SYRIENKRIEG: DER TÜRKISCHE EINMARSCH
Noch nicht
verzweifelt
E
ine WhatsApp-Nachricht
aus Rakka: »Wir sind wohl-
auf. Aber unser Volk geht
durch eine schwere Zeit«,
schreibt Emina Osa. »Wir
haben alle Hände voll zu
tun, es sind Flüchtlinge
hier. Wir sind im Ausnahmezustand.«
Es ist Montagmorgen, genau eine Wo-
che nachdem an der nordöstlichen Grenze
Syriens die ersten US-Soldaten ihre Posten
räumten. Türkische Kampfjets bombardie-
ren im Norden, syrische Soldaten rücken
aus dem Süden vor, und russische Kampf-
jets kreisen über Ortschaften, in denen
kürzlich noch US-Truppen patrouillierten.
Videos zeigen gepanzerte Fahrzeuge der
US-Armee, die über die löchrigen Straßen
Nordsyriens rasen, auf dem schnellsten
Weg hinaus.
Für Emina Osa und Hunderttausende
Menschen in Nordsyrien endet eine
Hoffnung.
Die 42-jährige Osa ist eine ranghohe
Funktionärin der kurdisch-dominierten
»Autonomen Selbstverwaltung« im Nord-
osten Syriens. Die ZEIT traf Osa dort vor
sechs Monaten. Osa hatte in Rakka, einst
die »Hauptstadt« des IS-
Kalifats, eine Akademie für
Frauenbildung gegründet.
In der ZEIT erschien eine
Reportage darüber (Nr.
19/19). In der Akademie
stand Osa, leise und ernst,
in wetterfester Jacke und
festen Stiefeln vor einer
Klasse erwachsener Frauen
und sagte: »Wer die Gesell-
schaft verändern will, muss
sich zuerst selbst ändern.«
Nach dem Einmarsch der Türkei ver-
gangene Woche schrieb Osa: »Die Akade-
mie ist vorerst geschlossen. Die Frauen ha-
ben wir nach Hause geschickt.«
Osa und die Frauenakademie verkör-
pern das System, das hier gerade kollabiert.
Dessen Credo: die Emanzipation der Frau,
die Befreiung der Gesellschaft. Freiheit für
die Kurden. Es ist die Ideologie von Abdul-
lah Öcalan, dem Anführer der Kurdischen
Arbeiterpartei PKK. Für Osa und andere
Kurden Syriens war deren Kampf gegen
den türkischen Staat lange ein Vorbild.
Auch die Kurden Syriens wurden jahrzehn-
telang vom Staat drangsaliert. Doch als das
Assad-Regime während des rebellischen
Jahres 2011 wankte, schlossen kurdische
politische Führer einen informellen Pakt
mit Damaskus. Sie würden das Regime
nicht angreifen – und dafür den Nordosten
Syriens künftig selbst verwalten, wo beson-
ders viele Kurden wohnen.
Es entstand ein gut organisierter Quasi-
Staat; politisch unter der strikten Kontrolle
der PKK-nahen PYD-Partei, aber doch
deutlich freiheitlicher als das Syrien Assads.
Die kurdischen Kampfverbände wurden
zum wichtigsten Partner der US-geführten
Koalition gegen den IS.
Nun endet dieser Quasi-Staat, wie er
begonnen hat: im Einvernehmen mit Da-
maskus.
»Wir sind nicht für das Regime. Wir
haben es rufen müssen, um die barbari-
schen Angriffe der Türkei zu stoppen«,
schreibt Osa am Montag.
Schon im Frühjahr zeigte sich die Angst
vor einer türkischen Militäraktion. Entlang
der Landstraßen nach Rakka gruben kur-
dische Kämpfer Gräben und Tunnel: Ver-
teidigungsanlagen gegen einen möglichen
türkischen Angriff. Das wirkte irgendwie
überzogen – die USA würden wohl kaum
der Türkei das Feld überlassen. Und hilflos
- solche Gräben würde die zweitstärkste
Nato-Armee sicherlich nicht aufhalten kön-
nen. Während des Einmarsches vergangene
Woche konnten die kurdischen Kämpfer
die Löcher schon nicht mehr nutzen. Sie
hatten die Anlagen im Sommer auf Geheiß
der US-Armee zerstört. Eine »vertrauens-
bildende Maßnahme« gegenüber der Tür-
kei, wie es hieß.
Inzwischen sind nach Angaben der syri-
schen Beobachtungsstelle für Menschen-
rechte mindestens 158 kurdische Kämpfer,
82 Zivilisten und 128 türkische Soldaten
sowie deren Verbündete getötet worden.
Mehr als 250.000 Menschen haben ihre
Häuser in den grenznahen Ortschaften ver-
lassen, überwiegend Kurden.
Viele sehen im Assad-Regime das kleine-
re Übel. Zwar waren Kurden unter den
Assads stets Bürger zweiter Klasse; Emina
Osa erzählte im Frühjahr noch, dass in ihrer
Schule die kurdische Sprache verboten war,
dass ihre Dörfer stets arm blieben, obwohl
sie auf den größten Ölfeldern des Landes
standen. Ihrem Vater entzogen die syrischen
Behörden wie Tausenden
anderen Kurden die Staats-
bürgerschaft. Aber man ließ
sie leben.
Jetzt zeigt das syrische
Staatsfernsehen Bilder von
Soldaten, die von jubelnden
Kurden begrüßt wurden.
Ist das die Unterwer-
fung? Ist die Zukunft der
Kurden, Unterdrückung zu
erleiden wie vor 2011?
Emina Osa gibt sich
kämpferisch: »Es kann nicht so werden wie
früher. Dafür haben wir zu viel aufgebaut.«
Sobald die Lage ruhiger sei, würden sie
auch an der Akademie wieder unterrichten.
Es ist die Linie der Partei bis Redaktions-
schluss: Das Abkommen mit Damaskus sei
rein militärisch. Die syrische Armee helfe
lediglich, die türkische Invasion abzuweh-
ren. Die Selbstverwaltung Nordsyriens blei-
be bestehen.
Wahrscheinlich wird es anders kom-
men. Das syrische Regime hat immer da-
rauf bestanden, wieder uneingeschränkt
über ganz Syrien zu herrschen. Und nun,
da die Kurden keine Verbündeten mehr
haben, fehlt ihnen jedes politische Ge-
wicht, das zu verhindern.
Eine Ahnung davon, wie sich das an-
fühlen wird, gibt der Übersetzer, der die
Reporterin der ZEIT im Frühjahr zu Emi-
na Osa nach Rakka begleitete. Er kennt
beide Welten: die der ewig kämpferischen
Kurden und den unerbittlichen Repressi-
onsapparat des Regimes. Als Kind eines
kurdisch-arabischen Paars ist er im Nord-
osten Syriens aufgewachsen, lebt aber mit
seiner Frau seit Jahren in Damaskus. Die
innersyrische Grenze konnte er all die
Jahre problemlos überqueren. Nur dass er
im Nordosten mit ausländischer Presse
arbeitet, durften die Geheimdienste in
Damaskus nie erfahren. Deshalb sollte
sein Name schon im Frühjahr nicht
genannt werden. Am Dienstag dieser Wo-
che schickt er eine Sprachnachricht. »Die
Kurden haben einen Deal mit dem Teufel
gemacht«, sagt er und meint das Assad-
Regime. »Aber besser ein Deal mit dem
Teufel als noch einer mit den Amerika-
nern oder Europäern. Die haben uns noch
immer verraten.«
Emina Osa, 42, hat eine
Frauenakademie in der
ehemaligen IS-Zentrale
Rakka gegründet
Die Kurdinnen sind stolz auf ihre Emanzipation. Jetzt fürchten
sie die Rückkehr des Assad-Regimes VON LEA FREHSE
Foto: Jacob Russell
»Die Kurden
haben einen
Deal mit
dem Teufel
gemacht«
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- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 POLITIK 5