36 sport FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42
E
r ist wieder da, auf der großen
Bühne. Aber auf einer anderen.
Am Donnerstagabend stand Dirk
Nowitzki im Schauspielhaus Frankfurt
und las gemeinsam mit dem Schriftstel-
ler Thomas Pletzinger Passagen aus sei-
ner Biographie „The Great Nowitzki“.
Mehr als 500 Seiten ist das Werk stark,
und es beginnt dort, wo Nowitzkis Kar-
riere zu Ende gegangen ist: am 10. April
dieses Jahres in Dallas, dem letzten
Heimspiel der Mavericks in der Saison.
An dem Tag also, an dem Nowitzki sein
Karriereende bekanntgab. Nach 21 Spiel-
zeiten und 1522 Partien für die Dallas Ma-
vericks, nach 31 560 Punkten, nach dem
Gewinn der Meisterschaft im Jahr 2011,
nach etlichen persönlichen Auszeichnun-
gen, nach Siegen und Tiefschlägen.
Aber das ist noch längst nicht alles. No-
witzki, so formuliert es Pletzinger, „hat-
te ein amerikanisches Spiel grundlegend
verändert, er hatte es revolutioniert. Bas-
ketball seit Nowitzki war anders als Bas-
ketball vor ihm: beweglicher, variabler,
weniger erwartbar, feiner, raffinierter.“
Die Großen müssen nicht mehr länger
unter dem Korb auf Bälle warten, sie
werfen von außen, haben inzwischen so-
gar Spielmacherqualitäten.
Nowitzkis Weg beschreibt Pletzinger,
der einst selbst von einer Karriere als Bas-
ketball-Profi träumte, als wäre er immer
dabei gewesen. Weil er das aber nicht
war, zieht er vieles unter anderem aus Ge-
sprächen mit Nowitzki und dessen Men-
tor, Trainer und Begleiter Holger Ge-
schwindner. Herausgekommen ist ein be-
eindruckendes Sportbuch, das von Nähe
lebt, zugleich an verschiedenen Stellen
aber auch deutlich macht, was diese
Nähe kostet: Eine niederländische Di-
rektbank, persönlicher Sponsor von No-
witzki, taucht immer wieder auf – und
als Leser fragt man sich schon, welche in-
haltliche Relevanz so manch eine Erwäh-
nung hat. Sei es drum, Nowitzki gefällt
das Buch. „Hat er gut gemacht“, sagte er
in Frankfurt.
Dabei ist Nowitzki trotz seiner Größe
von 2,13 Metern, seiner beeindruckenden
Laufbahn und seiner weltweiten Populari-
tät gar kein Mann für den großen Auf-
tritt. Auch aus der NBA hätte er sich lie-
ber still und leise verabschiedet. Umso
mehr hat er zuletzt die Ruhe genossen,
die es in dieser Art in seinem durchgetak-
teten Erwachsenenleben womöglich
noch nie gegeben hat. Seit einem halben
Jahr habe er überhaupt nicht mehr trai-
niert, er sei gereist und habe vor allem ge-
gessen, was er wollte und wann er wollte.
Zum Frühstück gab es da schon mal ein
Eis. Der Alltag als NBA-Profi ist da auf
einmal ganz weit weg.
Die alten Kollegen sind am Ende ihrer
Saisonvorbereitung. Nur wenige Stunden
nachdem Nowitzki in Frankfurt las, be-
stritten die Mavericks ihr letztes Spiel in
der Pre-Season gegen die Los Angeles
Clippers und siegten 102:87. Es gibt nun
neue Hauptdarsteller in Dallas, und wie-
der kommen sie aus Europa: der Slowene
Luka Doncic und der Lette Kristaps Por-
zingis. „Ich hoffe, dass Dallas mal wieder
in die Play-offs kommt. Ich glaube, dass
wir schon letztes Jahr gezeigt haben, dass
wir auf dem richtigen Weg sind“, sagte
Nowitzki. Die Favoriten in der am kom-
menden Dienstag beginnenden Saison
aber werden andere sein – allen voran die
beiden Teams aus Los Angeles, das sich
als neues Kraftzentrum der NBA etablie-
ren könnte. Die Clippers verpflichteten
im Sommer unter anderem Kawhi Leo-
nard vom Meister Toronto Raptors und
Paul George aus Oklahoma und warten
auf einmal mit einem neuen Superstar-
Duo auf. Die Lakers hatten sich schon
vor einem Jahr die Dienste von LeBron
James gesichert, nun stößt auch noch An-
thony Davis aus New Orleans dazu; ge-
meinsam könnten sie die Lakers wieder
zu einer großen Nummer machen. Auch
die Philadelphia 76ers, die Milwaukee
Bucks und die Houston Rockets zäh-
len zum großen Kreis der Favoriten.
Nowitzki, der künftig womöglich
als Geschäftsmann oder Anteilseig-
ner der Mavericks wieder ins Ram-
penlicht treten könnte, wird sich
das Ganze erst einmal aus der Di-
stanz anschauen
und eine Auszeit
von einem weite-
ren halben Jahr neh-
men. „Ich will etwas
Abstand gewinnen, aber
ich kann ja nicht von heu-
te auf morgen sagen, das in-
teressiert mich nicht mehr“,
sagte Nowitzki. Es ist sein Leben.
Thomas Pletzinger, „The Great Nowitzki“.
Mit Fotos von Tobias Zielony. Kiepenheuer &
Witsch, 512 Seiten, 26 Euro.
Abstand gewinnen lautet das Saisonziel für den deutschen Basketballstar in Rente.Von Michael Wittershagen
KOPF DER WOCHEDIRK NOWITZKI
Neuseeland und
England im Halbfinale
Titelverteidiger Neuseeland und
England haben das Halbfinale der
Rugby-Weltmeisterschaft in Japan er-
reicht und treffen dort am kommen-
den Samstag aufeinander. Neusee-
land gewann am Samstag in Tokio
46:14 gegen Irland. Zuvor siegte Eng-
land 40:16 gegen Australien. dpa
Ackermann gewinnt
Etappe in China
Radprofi Pascal Ackermann hat bei
der Guangxi-Rundfahrt in China sei-
nen zwölften Saisonsieg gefeiert.
Der 25-Jährige vom Team Bora-hans-
grohe setzte sich am Samstag nach
143 Kilometern rund um Nanning
vor dem Weißrussen Alexander Ria-
buschenko und Matteo Trentin aus
Italien durch. Ackermann behaupte-
te damit seine Führung in der Ge-
samtwertung. dpa
Draisaitl und Oilers
siegen weiter
Eishockey-Nationalspieler Leon
Draisaitl ist mit den Edmonton Oi-
lers der siebte Sieg im achten Spiel
gelungen. Der Angreifer steuerte
beim 2:1-Erfolg gegen die Detroit
Red Wings die Vorlage zum zwi-
schenzeitlichen 2:0 (33.) bei. Der
23-Jährige war bisher in jedem Sai-
sonspiel an mindestens einem Tref-
fer der Oilers beteiligt. dpa
W
er sich in diesen Tagen
nach Fuchu zu einer der
großen Fanzonen mit Pu-
blic Viewing in Tokio auf
den Weg macht, der wird von einem Slo-
gan empfangen. „Let’s watch the great
power of live battle of men on the big
screen!“ ist dort auf den Plakaten zu le-
sen. Und wenn man es nicht besser wüss-
te, dann könnte man denken, dass es
sich um die Ankündigung eines giganti-
schen Sumo-Ringkampfs handeln könn-
te. Doch in Wirklichkeit dreht sich in Ja-
pan momentan alles um die Weltmeister-
schaft im Rugby, und es ist mittlerweile
auch für die größten Ignoranten nicht
mehr zu übersehen, dass das Spiel mit
dem Ei das Land im Sturm erobert hat.
An diesem Sonntag (Anpfiff: 12.15 Uhr
MESZ) trifft das Team im Viertelfinale
der WM auf Südafrika.
Auf den Titelblättern der japanischen
Tageszeitungen sind schon seit Tagen
nur noch muskulöse Männer in rot-weiß
gestreiften Trikots zu sehen. Die TV-
Einschaltquoten bei Spielen mit japani-
scher Beteiligung haben sich seit dem Er-
öffnungsspiel gegen Russland vor drei
Wochen verdoppelt und liegen mittler-
weile zwischen 50 bis 60 Millionen, was
einem Anteil von fast der Hälfte der Ge-
samtbevölkerung entspricht. Für die
„Brave Blossoms“, so der Spitzname des
japanischen Teams, werden die Sende-
plätze angesagter Fernsehproduktionen
verschoben. Und im größten Merchandi-
sing-Shop, dem Megastore am Bahnhof
Tokio-Shinjuku, sind die Nationaltrikots
der Japaner längst nicht mehr zu finden.
Mehr als 200 000 Exemplare wurden bis-
lang verkauft.
Rugby war in Japan, wo vor allem
Baseball regiert, bisher noch keine große
Sportart. Doch das hat sich in den ver-
gangenen vier Jahren grundlegend geän-
dert. Den Startschuss hatte der Sensati-
onssieg gegen Südafrika bei der WM vor
vier Jahren in England gegeben. Davor
hatte Japan zwar seit 1987 an allen Welt-
meisterschaften teilgenommen, aber da-
bei lediglich ein einziges Spiel gewinnen
können. Im eigenen Land nun sind die
„Brave Blossoms“ wie ein Orkan durch
ihre Gruppenspiele gefegt und haben
nicht nur Russland und Samoa besiegt,
sondern auch bis vor kurzem noch un-
schlagbar scheinende Rugby-Nationen
wie Schottland und Irland. Nach vier
überzeugenden Siegen in vier Spielen
überschlugen sich die nationalen und in-
ternationalen Medien mit Lob für die Ja-
paner. Für den englischen „Spectator“
zeigten sie sogar schnelleres und einfalls-
reicheres Rugby als die legendären All
Blacks. „Das Spiel gegen Schottland war
vielleicht eines der attraktivsten Rugby-
Spiele aller Zeiten“, so das Magazin.
„Hoffen wir, dass Rugby im japanischen
Stil das Spiel aus den Klauen der einfalls-
losen Muskelmänner ziehen kann.“
Zur Symbolfigur des überraschenden
Aufstiegs der japanischen Nationalmann-
schaft ist Kapitän Michael Leitch gewor-
den. Seit er mit einem ungewöhnlich ris-
kanten Pass im allerletzten Spielzug den
sensationellen Sieg der Japaner gegen
Südafrika bei der vergangenen WM ein-
geleitet hatte, ist er das Gesicht des japa-
nischen Rugbys und repräsentiert das
alte und das neue Japan gleichermaßen.
Der 31-Jährige hat eine fidschianische
Mutter, ist in Neuseeland geboren, kam
aber mit 15 an eine japanische
Highschool und spricht mittlerweile bes-
ser Japanisch als Englisch. Leitch hat die
japanische Kultur so sehr verinnerlicht,
dass sein einstiger Nationaltrainer Eddie
Jones angeblich drei Jahre gebraucht hat-
te, um seinen Kapitän davon zu überzeu-
gen, die Fesseln der japanischen Unter-
würfigkeit abzulegen, um ein dynami-
scher Anführer zu werden. Leitch führt
nun eine Mannschaft aufs Feld, die die
Aura einer hollywoodesken Superhelden-
truppe umweht. Dabei hat jeder seine ei-
gene Geschichte. Und nur wenige sind
wirklich typisch japanisch. Kotaro Ma-
tsushima zum Beispiel hat bei der WM
bisher nicht nur die meisten Versuche er-
zielt, sondern mit seinem Sturmläufen
die Zuschauer auch reihenweise aus ih-
ren Sitzen gerissen. Der 26-Jährige mit
der Starkstromfrisur hat einen zimbabwi-
schen Vater und eine japanische Mutter,
ist in Südafrika geboren, lebt aber seit sei-
nem fünften Lebensjahr in Japan. In der
Abwehr spielt der schwergewichtige Koo
Ji-Won, der in Südkorea geboren wurde,
aber in Japan die Highschool und die
Universität besuchte und 2015 japani-
scher Staatsbürger wurde. Der blonde
Hüne James Moore ist in Australien ge-
boren, Timothy Lafaele in Samoa. Beim
platinblond gefärbten Isileli Nakajima ist
lediglich der Nachname japanisch. Er
wurde auf Tonga geboren und war als
Teenager vom Scout einer japanischen
Universität nach Japan geholt worden. In
den Gruppenspielen der WM bestand le-
diglich die Hälfte des Teams aus gebürti-
gen Japanern, was für die einen den viel-
fältigen modernen Charakter der Nation
widerspiegelte, andere aber mit den ex-
zentrisch zu nennenden Regeln des
Welt-Rugby-Verbandes hadern lässt.
Nach denen reicht bereits ein dreijähri-
ger Aufenthalt in einem Land aus, um
für ein Nationalteam spielen zu können.
Nach anfänglicher Kritik an der Multi-
kulti-Truppe stehen mittlerweile viele Ja-
paner dem umfangreichen Einfluss ande-
rer Kulturen positiv gegenüber. So sieht
auch der ehemalige Auswahlspieler To-
shiaki Hirose im besonderen Mix der
Rugby-Nationalmannschaft eine ihrer
Stärken. „Außerhalb des Sports
schrumpft unsere Bevölkerung, und wir
brauchen deshalb Ausländer, die einwan-
dern“ sagt Hirose, der 2012 und 2013 Ka-
pitän der japanischen Auswahl war. „Es
ist eine wichtige Lektion, nicht nur für
das japanische Rugby, sondern auch für
das Land selbst, dass die Vermischung
verschiedener kultureller Einflüsse aus ei-
nem ursprünglich mittelmäßigen Team
ein erfolgreiches machen kann.“
Wie das im Konkreten aussieht, illus-
trierte Masahiro Kunda, früher eben-
falls Kapitän des japanischen Rugby-
Teams. „Seit wir so viele Spieler unter-
schiedlicher Herkunft in unserer Aus-
wahl haben, sind wir erstmals in der
Lage, präzise Änderungen in unserer
Taktik und Strategie vorzunehmen“,
sagt er. „Unter den Japanern, die einen
weitgehend ähnlichen kulturellen Hin-
tergrund haben, sind zahlreiche nonver-
bale Hinweise ein Teil der Kommunika-
tion.“ Der Begriff dieses Prinzips wird
mit „a-un no kokyu“ umschrieben und
bezieht sich darauf, die Handlungen an-
derer zu antizipieren und dementspre-
chend zu handeln. Tatsächlich könne
man, so Kunda, mit dem „a-un no ko-
kyu“-Ansatz jedoch keine Einzelheiten
herausarbeiten. Bei ausländischen Spie-
lern im Team muss man jedoch alles im
Detail darlegen. Und das macht nun un-
seren gerade so bewunderten flexiblen
und variablen Spielstil erst möglich.“
In Japan, das sich immer noch als
geschlossene, mono-ethnische Gesell-
schaft sieht, in der nur jedes fünfzigste
Kind Eltern unterschiedlicher Herkunft
hat und in der ein Ausländeranteil von
zwei Prozent der mit Abstand niedrigste
aller fortgeschrittenen Industrienatio-
nen ist, bedeutet das Aufbrechen einiger
dieser starren Traditionen eine große
Anpassungsleistung. Ein Weg, der für
Kensuke Iwabuchi allerdings unumkehr-
bar ist. „Wir haben jetzt in der National-
mannschaft Koreaner, Australier, Süd-
seeinsulaner und sogar einen halben
Afrikaner.“ Sie alle machten, so der Vor-
sitzende der Japan Rugby Football Uni-
on, die Nationalmannschaft nicht nur er-
folgreich, sondern zu einem Symbol für
kulturelle Vielfalt. „Das hätten sich die
Japaner vor zehn Jahren nicht vorstellen
können. Aber da ist es nun, sogar im
Fernsehen, wo alle zuschauen. Das ist Ja-
pans Zukunft.“
Eis zum Frühstück
New York(sid).Unterstützer der
pro-demokratischen Proteste in
Hongkong haben das Vorbereitungs-
spiel der Brooklyn Nets gegen den
NBA-Champion Toronto Raptors
(107:123) in New York mit einer
Kundgebung begleitet. Die Demons-
tranten trugen vor dem Barclays
Center T-Shirts, mit denen sie zur
Solidarität mit Hongkong aufriefen.
Zudem gab es Sprechchöre. Die
Nets waren Anfang des Monats Teil
der „Twitter-Krise“ zwischen der
NBA und China geworden. Vor
zwei Testspielen der New Yorker ge-
gen die Los Angeles Lakers im
Reich der Mitte hatte der General
Manager der Houston Rockets, Da-
ryl Morey, im sozialen Netzwerk sei-
ne Unterstützung für die pro-demo-
kratischen Demonstranten in Hong-
kong zum Ausdruck gebracht und
damit in China für einen Sturm der
Entrüstung gesorgt.
Als Reaktion hatte das chinesische
Fernsehen die Live-Übertragung
der beiden Tests gestrichen. Zwei
Pressetermine mit Spielern und
Klub-Offiziellen wurden von den
Chinesen abgesagt. Die Spiele fan-
den aber statt. Lakers-Superstar Le-
Bron James hatte sich im Nachgang
von Moreys Aussagen distanziert
und damit für Irritationen gesorgt.
Im Gegensatz dazu sagte Nets-Star
Kyrie Irving nach dem Spiel gegen
die Raptors: „Die Wahrheit ist, dass
es unser Job ist, dafür einzustehen,
woran wir glauben.“ Zuletzt sagte
NBA-Boss Adam Silver, dass die Af-
färe „ziemlich dramatische“ finan-
zielle Folgen für die Liga habe.
MELDUNGEN
Japan feiert seine Rugby-Nationalmannschaft
als sportliche Offenbarung, aber auch als
Katalysator des gesellschaftlichen Wandels.
Von Christian Henkel, Tokio
Vier Spiele, vier Siege: Das japanische Multikulti-Team mischt die Rugby-WM im eigenen Land auf. Foto AFP
Dirk
Nowitzki
Foto Jan Hübner
Solidarität
mit Hongkong
Demonstranten bei
NBA-Vorbereitung
Superhelden
auf Starkstrom
Im Rugby-Fieber: Japan entdeckt das Ei für sich. Foto Reuters