FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 medien 43
W
ährend die Wahrschein-
lichkeit eines Impeach-
ments gegen den amerika-
nischen PräsidentenDonald
Trumpwächst, muss man den Ver-
such eines medialen Amtsenthe-
bungsverfahrens gegen ihn wohl als
gescheitert betrachten. Im Zuge
der Vorwürfe gegen Trump hatte
die demokratische Präsidentschafts-
kandidatinKamala Harrisgefor-
dert, Trumps Twitter-Konto zu
sperren, weil er kontinuierlich ge-
gen die Regeln des Dienstes versto-
ße. In einem Brief an Twitter-Ge-
schäftsführer Jack Dorsey hatte
sich Harris unter anderem über
Tweets beschwert, in denen Trump
den Whistleblower scharf angegan-
gen war, der die Ermittlungen in
der Ukraine-Affäre ins Rollen ge-
bracht hatte, sowie über jene, in de-
nen er einen Bürgerkrieg prognosti-
zierte, falls er aus dem Amt gewor-
fen werde. Twitter hatte Trump
(und anderen Staatschefs und Re-
gierungsmitgliedern) in der Vergan-
genheit auch Tweets durchgehen
lassen, die gegen die Hausregeln
verstoßen, weil das öffentliche In-
teresse überwiege. Nun hat Twitter
in einem Blog-Beitrag seine Son-
derregeln für ranghohe Politiker
konkretisiert: „Wir wollen klarstel-
len, dass die Accounts von Regie-
rungschefs nicht komplett über un-
seren Regeln stehen“, heißt es. Bei
schwerwiegenden Verstößen wie
bei der „Verherrlichung von Terro-
rismus“, bei „klarer und direkter
Androhung von Gewalt“ werde es
keine Nachsicht geben. In weniger
drastischen Fällen jedoch, auch bei
rassistischen oder anderen „hass-
erfüllten“ Beiträgen, neige man
eher dazu, Ausnahmen zu machen.
Twitter stehe „für den Wert des di-
rekten Zugangs zu mächtigen Figu-
ren“. Die Verantwortlichen mach-
ten auch deutlich, wie schwer die
Abwägung sein kann: „Wir verste-
hen das Bedürfnis, unsere Entschei-
dungen mögen binär mit ,ja/nein‘
ausfallen, aber so einfach ist es
nicht.“ Auf den Hilfeseiten von
Twitter, wo die Prinzipien genauer
erklärt werden, heißt es: „Wir hal-
ten es für entscheidend, dass wir je-
den Fall einzeln bewerten, und
zwar unter Berücksichtigung des
Kontexts und der Geschichte.“
Erst nach und nach werde so ein
Fallarchiv entstehen, welches die
Entscheidungen mit der Zeit einfa-
cher machen werde.
Twitter gibt sich viel Mühe, die
eigenen Entscheidungsprinzipien
transparent zu machen. Was wohl
vor allem daran liegt, dass man
sich in den zukünftigen „Einzelfäl-
len“ solche Erklärungen sparen
will. „Dieser Post möchte klare Ein-
blicke davon vermitteln, wie wir
auf Twitter heute mit Beiträgen
von Regierungschefs umgehen,
und er wird als unsere Stellungnah-
me zu den Entscheidungen dienen,
die wir treffen, statt dass unsere
Teams sich zu einzelnen Tweets
und Entscheidungen äußern.“
In der Debatte der demokrati-
schen Präsidentschaftskandidatin-
nen am Dienstag versuchte Harris’
Kontrahentin Elizabeth Warren
die Prioritäten zurechtzurücken:
„Ich will Donald Trump nicht nur
bei Twitter rauswerfen. Ich will ihn
aus dem Weißen Haus werfen.“
Wobei sich wohl das eine mit dem
anderen erledigen würde.
I
ch beneide eure Generation. Ihr
schert euch nicht so sehr um die
Regeln“, sagt der Mann mit den
graumelierten Haaren zur sieb-
zehnjährigen Jules. „Nicht so wie
wir, die Erwachsenen“, scheint er zu-
gleich sagen zu wollen. Jules, gespielt
von Hunter Schafer, ist neu in der na-
menlosen Vorstadt irgendwo im durch-
schnittlichen Amerika, in der die HBO-
Serie „Euphoria“ spielt. Jules ist schlank
und blond und schön, trägt kurze Röcke
und buntes Make-up. In einer Teenie-Se-
rie aus den neunziger Jahren wäre sie in
der Schule das beliebte Mädchen gewe-
sen. In „Euphoria“ ist sie eine Außensei-
terin. Aber zumindest ist sie nicht allei-
ne. Ihre beste Freundin ist Rue, gespielt
vom ehemaligen Disney-Channel-Star
Zendaya. Sie ist die allwissende Erzähle-
rin der Serie und ihre Stimme die einer
Generation, die sich anscheinend nicht
an die Regeln hält.
Rue ist, so sagt sie, einmal glücklich
gewesen, das war, als sie noch im Bauch
ihrer Mutter lebte. Dann verlor sie ihren
„ersten, aber nicht letzten Kampf “ und
wurde geboren, obwohl sie das gar nicht
wollte. Drei Tage nach dem 11. Septem-
ber, weshalb die ersten Momente ihres
Lebens von Bildern der fallenden Türme
überschattet wurden. Schnell stellt eine
Psychologin fest, dass sie „gestört“ sei;
sie leide mindestens an Zwangsstö-
rungen, Aufmerksamkeitsdefizitstörung,
Angststörung,„eventuell auch bipolare
Störung, aber sie ist ein bisschen zu jung,
um das feststellen zu können“.
Also wird Rue schon früh medikamen-
tös eingestellt, und durch die Krebser-
krankung ihres Vaters kommt sie in Kon-
takt mit Pillen und schnell auch mit ande-
ren Substanzen, um sich zu betäuben.
Als Jules in die Stadt zieht, kommt Rue
gerade aus der Entzugsklinik, in die sie
wegen einer Überdosis eingeliefert wur-
de. Sofort besucht sie wieder ihren
Dealer Fezco (Angus Cloud), der ihr pro-
phezeit, dass sie und Jules beste Freunde
sein werden. Und so wird Jules schnell
zum Hoffnungspunkt in Rues Leben.
Rue ist smart und vielleicht deswegen
so pessimistisch, wenn sie Folge für Fol-
ge analysiert, wie die Jungen und Mäd-
chen um sie herum zu den jungen Frau-
en und Männern geworden sind, die sie
sind. Da gibt es Maddy (Alexa Demie),
die schon früh lernt, dass es einfacher ist,
durch Schönheit als durch Fleiß aufzufal-
len, und Cassie (Sydney Sweeney), deren
Mutter stets ein Glas Chardonnay in der
Hand hat und die deshalb Halt bei ihrem
Freund sucht. Oder Kat (Barbie Ferrei-
ra), die unter ihrem Gewicht leidet, dann
aber ein Alter Ego als Camgirl kreiert
und das Selbstbewusstsein, das sie online
hat, auf ihr echtes Leben überträgt.
Was die Serie für ihre weiblichen Cha-
raktere leistet und nuanciert beschreibt,
das schafft sie leider nicht genauso gut
für die männlichen Figuren. Der über-
starke Vater, der sportliche Höchstleis-
tung erzwingen will, wird von beiden
Hauptfiguren, Nate (Jacob Elordi) und
McKay (Algee Smith), verkörpert. Nate
vereint als meistgehasster und meistver-
ehrter Quarterback der Schule dann
doch zu sehr die Stereotype amerikani-
scher Teeniefilme in sich. Vielleicht zeigt
sich aber in diesen Figuren, dass die
Männlichkeitsbilder in der amerikani-
schen Popkultur doch immer noch recht
beschränkt sind und dass selbst einer Se-
rie wie „Euphoria“ hier die nötige Kreati-
vität fehlt.
Die Welt, die Rue beschreibt, ist be-
stimmt von Sex, Gruppenzwang, Nöti-
gung, Drogen und Gewalt. Und immer
wieder stellt sich die Frage, ob diese
Welt, in der die Jugendlichen leben, eine
von ihnen selbst geschaffene ist oder ob
sie nur all das Schlechte der Gesellschaft
um sie herum absorbiert und fortführt.
Sam Levinson, der die Serie kreiert hat,
entwickelte Rues Charakter aus seinen ei-
genen Erfahrungen mit Drogen und psy-
chischen Problemen, bevor er mit 19 Jah-
ren dann clean wurde.
Die Serie hat er gemeinsam mit den
Machern des israelischen Originals von
2012 produziert, das allerdings in den
neunziger Jahren spielt. Die Adaption
zeigt nun also eine andere Generation:
nämlich die „Gen Z“, die als erste wirkli-
che Digital-Native-Generation ihre Ju-
gend abgekapselt von den Eltern durch-
lebt und sich ihnen in vielem überlegen
fühlt. Denn durch das Internet erzieht
sie sich selbst: Pornos werden geschaut,
um Sexposen nachzuahmen, Wirkungen
von Pillen und chemischen Drogen nach-
geschlagen, Geld auf zwielichtigen Web-
sites verdient.
Was „Euphoria“ so glaubwürdig
macht, ist Levinsons Anspruch, die Serie
eben nicht dokumentarisch zu gestalten,
wie es beispielsweise die britische Serie
„Skins“ tat, mit der „Euphoria“ oft vergli-
chen wird. Die Metaebene, auf der Rue
erzählt, die übertriebenen Outfits der
Protagonistinnen, die gleitenden Kame-
rafahrten und der ständig präsente
Soundtrack (Drake produzierte die Serie
mit) gestalten die Smartphone-Social-
Media-Welt der Figuren viel anschauli-
cher, anstatt sie nur zu beobachten. So
nutzt die Serie ihre Erzählform, um zu
kommentieren, zu präsentieren, durch
die eigene Welt zu scrollen und dabei
ständig Kopfhörer aufzuhaben.
In den Vereinigten Staaten wurde
„Euphoria“ vorgeworfen, pornogra-
phisch zu sein. Der Vorwurf ist nachvoll-
ziehbar, schließlich sieht man nicht nur
Sex zwischen den Charakteren, sondern
auch tatsächliche Ausschnitte aus Inter-
netpornos. Levinson scheut sich nicht,
Körper, vor allem männliche, nackt zu
zeigen – was vermutlich den eigentli-
chen Skandal darstellt, weil die in Main-
streammedien sonst eher selten zu sehen
sind. Diese expliziten Darstellungen
kann man kritisieren. Aber sie zeigen
auch, wie anders die Beziehung der
Generation Z zu Sex und Nacktheit ist.
Cassie, deren Fotos und Videos vor al-
lem unter den Jungs herumgereicht wer-
den, entscheidet sich, nichts dagegen zu
tun. „Sie dachte sich, dass, wenn sie
später studieren und einen Job suchen
würde, sowieso 99 Prozent der Bevölke-
rung unfreiwillig Nacktbilder von sich
online hätten.“ Ein Skandal ist das nur
für Ältere.
Wie sollten die Älteren dieser Jugend
also Vorbild oder Feindbild sein, wenn
sie selbst kaum Ahnung von den Aus-
wüchsen des Internets haben? Wenn sie
nicht auch aufgewachsen sind mit den
vielen Kommunikationskanälen, durch
die sich alles verfolgen oder verwischen
lässt? „Das muss komisch sein“, sagt
Rues Kindheitsfreundin zu ihr auf einer
Party, „ein Teenager zu sein, aber nicht
in der Lage zu sein, Teenager-Dinge zu
tun“ – „Schon, aber wenn ich erwachsen
bin, werde ich auch nicht in der Lage
sein, erwachsene Dinge zu tun.“ Welche
Zukunft eröffnet sich der Generation Z,
wenn sie sich selbst nicht ernst nehmen
kann? Rue und ihre Freunde scheinen
nicht mal rebellieren zu wollen.
Trotz ihrer Abgeklärtheit findet die
Serie noch etwas Platz für die erste un-
schuldige Liebe, und zwar zwischen Rue
und Jules. Dass Jules trans ist, wird an-
genehmerweise nicht ausdrücklich zum
Thema gemacht. Ihr Transsein ist Nor-
malität. Ihre Person ist vor allem da-
durch bestimmt, dass sie intelligent und
kreativ und liebenswürdig ist, weshalb
sich Rue von ihr angezogen fühlt, aber
auch etwas verunsichert ist. Spätestens
als Rue dann als Leonardo DiCaprios
Romeo und Jules als Claire Danes’ Juliet
zur Halloweenparty gehen, wird Rue
und den Zuschauenden das Dilemma
dieser ersten Liebe bewusst. Denn die
hält ja bekanntlich fast nie – warum sich
also darauf einlassen?
Jules wegen versucht Rue aber trotz-
dem, clean zu bleiben, und übernimmt
schließlich auch für ihre kleine Schwes-
ter Verantwortung, sobald sie merkt,
dass diese anfängt, mit Freunden Gras
zu rauchen. „Euphoria“ kommt dabei
aber nicht belehrend daher, wie andere
aktuelle Teenie-Serien (zum Beispiel „13
Reasons Why“). Sondern begreift die
paradoxe Situation dieser amerikani-
schen Jugend, viel aufgeklärter über Se-
xualität, Drogen, Gewalt zu sein, und
gleichzeitig viel überforderter, um ein
gesundes Verhältnis zu alldem zu entwi-
ckeln, anstatt einfach nur nachzuahmen,
was sie im Internet findet.
Wie Zendaya in einem Interview er-
klärte, sei die Serie vor allem „über Ju-
gendliche“, nicht unbedingt „für Jugendli-
che“ („für über 18-Jährige“, so wird ge-
warnt). Und Rue klagt dann auch direkt
eine ältere Generation an, die ihren Al-
tersgenossen rät, keine Nacktbilder zu
machen: „Ich weiß, eure Generation war
auf Blumen und die Erlaubnis eures Va-
ters angewiesen, aber es ist 2019, und
wenn du kein Amish bist, dann sind
Nacktbilder nun mal die Währung der
Liebe. Hört auf, uns dafür zu beschämen.
Beschämt die Kerle, die passwortgeschütz-
te Online-Verzeichnisse von nackten min-
derjährigen Mädchen erstellen.“
Diese Anklage wird besonders zynisch
in den Plot der ersten Folge eingebaut,
weil der Mann mit den graumelierten
Haaren (Eric Dane) selbst Vater ist, der
Jules seinen Neid auf ihre Generation in
einem Motelzimmer gesteht, in dem er
sich mit ihr über eine Dating-App verab-
redet, um mit ihr zu schlafen (wobei mit
Blick auf die Machtposition zu fragen ist,
wie einvernehmlich dieser Sex wohl sein
kann). Ob die Serie der Elterngenerati-
on ganz gerecht wird, ist aber nicht nur
wegen dieser schwer erträglichen Szene
fraglich. Die Eltern, die in „Euphoria“
gezeigt werden, leiden zum Teil selbst an
Traumata, sind süchtig oder schlichtweg
abwesend. Sie halten sich also selbst
nicht „an die Regeln“.
Erst in der letzten Folge kommt eine
der verantwortungsvolleren Mütter zu
Wort, nämlich Rues. Vor der Selbsthilfe-
gruppe ihrer Tochter spricht sie darüber,
wie es ist, ein Kind zu haben, das einem
ständig entgleitet, weil man es so wenig
begreifen kann: „Was wäre, wenn mir ir-
gendein allwissender Erzähler bei ihrer
Geburt gesagt hätte, was passieren wird?
Dass ich genauso hilflos sein werde wie
sie. Dabei ist sie noch ein Kind, und die
wirklich schweren Momente werden
noch kommen.“ Vielleicht teilen beide
Generationen dann doch mehr – und
wenn es nur diese Erkenntnis ist.
CAROLINE JEBENS
„Euphoria“ ist auf Sky Atlantic HD zu sehen.
Teenies, die keine Teenager-Dinge tun:
Die Serie „Euphoria“ erzählt von der
ersten wirklichen Digital-Native-Generation
Zendaya, der ehemalige Disney-Channel-Star, spielt eine der Hauptrollen in der Serie „Euphoria“. Foto HBO
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DIE LIEBEN KOLLEGEN
VON HARALD STAUN
Impulse für ein
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