42 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42
N
achdem Arthur
Fleck getreten, be-
spuckt und ausge-
lacht worden ist, nachdem er
herausgefallen ist aus immer
mehr Sphären der Gesell-
schaft, dem Arbeitsmarkt,
dem Gesundheitssystem,
nachdem man eine deprimie-
rende Stunde lang im Kino erlitten
hat, wie wechselnde Stiefelspitzen die-
sen Fleck tiefer in den Boden treten,
da tut es so gut und erleichtert derma-
ßen, dass Arthur Fleck zum Joker
wird. Endlich nimmt er das schwere
metallene Ding in die Hand und da-
mit das Leben. Bamm, bamm, bamm.
Drei Subway-Mobber liegen am Bo-
den. Der Ausgestoßene hat gezeigt,
wozu er fähig ist. Die Erleichterung
darüber, dass dieser zu lange Nutzlose
seine Fähigkeit entdeckt hat, schlägt
den Schrecken darüber, dass die Fähig-
keit dummerweise das Töten ist.
Der neue „Joker“ hat im Wesentli-
chen zwei Arten Rezensionen ausge-
löst. Variante eins: Der Film zeigt im
Extrem, was soziale Isolation einer psy-
chisch labilen Person antun kann und
wozu eine „The winner takes it all“-
Gesellschaft ihre Loser treibt. Varian-
te zwei: Der Joker ist eine amorali-
sche, gefährliche Provokation, ein
zweistündiges Manifest für zukünftige
Massenmörder, die meinen, ihren
Wahn durch angebliches Verstoßen-
sein aus der Gesellschaft rechtfertigen
zu können. Meine Begleitung tendier-
te zu Variante eins, ich zu zwei. Uns
verband das ungute Gefühl, den Joker
zu sympathisch und seine Morde er-
schreckend verständlich zu finden.
Das liegt an Joaquin Phoenix und
seinem vereinnahmenden Spiel und an
der Weigerung des Regisseurs Todd
Phillips, dem Joker einen halbwegs gu-
ten Gegenspieler in den Weg zu stel-
len. Die urmächtige Sympathie für die
Erzählfigur des Außenseiters erledigt
den Rest. David gegen Goliath, die is-
ländische Fußballnationalelf gegen die
englische, das Start-up gegen den Kon-
zern: Wir lieben Außenseiter. Lo-
gisch, wen wir siegen sehen wollen,
wenn der Joker Rache nimmt. Ein
Clown gegen die Welt, die Reste der
Gesellschaft gegen die Gesellschaft.
Okay, es ist bloß Kino, und das
kennt viele Manipulierungstechniken.
Die Erzählperspektive, aus Sicht des
Jokers auf den Joker zu sehen, die Ver-
führungskunst von Phoenix, die Lust,
sich verführen zu lassen, wenn man in
einem dunklen Kinosaal sitzt. Aber
der „underdog effect“, wie er in der
Psychologie heißt, überlistet uns so-
gar dann, wenn wir statt im Kino in ei-
nem Universitätsraum sitzen
und sicher sind, rationale Er-
wachsenenargumente darzu-
legen. Psychologen der Uni-
versity of South Florida zeig-
ten einer Hälfte ihrer Pro-
banden eine Karte Israels
mit den Palästinensergebie-
ten darin, die andere Gruppe
sah einen Kartenausschnitt von Israel
mit seinen Nachbarländern. Gefragt
nach ihrer Meinung zum Nahostkon-
flikt sympathisierten Probanden der
ersten Gruppe deutlich öfter mit den
Palästinensern, die zweite Hälfte ten-
dierte zu Israel. Der billige Trick, die
Palästinensergebiete innerhalb Israels
so klein wirken zu lassen wie Israel in-
nerhalb des Nahen Ostens, brachte
dem vermeintlichen Außenseiter die
Sympathien.
Zum Außenseiter kann also jeder
werden, wenn die Bezugsgruppe
stimmt. Rapper zählen sich noch zur
Gruppe chancenloser Straßenkinder
vom Rand der Gesellschaft, wenn sie
villenbesitzende Geschäftsleute inmit-
ten der Popkultur geworden sind.
Nachdem der arme Arthur Fleck vor
unseren Augen so lange weggetreten
worden ist, kann ihn nicht mal der
brutalste Irrsinn des Jokers zum abso-
lut Bösen machen. Indem ein Rapstar
wie Gzuz regelmäßig an das ausgelach-
te Asikind in ihm erinnert, erschwert
er die Kritik an seinen asozialen Tex-
ten: Der Junge war ja nicht immer so,
die Gesellschaft hat ihn zu dem ge-
macht, und ist doch schön, dass er
durch die Musik eine Stimme gefun-
den hat. Was er erzählt, zählt weniger
als die Befriedigung darüber, dass die
Erzähllogik stimmt. Wer als Under-
dog in der Popkultur auftaucht, darf
keiner bleiben. Die kleine Hexe über-
listet die großen Hexen, aus Tony
Montana wird Scarface und der grot-
tenhässliche Grenouille zum größten
Parfümeur aller Zeiten. Wir sind erst
zufrieden, wenn die Außenseiter nicht
mehr Außenseiter sind.
Auf die Macht der Underdog-Erzäh-
lung hat Hillary Clinton (mögliche ers-
te Präsidentin) genauso gesetzt wie Ba-
rack Obama (erster schwarzer Präsi-
dent). Zwei Drittel der amerikani-
schen Wählenden glaubten laut einer
Umfrage, ihre Stimme dem Underdog
zu geben. Das Mitgefühl für Außensei-
ter ist eingeimpft, und manchmal habe
ich sogar kurz dumme Schadenfreude
über Donald Trumps Schelmenge-
schichte. Ein kaum zurechnungsfähi-
ger Reality-TV-Bewohner erobert das
Weiße Haus. So gut. Dann fällt mir
wieder ein, was das für die wahren Au-
ßenseiter bedeutet.
GELIEBTER AUSSENSEITER
Wie sie warenNach 35 Jah-
ren, da fragt man nicht mehr
nach Gelingen oder Misslin-
gen. Damals war aus Hans C.
Blumenberg, dem einflussrei-
chen Filmkritiker der „Zeit“,
gerade der Filmregisseur
Hans-Christoph Blumen-
berg geworden. Sein erster
Film „Tausend Augen“ kam ins Kino.
Und vielleicht hat Blumenberg da-
mals, mit 37 Jahren, ein Vierteljahrhun-
dert nach Truffaut oder Rivette, ge-
hofft, dass auch aus seinem Seiten-
wechsel eine große Kinokarriere her-
vorgehen würde. Oder dass, nur zwei
Jahre nach Fassbinders Tod, als der
neue deutsche Film schon nicht mehr
allzu jugendlich wirkte, die Hinwen-
dung zum Genrekino etwas bewegen
könnte. Es ist dann bekanntlich ganz
anders gekommen. Es gab, absehbar,
einige Häme für das Debüt, manche
alte Kritikerkollegen mochten weder
Blumenbergs Mut noch das Talent ha-
ben, was sie dann an dem „Überläu-
fer“ ausließen. Der Erfolg des Films
blieb überschaubar. Es folgten noch
zwei Kinofilme, „Der Sommer des Sa-
murai“ (1985) und „Der Madonna-
Mann“ (1987), bevor aus Blumenberg
dann ein richtig guter Fernsehregis-
seur wurde. Man ahnt, wenn man sich
jetzt „Tausend Augen“ auf DVD (Pi-
dax, zirka 12 Euro) wieder anschaut,
noch etwas von dem, was dem Gera-
de-eben-noch-Kritiker vorgeschwebt
hatte, und sieht auch, warum es nicht
wirklich funktionierte. In Szenen, Si-
tuationen und Kamerabewegungen er-
kennt man wie in einem Spiegel, wo-
für der Kritiker sich in seinen (noch
immer lesenswerten) Texten begeis-
tert hatte. Manchmal erkennt man es
auch zu deutlich: Fritz Lang, Hitch-
cock, die cineastische Selbstbezüglich-
keit. Aber da ist eben auch in diesem
Erotikthriller um eine Studentin, die
in einer Peepshow arbeitet, um das
Geld fürs Flugticket nach Australien
zu verdienen, eine große, aufrichtige
Zuneigung zu Mitte der Achtziger
schon halb vergessenen und heute ver-
schollenen Gesichtern des
deutschen Kinos: Peter Kraus
als Taxifahrer,Karin Baalals
verhärmte Frau des Peep-
show-Betreibers (Armin Mül-
ler-Stahl in seiner vorgravitä-
tischen Phase),Vera Tsche-
chowaals Videothekarin in
einer Art Kosmetikerinnenkit-
tel. Und schmerzlich wird man daran
erinnert, wie wunderbarBarbara Rud-
nik war, die Hauptdarstellerin, die
nun auch schon zehn Jahre tot ist. Sol-
che Erfahrungen bleiben nicht aus
nach 35 Jahren. Das Tröstliche daran
ist, dass man sie alle noch mal wieder-
sieht, wie sie damals waren. pek
* * *
SerienLegendär und trotzdem wahr
undverbürgt ist die Geschichte, wie
Wolfgang Fierek, der in der wunderba-
ren Serie „Monaco Franze“ den klein-
kriminellen Tierpark-Toni spielte, bei
den Dreharbeiten meinte, er habe sei-
nen Dialog ein wenig abgeändert, weil
das besser zu seiner Rolle passe.
„Wenn ich gewollt hätte, dass du den
Satz so sagst, hätte ich ihn so ins Dreh-
buch geschrieben“, habe Dietl nur ge-
antwortet, und fortan kam keiner
mehr auf die Idee, bei den Dialogen
selber kreativ zu werden. Dass Dietl
absolut recht hatte; dass er so streng
auch im Namen seines Co-Autors Pa-
trick Süskind war: Das kann man jetzt
nachlesen, in einer kleinen Buchreihe
des Penguin-Verlags, der die Drehbü-
cher für die „Münchner Gschich-
ten“, den „Monaco Franze“ und „Kir
Royal“ in einen Schuber packt (36
Euro). Dass man die Serien auch auf
DVD bekommt, ist in diesem Fall
kein Argument – einfach weil es ein
Vergnügen für sich ist, wenn man sich
ganz auf die Wortwörtlichkeit dieser
Sprache einlässt. Es gibt ja auch Dra-
men, die man gerne liest – und genau
so muss man diese Bücher lesen: als
Einträge in die Literaturgeschichte.
Schon weil beide, Süskind und Dietl,
für die Sprache einen Sinn haben, so
fein, wie es, in Süskinds „Parfum“,
Grenouilles Sinn für Gerüche ist. cls
NICHT JUGENDFREI
S
eit Montag läuft die Mitglieder-
befragung der SPD zum neuen
Parteivorsitz. Ungefähr 430 000
Genossinnen und Genossen
sind aufgerufen, einem von
sechs Kandidatenteams ihre Stimme zu
geben. Laut der vom Parteivorstand be-
schlossenen „Verfahrensrichtlinien zur
Durchführung einer Mitgliederbefra-
gung“ werden die Gewinner der Mitglie-
derbefragung dem SPD-Parteitag im De-
zember vom Parteivorstand als Kandida-
ten für den Parteivorsitz vorgeschlagen.
Hier könnte dieser Text enden, gäbe es
nicht ein Problem: 180 000 Mitglieder,
also vierzig Prozent der Befragten, neh-
men online teil.
So eine Online-Beteiligung ist nicht
unbedingt problematisch, man muss sie
nur richtig machen. Die SPD macht sie
leider falsch. Und das wird, sollte die
SPD die Online-Abstimmung nicht
abbrechen, gravierende Konsequenzen
haben.
Aber von vorn: Wahlen oder Abstim-
mungen erhalten ihre Legitimität vor al-
lem dadurch, dass sie nachvollziehbar
und überprüfbar sind. Wenn Sie bei der
Bundestagswahl Ihre Stimme abgeben,
könnten Sie theoretisch den gesamten
Wahlsonntag, von der Öffnung des
Wahllokals bis zur Auszählung der Stim-
men, im Wahllokal verbringen. Sie kön-
nen sich persönlich davon überzeugen,
dass nur die abstimmen, die abstimmen
dürfen, dass die Stimmen richtig ge-
zählt werden, dass niemand fünfzig
Stimmzettel in eine Urne schmeißt oder
fünfzig Stimmzettel aus einer anderen
Urne entfernt.
Kurzum: Es gibt ein technisch-organi-
satorisches System, das dafür sorgt, dass
die Wahl so sicher abläuft, wie es eben
möglich ist. Wird Manipulation vermu-
tet, können Wahlleiter Neuauszählungen
anordnen. Als letzte Möglichkeit können
Wählerinnen und Wähler vor Gerichte
ziehen und Wahlen anfechten. Wahlfäl-
schung wird mit hohen Strafen belegt.
Wahlen in Deutschland sind deshalb
in der Regel Veranstaltungen, die or-
dentlich ablaufen. Das Wahlgeheimnis
sorgt dafür, dass jeder so abstimmen
kann, wie er will, ohne wie auch immer
geartete Sanktionen durch sein Umfeld
fürchten zu müssen.
Abstimmungen auf Parteitagen und
im Parlament sind nicht geheim, aber
auch hier wird durch ein Akkredi-
tierungssystem dafür gesorgt, dass nur
die abstimmen dürfen, die dazu berech-
tigt sind.
Wenn Sie mit einem Computer oder
über das Internet abstimmen, stehen Sie
vor einem Dilemma: Entweder ist die Ab-
stimmung geheim – oder sie ist nachvoll-
ziehbar: Denn bei der Computerabstim-
mung können Sie nicht nachprüfen, ob
nur Personen an der Abstimmung teilge-
nommen haben, die tatsächlich abstim-
men dürfen, und wie der Computer die
Stimmen zählt, es sei denn, es ist eine of-
fene Abstimmung, bei der am Ende alle
sehen können, wer wie abgestimmt hat.
Ein Beispiel: Sie nehmen an einer On-
line-Abstimmung teil. Sie entscheiden
sich am Computer für Kandidat A. Ob
Ihre Stimme tatsächlich vom System als
eine Stimme für den Kandidaten A ge-
zählt wurde, können Sie nur wissen,
wenn mit dem Abstimmungsergebnis
auch jeder Stimmzettel veröffentlicht
wird. Das heißt, Sie müssen am Ende se-
hen können: Meine Stimme wurde als
eine Stimme für Kandidat A gezählt.
Sie müssen auch sehen können, wie
ihr Nachbar gestimmt hat. Denn dann
können Sie ihn fragen, ob er wirklich so
abgestimmt hat, wie es im Ergebnis
steht, und er kann Sie fragen. Sie müs-
sen, um eine Online-Abstimmung nach-
vollziehen zu können, in der Lage sein,
das vom Computer ermittelte Ergebnis
selbst auszuzählen.
Sobald sie hierzu nicht in der Lage
sind, sind der Manipulation alle Türen
geöffnet: Sie geben Ihre Stimme für Kan-
didat A ab, sie wird aber für Kandidatin
B gezählt. Oder gar nicht. Oder doppelt.
Dahinter muss nicht mal ein böser Ha-
cker stecken; es kann ja sein, dass die Ab-
stimmungssoftware nicht richtig funktio-
niert oder normalerweise richtig funktio-
niert, aber heute hat sie halt Schluckauf,
wovon Sie aber nichts mitbekommen
und die Firma, die den Abstimmungsser-
ver bereitstellt, vielleicht auch nicht. Jede
Software enthält Fehler, diese können
von Hackern dazu genutzt werden, die
Software zu manipulieren. Das heißt, am
Ende kann das Programm sogar das tun,
was es tun soll, das Ergebnis ist trotzdem
falsch, denn es wurde von Hackern mani-
puliert. Wenn im Wahllokal die Auszäh-
lung manipuliert wird, bekommen Sie
das ziemlich schnell mit. Aber wären Sie
in der Lage, aufgrund des Quellcodes ei-
ner Software, einer Webserver-Logdatei
und eines Downloads der Datenbank zu
sagen, ob auf diese Datenbank unberech-
tigt zugegriffen wurde? Dachte ich mir.
Die SPD hat sich, Sie ahnen es, für
Methode zwei entschieden, also eine On-
line-Abstimmung über den spanischen
Anbieter Scytl, bei dem die individuellen
Abstimmungsergebnisse von der Soft-
ware verschlüsselt werden. Hierauf
scheint die SPD bizarrerweise stolz zu
sein. Im online veröffentlichten FAQ zur
Mitgliederbefragung heißt es, dass sich
auch nach der Öffnung der „digitalen
Wahlurne“ aufgrund der Verschlüsse-
lung des individuellen Abstimmungs-
ergebnisses nicht zurückverfolgen lässt,
„wer wie abgestimmt hat“.
D
och wenn man nicht nach-
vollziehen kann, wer wie ab-
gestimmt hat, kann nicht
nachvollzogen werden, ob
das System die Stimmen
richtig gezählt hat. Damit weiß die SPD
schlussendlich nicht, ob die bis zu
180 000 Online-Stimmen überhaupt von
ihren Mitgliedern stammen und korrekt
gezählt wurden. Demgegenüber steht die
Mitgliederbefragung per Brief, für all
jene Genossinnen und Genossen, die sich
dazu entschieden haben, analog und
nicht digital abzustimmen. Hier müssen
Mitglieder eine eidesstattliche Versiche-
rung abgeben, selbst abgestimmt zu ha-
ben, mit Auszählung der Briefwahlstim-
men im Willy-Brandt-Haus, die öffent-
lich, zumindest parteiöffentlich nachvoll-
zogen werden kann. Auch bei 250 000 po-
tentiellen Briefwahlstimmen kann einiges
schiefgehen, klar aber ist: Sie können das
Ergebnis von 250 000 Briefwahlstimmen
nicht einfach mit einem Klick löschen
oder manipulieren.
Das Kernproblem des SPD-Verfah-
rens ist also, dass niemand, auch die
SPD nicht, nachvollziehen kann, ob das
Abstimmungsergebnis der Online-Ab-
stimmung korrekt ist. Das ist eine Eigen-
schaft des verwendeten Abstimmungs-
programms beziehungsweise des gewähl-
ten Verfahrens. Worauf ich noch nicht
eingegangen bin, sind die technisch-or-
ganisatorischen Schwächen des konkre-
ten SPD-Verfahrens, die es theoretisch
selbst Laien erlauben, mehrfach abzu-
stimmen oder sich mit Informationen
über Mitglieder eine Abstimmungsmög-
lichkeit zu erschleichen. Denn die SPD
erlaubt es explizit, dass mehrere Mitglie-
der ein und dieselbe E-Mail-Adresse be-
nutzen. Dass sich Familien ein E-Mail-
Postfach teilen, soll vorkommen, dass in
SPD-Kernländern ganze Familien
SPD-Mitglied sind, auch.
Vergangenen Montag bekamen diese
Familien in ihren Familien-Account also
nicht nur eine, sondern mehrere
E-Mails mit den Links zur Abstim-
mung. Ein Familienmitglied mit Zugriff
auf den E-Mail-Account braucht dann
nur noch Geburtsdatum und Mitglieds-
nummer der Familienmitglieder, und
schon kann ein Familienmitglied direkt
für alle abstimmen. Das ist natürlich
auch bei Briefwahl möglich – aber ge-
ben Sie mal vier falsche eidesstattliche
Versicherungen ab.
Eine zweite Möglichkeit ist, dass man
sich mit einer Mitgliedsnummer und
dem richtigen Geburtsdatum im Vorfeld
der Abstimmung online registrieren
konnte, falls noch keine E-Mail in der
SPD-Mitgliederverwaltung hinterlegt
war. Mitgliedsnummer und Geburtsda-
tum lassen sich bei einigen Mitgliedern
ergoogeln, jeder Ortsvereinsvorsitzende
und jede Person mit Zugriff auf die Mit-
gliederdatenbank der SPD hat diese In-
formationen aber auch. Von da ist es ein
Leichtes, mit diesen Daten eine E-Mail
in der SPD-Mitgliederdatenbank hinter-
legen zu lassen, an die dann die Daten
zur Online-Abstimmung gehen. Bedeu-
tet konkret: Schon bei der jetzigen On-
line-Abstimmung kann die SPD nicht ga-
rantieren, ob tatsächlich nur SPD-Mit-
glieder abstimmen (was dann auch ei-
gentlich wieder fast egal ist, weil sie, wie
erklärt, das Ergebnis eh nicht nachvollzie-
hen kann).
Das ist jetzt tatsächlich etwas kleinlich
von mir, weswegen ich nicht nur auf die
Manipulation im Kleinen, sondern auch
im Großen hinweisen möchte. In Zeiten,
in denen es als gesichert gilt, dass Russ-
land auf die Präsidentenwahl der Verei-
nigten Staaten durch Hacken Einfluss ge-
nommen hat: Wie kann man glauben,
dass die Abstimmung zum SPD-Vorsitz
kein attraktives Ziel für einen Hack ist?
Einfach weil es geht und man, je nach-
dem, wer gewählt wird, ein bisschen Un-
ruhe in der deutschen und europäischen
Politik stiften kann. Es müssen nicht nur
Staaten sein: Die Panama-Papers haben
gezeigt, dass es internationale Netzwerke
gibt, die den Staat mit viel krimineller
Energie um Steuern in Milliardenhöhe
betrügen. Ist es abwegig, dass solche
Netzwerke in Hacker investieren, um
sich die Vorsitzenden zu klicken, von de-
nen sie am wenigsten im Kampf gegen
Steuerbetrug erwarten? Oder um zumin-
dest Norbert Walter-Borjans zu verhin-
dern, der als NRW-Finanzminister soge-
nannte Steuer-CDs ankaufte?
Und es muss nicht nur ein Hack von
außen sein: Kann der Abstimmungs-
dienstleister Scytl der SPD garantieren,
dass seine gesamte technische Infra-
struktur mit ihren Tausenden von Bau-
teilen frei von solchen ist, die Hintertü-
ren eingebaut haben, auf die zum Bei-
spiel ausländische Dienste zugreifen
können? Warum sollte man der techni-
schen Expertise einer Firma trauen, die
bei den Kommunalwahlen in Spanien
im Mai dieses Jahres nicht mal in der
Lage war, Stimmzettel aus Papier kor-
rekt elektronisch zu zählen? Die Ver-
wendung von Scytl kann geradezu als
Einladung der SPD an Hacker verstan-
den werden, sich mal an der Beeinflus-
sung der Mitgliederbefragung zum Par-
teivorsitz zu versuchen.
Aber was bedeutet das jetzt? Zu-
nächst: Die Online-Abstimmung der
SPD und damit die gesamte Mitglieder-
befragung ist, wie man im Rheinland
sagt, für die Füße. Genauso gut könnte
die SPD würfeln, ein Medium den Sie-
ger auspendeln lassen oder eine beliebige
„TKKG“-Folge abspielen und dann, je
nachdem, welches Mitglied der Rassel-
bande am häufigsten genannt wird, dem
Parteitag ein Team für die Wahl zum
Vorsitz vorschlagen.
S
ie könnte, um das Ganze in kon-
struktive Bahnen zu lenken,
ihre Online-Abstimmung abbre-
chen und diesen 180 000 Mit-
gliedern Briefwahlunterlagen
zuschicken. Der Verein SPD++ wies
schon im Juni darauf hin, dass geheime
Online-Abstimmungen nicht möglich
sind. Ich wies die SPD am Montag dar-
auf hin. Auch der CCC äußerte sich zum
Verfahren und zum Anbieter kritisch. Da
es bis jetzt von einem SPD-Sprecher nur
Ausflüchte à la „keine Wahl ist hundert-
prozentig sicher“ gab, bin ich skeptisch,
dass die Partei ihre Online-Abstimmung
abbrechen wird.
Und dennoch: Trotz des desaströsen
Zustands, in dem sich die SPD befindet,
spielt sie in Deutschland noch immer
eine erhebliche politische Rolle. Die
nächsten Vorsitzenden der SPD werden,
je nachdem, wer gewählt wird, für eine
neue politische Ausrichtung der Partei
sorgen. Nicht zuletzt hängt davon, wer
zu den neuen Vorsitzenden der SPD ge-
wählt wird, die nächste Frage ab: Ob die-
se Bundesregierung bis 2021 hält. Das hat
dann nicht nur Auswirkungen auf
Deutschland, sondern auf Europa und
schlussendlich auf das globale politische
Gefüge. Wie das halt so ist bei einer
G-8-Nation.
Eine Mitgliederbefragung, die be-
stimmt, wer vom SPD-Parteivorstand
dem Parteitag zur Wahl des Vorsitzen-
den vorgeschlagen wird, ist damit keine
parteiinterne, sondern eine öffentliche
Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.
Angesichts der Rolle, die die SPD in
Deutschland spielt, angesichts der Ver-
antwortung, die sie trägt, sollte uns alle
beunruhigen, wenn bis zu vierzig Pro-
zent der Stimmen, die bei dieser Mitglie-
derbefragung abgegeben werden, von
niemandem nachvollzogen werden kön-
nen. Der Schaden ist da. Nun muss die
SPD einlenken, wollen sich die nächsten
Vorsitzenden der Partei nicht dem per-
manenten Vorwurf ausgesetzt sehen,
dem Parteitag nur aufgrund eines Soft-
warefehlers, im schlimmsten Fall durch
Hacker zur Wahl vorgeschlagen worden
zu sein. CHRISTOPHER LAUER
KLEINE MEINUNGEN
VON FLORENTIN SCHUMACHER
Illustration F.A.S.
Warum die Online-Abstimmung
über die neuen SPD-Vorsitzenden
nicht sicher, störanfällig, eine
Einladung an alle Hacker und
somit komplett sinnlos ist
Wen
wird Putin
wählen?