfung zu ermöglichen, so viel-
fältig sind die Hindernisse – das wird
auch im Änderungsantrag von Union
und SPD deutlich. Demnach sollen Kran-
kenkassen mit den Apotheken entspre-
chende Verträge schließen. Wer als Apo-
theker impfen will, muss abgetrennte
Räume mit Liege bereithalten. Zudem
sollen die Impfungen auf volljährige Kun-
den beschränkt bleiben – bei Kindern ist
eine Impfung nur bei chronisch Kranken
angezeigt, und bei ihnen soll nach wie
vor der Arzt zuständig bleiben.
Zudem soll die Reform zunächst auf
fünf Jahre befristet bleiben. Vor allem
aber sollen Apotheker, die impfen wol-
len, zuvor „ärztlich geschult“ werden,
wie es in dem Antrag heißt. Sie sollen ler-
nen, wie Ärzte zu handeln – also die Kun-
den über Risiken aufzuklären, die Sprit-
ze richtig zu setzen und mögliche Fälle
zu erkennen, in denen eine Impfung me-
dizinisch zu riskant wäre. Vor allem aber
sieht die Schulung die „Kenntnis von Not-
fallmaßnahmen bei eventuellen akuten
Impfreaktionen“ vor. Das zielt auf das
wesentliche Argument der Ärzte: Nur sie
seien qualifiziert, einen Patienten zu be-
treuen, der auf eine Impfung mit einer
schweren Allergie reagiert. Das passiert
sehr selten, doch es kann vorkommen.
Dass dem Vorhaben hohe Hürden ent-
gegenstehen, weiß die Koalition selbst.
In dem Antrag heißt es, vor Beginn der
Reform müsse die Berufsordnung der
Apothekerkammer „gegebenenfalls“ ge-
ändert werden. Darin heißt es nämlich:
„Der Apotheker darf keine Heilkunde an
Menschen und Tieren ausüben.“

Koalitionsgespräche in Sachsen
In Sachsen haben am Montag Verhand-
lungen zur Bildung einer Koalition aus
CDU, Grünen und SPD begonnen. Zuvor
hatten die Parteien eine mehrwöchige
Sondierungsphase positiv abgeschlos-
sen. Vertreter der drei Parteien, darunter
Sachsens CDU-Chef und Ministerpräsi-
dent Michael Kretschmer, erklärten nach
einem ersten Treffen in Dresden, noch in
diesem Jahr einen Entwurf für einen Ko-
alitionsvertrag vorlegen zu wollen. Nach
der Landtagswahl vom 1. September ist
nur ein sogenanntes Kenia-Bündnis die-
ser drei Parteien möglich, da die CDU
eine Koalition mit der zweitplazierten
AfD sowie eine Zusammenarbeit mit der
Linken ausgeschlossen hat. (lock.)

Schüsse auf Flüchtlingsheim
Unbekannte haben in der Nacht auf
Sonntag mit einer Schreckschusswaffe
auf eine Flüchtlingsunterkunft im thürin-
gischen Obermehler geschossen, wie die
Polizei am Montag berichtete. Die Schüs-
se seien aus einem fahrenden Auto her-
aus abgegeben worden; die Ermittler ge-
hen von einem ausländerfeindlichen Hin-
tergrund aus. Mitarbeiter eines Wach-
schutzes hätten das Auto gegen Mitter-
nacht beobachtet, als es sehr langsam an
dem Gelände vorbeigefahren sei. Ver-
letzt wurde niemand. Ein Suchhund der
Polizei fand in der Nähe des Haupttors
mehrere Patronenhülsen. Die Polizei
nahm Ermittlungen wegen Bedrohung
und Verstoßes gegen das Waffengesetz
auf. Der Staatsschutz sei in die Ermittlun-
gen eingebunden, sagte eine Sprecherin.
(dpa)

Campact nicht gemeinnützig
Nach der globalisierungskritischen Or-
ganisation „Attac“ hat nun auch der ähn-
lich ausgerichtete Verein „Campact“
den Status der Gemeinnützigkeit verlo-

ren. Das Berliner Finanzamt für Körper-
schaften folgte mit dieser Entscheidung
einem Urteil des Bundesfinanzhofs im
Fall „Attac“. Die obersten Finanzrichter
hatten im Februar entschieden, dass po-
litische Bildungsarbeit als gemeinnützig
anzuerkennen ist, nicht aber Kampa-
gnen zur Durchsetzung politischer Zie-
le. Nach Angaben von „Campact“ muss
der in Verden und Berlin ansässige Ver-
ein nun rund 300 000 Euro an das Fi-
nanzamt nachzahlen. Förderer können
ihre Spenden nicht mehr von der Steuer
absetzen. (bin.)

Rentzing geht Ende Oktober
Der sächsische Landesbischof Carsten
Rentzing wird zum 31. Oktober aus sei-
nem Amt scheiden. Die Kirchenleitung
der Evangelisch-Lutherischen Landes-
kirche stimmte am Montagabend dem
von Rentzing zuvor erklärten Amtsver-
zicht zu. Rentzing hatte sich zu diesem
Schritt entschlossen, nachdem demokra-
tiefeindliche Texte aus seiner Studenten-
zeit bekanntgeworden waren. (bin.)

Anklagen wegen Kuciak-Mord
Vier Personen werden wegen des Mor-
des an dem slowakischen Journalisten
Ján Kuciak und seiner Verlobten Marti-
na Kušnírová angeklagt. Das teilte die
Sonderstaatsanwaltschaft in Pressburg
(Bratislava) am Montag mit. Die beiden
jungen Leute waren im Februar 2018 in
ihrem Haus erschossen worden. Der Auf-
traggeber soll laut den Ermittlern der
Geschäftsmann Marián Kočner sein. Ku-
ciak hatte Artikel über mutmaßlich kri-
minelle Machenschaften Kočners sowie
italienischer Mafiosi im Osten der Slo-
wakei publiziert. Einige von ihnen ha-
ben laut den Recherchen Kuciaks Ver-
bindungen bis in höchste Kreise der slo-
wakischen Politik, etwa zum Vorsitzen-
den der regierenden sozialdemokrati-
schen Partei Smer, Robert Fico. (löw.)

Ruhige Handwerker im Erdbebengebiet


Wenn der Apotheker


ins Hinterzimmer bittet


Impfpläne erzürnen Ärzte / Von Kim Björn Becker


Wichtiges in Kürze


DieKoalitionspartner


in Berlin planen eine


Zwischenbilanz. Das


Berliner Personal will


weiterregieren. Größter


Unsicherheitsfaktor ist


die SPD-Basis.


Von Peter Carstens


und Eckart Lohse


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