Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.10.2019

(Axel Boer) #1

SEITE 6·DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019·NR. 245 Politische Bücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Sigurd Rink: Können
Kriege gerecht sein?
Glaube, Zweifel, Gewissen


  • wie ich als Militärbischof
    nach Antworten suche.


Ullstein Buchverlage, Berlin



  1. 288 S., 20,– €.


Hartwig von Schubert:
Pflugscharen und
Schwerter. Plädoyer für
eine realistische
Friedensethik.

Evangelische Verlagsanstalt,
Leipzig 2019. 160 S., 15,– €.

Rüdiger Lohlker (Hrsg.):
World Wide Warriors.
How Jihadis Operate On-
line.

V&R Unipress, Göttingen



  1. 197 S., 35,– €.


Das Erschrecken über sexuelle Gewalt
von Klerikern gegenüber Kindern und
Jugendlichen in der katholischen Kir-
che und Weisen wie Ausmaß der Vertu-
schung dieser Taten hat Forderungen
nach Reformen laut werden lassen;
Streit hierüber ist garantiert. Es wird
auf dem bevorstehenden „synodalen
Weg“ auch über den Umgang der Kir-
che mit gleichgeschlechtlichen Partner-
schaften zu sprechen sein. Georg Tret-
tin, 29 Jahre lang Korrektor in der politi-
schen Redaktion dieser Zeitung, hat
eine nichtöffentliche Fachtagung
(2018) zu diesem besonderen Thema
mit vorbereitet. Die Beiträge der Veran-
staltung bilden die Grundlage des nun
erschienenen Bandes.

Stephan Loos / Michael Reitemeyer /
Georg Trettin (Herausgeber): Mit dem
Segen der Kirche? Gleichgeschlechtliche
Partnerschaft im Fokus der Pastoral.
Herder Verlag, Freiburg 2019. 208 S.,
22,– €.

Der Evangelischen Kirche in Deutsch-
landsteht eine vermutlich ziemlich kon-
troverse Synodentagung bevor: Es geht
um das Thema „Frieden“. Schon seit ge-
raumer Zeit lässt sich beobachten, wie
sich die kirchenpolitischen Flügel dafür
in Stellung bringen. In mehreren Landes-
kirchen wurden Positionen zur Außen-
und Verteidigungspolitik beschlossen.
Die Synode der rheinischen Kirche hat
sich für einen prinzipiellen Verzicht auf
„Gegengewalt“ ausgesprochen. Und in ei-
nem Papier der badischen Landeskirche
wird ein „Positivszenario“ entworfen,
das eine umfassende „Demilitarisie-
rung“ Europas vorsieht. Andere Landes-
kirchen äußern sich deutlich abgewoge-
ner. Doch insgesamt ist unverkennbar,
dass sich die evangelische Kirche zuneh-
mend pazifistischen Positionen annä-
hert, während sich die politische Diskus-
sion eher in die Gegenrichtung entwi-
ckelt.
Die beiden Bücher „Können Kriege ge-
recht sein?“ von Sigurd Rink sowie
„Pflugscharen und Schwerter“ von Hart-
wig von Schubert versuchen auf unter-
schiedliche Weise, die kirchliche Debatte
wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Die Autoren haben daran nicht zuletzt
ein berufliches Interesse: Sigurd Rink ist
der Militärbischof der EKD, Hartwig von
Schubert Militärdekan an der Führungs-
akademie der Bundeswehr. In ihrer Tätig-
keit stehen beide vor dem Problem, dass
sie auf der kirchlichen Seite mit teils tief-
sitzenden Vorbehalten gegenüber allem
Militärischen zu tun haben, während in-
nerhalb der Bundeswehr die Kirchen an-
gesichts mancher ihrer Verlautbarungen
nicht für voll genommen werden. Militär-
bischof Sigurd Rink versucht diesen argu-
mentativen Zwei-Fronten-Krieg mit Hil-
fe von Story-Telling zu gewinnen. Er er-
zählt seine eigene Wandlung vom pazifis-
tischen Studenten aus Hessen-Nassau,
der „natürlich“ 1981 im Bonner Hofgar-
ten gegen den Nato-Doppelbeschluss mit-
demonstriert habe, hin zu einem Militär-
bischof, der bei seinen Reisen von einem
„Close Protection Team“ geschützt wird.
Im Rückblick diagnostiziert Rink bei
der Bundesrepublik der achtziger Jahre
einen „Sündenstolz“: Aus seiner besonde-
ren Schuld sei damals in Deutschland
eine besondere moralische Überlegen-
heit abgeleitet worden. Gedeihen konnte
dies nach Rink nur „im Windschatten der
Geschichte“, in dem das Land damals se-
gelte. Seit den neunziger Jahren wird
Deutschland nun Schritt für Schritt wie-
der von den konkreten Konflikten der
Welt eingeholt. Rink erzählt, wie sich im
Lauf der Zeit damit auch seine eigene Po-
sition wandelte. Heute denkt Rink in den
Spuren von Augustinus und Thomas von
Aquin, die mit der „Lehre vom gerechten
Krieg“ einen begrenzten Einsatz militäri-
scher Gewalt rechtfertigten und einen
Kriterienkatalog dafür aufstellten.
Als Fortentwicklung dieser Position
wertet Rink die EKD-Denkschrift aus


dem Jahr 2007 mit ihrem Leitbild des „ge-
rechten Friedens“. Freilich lässt sich das
bis heute gültige Papier jedoch auch als
Absage an die traditionelle „Lehre vom
gerechten Krieg“ lesen, weshalb sich
auch Rinks heutige kirchenpolitische Op-
ponenten auf die Denkschrift berufen.
Breiten Raum nehmen Rinks Darle-
gungen zu den Auslandseinsätzen der
Bundeswehr ein. Der Militärbischof
kann dabei oft auf Eindrücke zurückgrei-
fen, die er bei Truppenbesuchen in den
Krisengebieten selbst gewonnen hat.
Rink gelangt dabei zu reflektierten Urtei-
len, weil er die dortigen Realitäten nicht
beschönigt und auch Umstände einbe-
zieht, die bisweilen unter den Tisch fal-
len: Er schildert, wie beim Einsatz in
Mali auch die französischen Interessen
an den Uranlagerstätten in der Region
eine Rolle spielen und wie internationa-
le Militäreinsätze regelmäßig zu Kon-
junkturprogrammen für korrupte Regie-
rungen, Waffenhersteller, aber auch
Hilfsorganisationen werden. Die Militär-
politik der Vereinigten Staaten bewertet
der Militärbischof auffallend kritisch. Be-
merkenswert sind auch die Passagen zur
Seenotrettung von Flüchtlingen: Aus sei-
nen Kontakten in die Bundeswehr berich-

tet Rink, dass kaum einer der eingesetz-
ten Soldaten an der Notwendigkeit der
Seenotrettung zweifele. Ebenso wenig
sei den Soldaten aber verborgen geblie-
ben, dass sie damit „indirekt das Ge-
schäft der Schleuser förderten“ und diese
„kalt kalkulierend“ die Seenotrettung
auch ziviler Kräfte „mehr und mehr in
ihr Geschäftsmodell einpreisten“. Rink
sagt sogar, dass sich im Mittelmeer eine
„geradezu aberwitzige Rettungskette“
entwickelt habe. Dazu sollte man wis-
sen, dass der EKD-Ratsvorsitzende Hein-
rich Bedford-Strohm es kürzlich „infam“
nannte, über einen solchen Zusammen-
hang zwischen Rettung und Schleusung
überhaupt nachzudenken.
Rink wahrt aber auch kritische Dis-
tanz zur Bundeswehr und schreibt, einer
militärischen Organisation sei „zwangs-
läufig ein Gewaltpotential wie auch anti-
demokratische Tendenzen inhärent“.
Für umso wichtiger hält der Militär-
bischof darum ein enge Anbindung der
Streitkräfte an die Gesellschaft. Die Ab-
schaffung der Wehrpflicht sieht Rink kri-
tisch. Gern hätte man genauer erfahren,
wie Rink die von ihm befürwortete
Dienstplicht mit der unumgänglichen
Professionalisierung der Bundeswehr in

Einklang bringen will. Auch in der viel-
diskutierten Frage des Zwei-Prozent-
Ziels positioniert sich Rink nicht eindeu-
tig. Solche diplomatischen Rücksichtnah-
men auf innerkirchliche Debatten schmä-
lern den Wert dieses leicht zugänglichen
Buchs aber nur geringfügig.
Deutlich anspruchsvoller ist die Lektü-
re des schmalen Buches von Hartwig von
Schubert. Mit Blick auf den vor der EKD-
Friedenssynode anschwellenden „bedin-
gungslosen Pazifismus“ unternimmt der
Militärdekan den Versuch einer theolo-
gisch-philosophischen Rechtfertigung
von Militäreinsätzen zur Durchsetzung
rechtsstaatlicher Gewaltmonopole. Von
Schubert sieht sich als Vertreter eines „le-
gal pacifism“ und beruft sich dabei vor-
nehmlich auf Immanuel Kant. Als Theo-
loge sieht von Schubert den Philosophen
in der Tradition Luthers sowie des Apos-
tels Paulus stehen. Der Militärdekan ar-
gumentiert in seinen Ausführungen
schlüssig und sauber. Ob sich einge-
fleischte Pazifisten oder hartleibige Belli-
zisten von gründlicher Kant-Exegese be-
kehren lassen, kann dahingestellt blei-
ben. Schwerer wiegt, dass auch bei die-
sem Buch ein klar umrissenes Bild fehlt,
wie eine verantwortbare Sicherheitspoli-
tik aus evangelischer Sicht konkret aus-
sieht. Wie viel darf die Bundeswehr kos-
ten? Wo sollen die Soldaten eingesetzt
werden? Welche Waffen sollen sie in die
Hand bekommen? Soll eine kirchliche
Friedensethik Gehör finden, muss sie
auch auf solche Fragen durchdachte und
umsetzbare Antworten geben. Die bei-
den Bücher von Sigurd Rink und Hartwig
von Schubert leisten dafür wertvolle Vor-
arbeiten. REINHARD BINGENER

Wenn ein spektakulärer Anschlag von
Muslimen stattfindet, hebt immer wieder
Rätselraten an: Waren Einzeltäter am
Werk? War die Sache ferngesteuert? Was
waren Hintergrund und Ziele des An-
schlags? Viele sind schnell mit der Aus-
kunft bei der Hand: aha, Dschihadismus!
Und dann weiß man ja, mit wem man es
zu tun hat: mit salafistisch inspirierten Is-
lamisten ohne Skrupel bei der Anwen-
dung von Gewalt. Mehr Gedanken
macht man sich oft nicht, obwohl man
den Vorgang keineswegs verstanden hat.
Anders dieses Buch. Es betont, man
müsse das Phänomen tiefer verstehen,
und es behauptet, man könne das auch.
Dazu müsse man sich nur die intensive
und geschickte Tätigkeit der Dschihadis-
ten im Internet ansehen. Dabei erfasse
man die Botschaft, die diese Leute ver-
mitteln wollen, könne aber auch viel
über ihre Operationsweise und die Kom-
munikation mit ihren Anhängern erfah-
ren. Im Unterschied zu den meisten Jour-
nalisten, die sich auf die Lektüre der eu-


ropäischsprachigen Texte der Organisa-
tionen beschränken, fordert dieses Buch,
sich auf die arabischen Texte zu konzen-
trieren, denn darin komme das Selbstver-
ständnis der Dschihadisten am reinsten
zum Ausdruck. Dies müsse man ernst
nehmen, gerade in seinen religiösen As-
pekten, denn die Gruppen seien in erster
Linie theologisch motiviert. Bei alldem
solle man nicht nur den Gegensatz zum
Westen, sondern auch regionale Ausein-
andersetzungen wahrnehmen.
Der so vertretene Anspruch wird in
den analytischen Teilen des Buchs weit-
gehend eingelöst. Dabei kommt vieles in
den Blick, das sonst übersehen wird, so
zum Beispiel das „Schwarmverhalten“
der Dschihadisten, das heißt die klare
Trennung von Zentrale und Fußvolk ver-
schwimmt. Einmal im Internet präsente
Inhalte werden von den Anhängern so-
fort heruntergeladen und weiterverbrei-
tet, was ihre nachhaltige Löschung durch
Geheimdienste praktisch unmöglich
macht; weiter die Kombination von glo-

balem und regional fokussiertem Kampf.
Es wird auch klar, wie eng in den Inhal-
ten operationale Verhaltensweisen wie
Kampfformen, Waffenkunde, Waffenbe-
schaffung und Sicherheit der Kämpfer
mit ernsthafter religiöser Motivation ver-
knüpft sind, wobei man immer auch ver-
sucht, sich in der islamischen Tradition
beziehungsweise einem Strang der isla-
mischen Tradition zu verankern. Was die
Frage der Verbindung zwischen Zentrale
und „ausführenden Organen“ angeht,
gibt es sowohl die Einzeltäter („einsame
Wölfe“), die sich nur von der Ideologie
etwa des „Islamischen Staates“ (IS) inspi-
rieren lassen, wie auch zentral gesteuer-
te Aktionen.
Herzstück des Buchs ist die Präsentati-
on und Analyse eines Propagandavideos
des IS, „Salil as-Sawarim“ (das Klirren
der Schwerter) von Mai 2014, das enor-
mes Echo fand. Hier finden sich Szenen,
die man auch sonst aus der Propaganda
des IS kennt: durch die Wüste jagende
Pick-ups mit Bewaffneten, welche die ra-
sche Eroberung weiter Landstriche an-
deuten sollen. Weiter werden anfeuern-
de Reden zweier Kämpfer gezeigt, dann
eine Art Hymne des IS, eben „Salil as-Sa-
warim“. Irakische Schiiten, in der Ideolo-
gie des IS Todfeinde des sunnitischen Is-
lams, werden gejagt und getötet, „Agen-
ten“ (irakische Beamte unter der Regie-
rung al-Maliki) „entlarvt“ und ebenfalls
umgebracht, all das mit der größtmögli-
chen Brutalität und ohne jede Schönfär-
berei in der Präsentation. Dagegen wird
gezeigt, wie Sunniten, selbst solche, die
den IS bekämpft hatten, begnadigt und
integriert werden, wenn sie nur „rechtzei-
tig“ Reue zeigen. Damit versucht der IS
sich als wahren Vertreter aller Sunniten
zu stilisieren. Noch seine härteste und
grausamste Vorgehensweise wird immer
wieder unter Berufung auf islamische
Texte und Argumente gerechtfertigt und
damit als wahre Humanität ausgegeben.
Alle diese Beschreibungen und Analy-
sen sind plausibel und weitgehend rich-
tig; sie tragen zu unserer Kenntnis des IS
erheblich bei. Zweifellos ist es auch rich-
tig, die religiösen Motive bei dieser Grup-
pe und ihren Kämpfern ernst zu neh-
men. Man sollte sie aber nicht immer

wörtlich nehmen. Ihr Eifer, ihre Kampf-
bereitschaft und ihre Mordlust speisen
sich nicht hauptsächlich aus religiösen
Motiven, wie hier unterstellt wird. Dass
sie gerade diese mörderische Version des
Islams auf ihre Fahnen geschrieben ha-
ben und dass sie bei ihrer Durchsetzung
zeitweise so enorme Erfolge erzielt ha-
ben, muss anders erklärt werden. Entste-
hung und Siegeszug des IS im Irak ver-
danken sich weitgehend der Marginalisie-
rung und Unterdrückung der sunniti-
schen Bevölkerung nach der amerikani-
schen Intervention und unter schiiti-
schen Regierungen; seine Ausbreitung
auf weite Teile Syriens war nur dank des
dortigen Machtvakuums in der Folge der
syrischen Rebellion möglich – und dank
des Pragmatismus und der militärischen
Fähigkeiten baathistischer ehemaliger
Offiziere und Geheimdienstleute, die
sich dem IS nicht aus religiösen, sondern
aus politischen Motiven anschlossen,
dann aber in ihm ein ideales Betätigungs-
feld fanden. Es entstand ein Gebilde, in
dem sich kompetente, pragmatische und
skrupellose Machtpolitik mit einem radi-
kalen islamistischen Selbstverständnis
verband, das nicht nur der eigenen
Schlagkraft diente, sondern auch der Ak-
zeptanz bei vielen Muslimen weltweit,
die sich in der heutigen Welt unterdrückt
und marginalisiert sehen.
Das Buch ist an der Universität Wien
entstanden, aber auf Englisch publiziert
worden. Seine englische Sprache ist aber
so fehlerhaft, dass man nur auf ein völlig
fehlendes Lektorat schließen kann. Auch
die Umschrift arabischer Titel und Be-
griffe ist in einigen Fällen falsch. Dass un-
sere Wissenschaftsverlage ein Lektorat
offenbar zunehmend für entbehrlich hal-
ten, kann man nur bedauern.
ALEXANDER FLORES

Politische Bücher


Wer den Frieden will, der rüste sich für die EKD-Synode


Zwei neue Bücher zur Debatte über Militär und Kirche


Kirchentag 2019:Menschenkette für den Frieden. Die ist im Gegensatz zu manchen Buchthesen nicht kontrovers. Foto epd


Nicht hauptsächlich religiöse Motive


Eine Analyse der Verlautbarungen des „Islamischen Staates“ – und was man daraus lernen kann


Thilo Thielke weist in seinem F.A.Z.-Bei-
trag vom 12. Oktober zur Verleihung des
Friedensnobelpreises an den äthiopi-
schen Präsidenten Abiy Ahmed darauf
hin, dass der wichtigste Grund für die Eh-
rung der im Juli 2018 ausgehandelte Frie-
densschluss mit Eritrea sei. Eritrea, ein
Land, das in Deutschland bisher vor al-
lem durch seine hohe Zahl von asylsu-
chenden Flüchtlingen aufgefallen ist, hät-
te mit dem von Ahmed angestoßenen
Friedensvertrag eigentlich nun allen
Grund, sein strenges diktatorisches Re-
gime zu lockern. Stattdessen liest man,
dass die mit dem Friedensvertrag geöffne-
te Grenze im Dezember schon wieder ge-
schlossen wurde.
Die Nachricht brachte mich dazu, noch
einmal den am 21. März 2017 von Tho-
mas Scheen in der F.A.Z. verfassten un-
glaublichen Reisebericht über Eritrea zu
lesen. Darin beschrieb Scheen Eritrea als
„eine Nation, die auf gepackten Koffern
sitzt“. Wenn die Männer des Landes nicht
geflohen seien, dienten sie beim National
Service, dem Militärdienst. Flüchtlinge
seien von brutalen Strafen wie Folter und
Erniedrigung bedroht.
Es ist wohl dieser Tatbestand, der die
vom Bundesamt für Migration veröffent-
lichte Gesamtschutzquote so in die Höhe
treibt und mit aktuell 73,1 Prozent zur
zweithöchsten Anerkennungsquote nach
Syrien führt. Zwar zeigt die Statistik, dass
auch die Anzahl der Flüchtlinge aus Eri-
trea 2018 und 2019 rückläufig ist, dies gilt
aber auch für die meisten anderen Her-
kunftsländer. Und so steht Eritrea 2018
mit zirka 6000 Asylanträgen immer noch
an 7. Stelle auf der Liste.
Scheen berichtete weiter, dass die Aus-
reise mit „Leichtigkeit“ zu erreichen sei,
wenn der Eritreer sich verpflichtet, zwei
Prozent seines Einkommens an die Regie-
rung abzuführen. Wer diese Art von Dia-
sporasteuer gezahlt hat und nach drei Jah-
ren einen Asylbescheid eines europäi-

schen Landes in Händen hält, hat bei sei-
ner Einreise nichts zu befürchten: „Er ist
als Devisenbringer viel zu bedeutsam.“
Damit wird die Anerkennungspraxis des
Bamf zu einem Zugmotiv der Flüchtlinge
und gleichzeitig in Frage gestellt. Der Frie-
densschluss vom Juli 2018 scheint an die-
sem Mechanismus bisher nichts verän-
dert zu haben.
Dem Bürger stellt sich die Frage, wie
Deutschland dieser Herausforderung be-
gegnet. Vertieft man sich etwas in die Ma-
terie, so erfährt man, dass Entwicklungs-
hilfeminister Müller 2015 und 2018 mit
dem Präsidenten Eritreas, Isaias Afewer-
ki, zusammengetroffen sei. Dort sollten
eine viel kürzere Militärdienstzeit und die
Öffnung der Wirtschaft für den lokalen
Handel eingefordert werden. Man erhält
vom deutschen Außenministerium über
die Website der deutschen Botschaft in
Asmara die Information, dass Eritrea ein
interessantes Land sei, mit gastfreundli-
che Menschen, umwerfenden Landschaf-
ten und zahlreichen historischen Stätten,
insbesondere der schönen Hauptstadt As-
mara.
Beim Innenministerium, das für Asyl-
politik zuständig sein sollte, erhält man
bei Eingabe des Suchbegriffs „Eritrea“
nur die bereits beim Bamf veröffentlich-
ten Statistiken. Legt man alle zugängli-
chen Informationen nebeneinander, so er-
hält man den Eindruck, dass hier ohne
Kommunikations- und ohne Verantwor-
tungsbewusstsein drei Ministerien neben-
einanderher „wursteln“. Und dies, ob-
wohl die Nachricht des Friedensschlusses
zwischen Äthiopien und Eritrea und die
Vergabe des Friedensnobelpreises an den
Initiator des Prozesses zur Veränderung
nicht inspirierender sein könnten. Was
muss noch geschehen, dass Deutschland
in starkem eigenen Interesse Impulse zur
Senkung der Fluchtursachen in Eritrea
setzt?
SVEN TERN, AHRENSBURG

Zu „Lucke an Vorlesung gehindert“
(F.A.Z. vom 17. Oktober): Toleranz und
Freiheit beginnen immer mit der Verteidi-
gung der Freiheitsrechte der politischen
Gegner und bewähren sich darin. Die Tat-
sache, dass Bernd Lucke an der Universi-
tät Hamburg offenbar durch die sogenann-
te Antifa-Bewegung ziemlich rabiat dar-
an gehindert worden ist, seine Vorlesung
zu halten, zeigt, dass weiterhin nicht nur
Rechtsradikale und Rassisten sowie Isla-
misten, sondern auch Linksradikale unse-
ren freiheitlichen Rechtsstaat bedrohen.
Als Lucke, der Mitbegründer der AfD,
deren Vorsitzender war, handelte es sich
um eine europaskeptische Partei, die in
Gegnerschaft zur Euro-Währung entstan-
den war. Für mich, der ich seit frühester
Jugend ein überzeugter Anhänger der in
Deutschland von Adenauer begründeten,
allmählich auf die europäische Einigung
zusteuernden Politik war und die Einfüh-
rung des Euro als großen Fortschritt be-
trachtet habe, war die Lucke-AfD daher
ein politischer Gegner. Jedoch war sie we-
der rechtsradikal noch in irgendeiner Wei-
se nazifreundlich.
Lucke verließ die AfD, als sie begann,
sich stark nach rechts zu bewegen, frem-
denfeindlich wurde und nazifreundliche

Tendenzen innerhalb ihrer Mitgliedschaft
nicht mehr ausnahmslos konsequent be-
kämpfte. Lucke, wie es die Hamburger
Antifa-Studenten getan haben, als „Nazi-
Schwein“ zu beschimpfen, ist infam.
Etwas rätselhaft erscheinen die Worte
der grünen Wissenschaftssenatorin und
des Universitätspräsidenten, wenn sie in
diesem Zusammenhang dekretieren,
„dass Universitäten als Orte der Wissen-
schaft die diskursive Auseinandersetzung
auch über kontroverse gesellschaftliche
Sachverhalte und Positionen führen und
aushalten müssen – insbesondere vor dem
Hintergrund der deutschen Geschichte“.
Soll das etwa bedeuten, Professor Lucke
müsse sich die Beschimpfung als Nazi-
Schwein als diskursive wissenschaftliche
Auseinandersetzung gefallen lassen?
Dann hätten die beiden Persönlichkei-
ten sich auf das Niveau des Berliner Land-
gerichts begeben, das in seinem unsägli-
chen Beschluss der Berliner Grünen-Poli-
tikerin Künast ähnliche unflätige Bezeich-
nungen als gerade noch von der Mei-
nungsfreiheit gedeckt beurteilt hat. Ist
sich Frau Senatorin Fegebank dessen be-
wusst, oder hält sie grobe Beleidigungen
des politischen Gegners für eher gerecht-
fertigt als die von Parteifreunden?
RAINER WOLFF, MÜNCHEN

Zum Artikel „Widersprüchlich und keine
Lösung“ in der F.A.Z. vom 14. Oktober:
„Organabgabeerwartung mit Wider-
spruchsvorbehalt“ – „Schweigen bedeutet
Zustimmung“. Vor einem derartig existen-
tiellen Eingriff wie der Organentnahme
ohne Narkose soll nur ein hinterlegter Wi-
derspruch das Individuum schützen?
Bei jedem auch noch so kleinen chirur-
gischen Eingriff ist jedoch zu Recht die
Einwilligung des Patienten nach vorheri-
ger Aufklärung über Risiken und Neben-
wirkungen erforderlich.
Der uns immer sichere Tod ist auch in
unserer Zeit letztlich ein großes Tabuthe-
ma, mit dem man sich ungern beschäf-
tigt. Warum haben nur so wenige Bundes-
bürger ein Testament? Wie zu Recht be-
schrieben, sind die „Rechtsfolgen einer
Nichtbeschäftigung mit dem Thema ge-
wichtig“. Junge Menschen werden an-
ders darüber denken – da in weiter Ferne


  • als ältere.
    Warum nur wird nach den Mauschelei-
    en bei den Organspendeskandalen heute
    nicht mit offenen Karten gespielt und
    das genaue Procedere allgemeinverständ-
    lich erklärt? Ich kenne Ärzte und Pflege-
    kräfte, die nach der Teilnahme an einer
    Organentnahme ihren Spenderausweis
    vernichtet haben. Wenige Inhaber eines
    Spenderausweises registrieren, dass sie
    sich auch mit der Gewebeentnahme ein-


verstanden erklären, und wissen nicht,
was das bedeutet.
Zu Recht benennt der Artikel die vie-
len Unklarheiten über die Hirntoddefi-
nition und die konkrete Durchführung.
Organerhaltende Maßnahmen sind zwin-
gend erforderlich vor der Hirntod-
diagnostik, sonst sind die Organe nicht
brauchbar. Wie will man mit Patienten-
verfügungen umgehen, die viele haben,
da sie in aussichtslosen Fällen nicht am
Leben erhalten werden wollen?
Für die Hirntoddiagnostik müssen ta-
gelang alle Schmerzmittel abgesetzt wer-
den. Nur so kann festgestellt werden, ob
bei der mehrfachen Durchstoßung der
Nasenscheidewand, die extrem schmerz-
haft ist, noch Schmerzen empfunden wer-
den. Bei einer Fortbildungsreihe der Uni-
versität wurde der Referent, ein Fach-
arzt, der jahrelang Hirntoddiagnostik
durchgeführt hat, gefragt, wie oft festge-
stellt werde, dass kein Hirntod vorliegt.
Seine Antwort lautete: in 20 Prozent der
Fälle.
Ist es dann ethisch vertretbar, erst
nach all diesen unter Umständen sehr
schmerzbehafteten Prozeduren bei der
Hirntodfeststellung nachzuforschen, ob
ein Widerspruch vorliegt, wie es der Ge-
setzesentwurf vorsieht?
DR. MED. BRIGITTE KIENLEIN-KLETSCHKA,
ERLANGEN

Briefe an die Herausgeber


Zu „Dem Wahren, Schönen, Guten“ von
Edo Reents (F.A.Z. vom 14. Oktober):
Ein Bravo dem Feuilleton, dass es diesen
Essay veröffentlicht und nicht das Ein-
schreiten des „Bundesempörungsbeauf-
tragten“ fürchtet. Um ein Beispiel beizu-
steuern: Es soll einen deutschen Minister
geben, der sich regelmäßig darin gefällt,
nicht genehme Meinungen als „unanstän-
dig“ oder „widerlich“ zu bezeichnen. Eine
solche Debatte trägt zur Spaltung der Ge-
sellschaft bei und löst sogar Hass aus. Sie
verfehlt auch die wahren Bedürfnisse der

Menschen in diesem Lande. Sie finden es
als Zumutung, dass ihnen ständig eine
Einheitsideologie übergestülpt wird ohne
Rücksicht auf ihre individuelle Befindlich-
keit. Das trifft besonders auf die Men-
schen in den neuen Bundesländern zu.
Sie müssen sich immer noch vom Sozialis-
mus erholen und wollen von Einheits-
ideologien in Ruhe gelassen werden. Sie
sind allgemein menschlich, freundlich
und hilfsbereit und solidarisch mit ihren
Nächsten, was will man mehr.
DR. HARALD KALLMEYER, BERLIN

Eritrea – Friedensschluss und Flüchtlinge


Grobe Beleidigungen des Gegners gerechtfertigt?


Allgemein menschlich, freundlich und hilfsbereit


Das Procedere der Organentnahme

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