Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

  1. OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE 49 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG


Reise


S


o verlegen der deutsche Schaff-
ner, als er dem polnischen
Speisewagenpersonal begeg-
net, allesamt Frauen. Sein „dzień
dobry“ kein großer Gruß, mehr
Gemurmel, weil er es nicht wagt,
den Mund weit aufzumachen, da er
ja weiß, dass seine Aussprache
schlecht ist. Und mit den drei Sil-
ben ist sein ganzer Wortschatz
schon verprasst. Doch natürlich be-
gegnen sie sich wieder, der Schaff-
ner und die Kellnerin, auf ihren
Kontroll- und Kaffeegängen durch
den Zug, nur der Gruß, das Gu-
ten-Tag, ist nun verbraucht. So
bleibt nur lächeln, das freundliche-
re Schweigen. Sie setzen es schon
auf, wenn sie einander kommen se-
hen von gegenüberliegenden Sei-
ten des Waggons. Sie setzen das Lä-
cheln auf aus Furcht vor der fehlen-
den Sprache, denn auch wenn es
nichts zu sagen gibt, fühlt sich die
Unmöglichkeit, einander zu verste-
hen, wie eine Grobheit an. Und so
tragen sie ihr vorsorgliches Lä-
cheln, in das sie sich aus Furcht ge-
flüchtet haben.
Doch dieser Grund ist nach drei
Abteilen vergessen, nur das Lä-
cheln bleibt, fühlt sich wie Freude
an. Und dann begegnen sich die
beiden Blicke, die einander suchen
und entfliehen, wie zwei Fliegen
sich umkreisen. Und das Lächeln,
das doch zunächst nichts anderes
war als Worte wie Waffen stre-
cken, ist vom Herzschlag der Er-
wartung aufgepumpt über eine hal-
be Länge Gang. Und so schauen
sie einander an, der Blick, beladen
mit Bedeutung, geht gleich zu Bo-
den. So viel Gefühl ist unver-
schämt, folgt man den kühlen Nor-
men beider Länder. Nur die Bot-
schaft, wenn auch kurz, ist über-
bracht. Doch die Freude aneinan-
der, von der sie nun wissen, wird
nie ein Gespräch ergeben.
So nehmen die Gedanken kürze-
re Wege, dorthin, wo ein Ge-
spräch nur selten angelangt. Was
soll nach solchem Lächeln auch
noch halten, ist doch der Hohl-
raum zwischen ihnen nicht durch
Gerede ausgestopft. Und wenn die
beiden sich nun im Gang passie-
ren, drückt man sich noch näher
an die Seiten als sonst. Ein leichtes
Streifen wäre schon eine Berüh-
rung. Eine Berührung wäre schon
der nächste Schritt. Noch zehn
Schritte, und da wäre eine Türe,
auf der steht „Personal“, den
Schlüssel haben sie.
Doch das sind alles nur Gedan-
ken. Man geht an sie verloren wie
an den Blick aus dem Fenster nach
dem ersten Bier im Speisewagen.
Der Zug von Berlin nach Warschau
fährt über Frankfurt/Oder, Poznań
und Rzepin. Die Fahrt dauert fünf
ganze Stunden und mehr als eine
halbe, doch bis zur Grenze wird
nicht mal eine Stunde voll. Dort
wechseln sie das Personal: den
Schaffner und den Fahrer. Was ist
schon eine Stunde für den Weg
vom Lächeln bis zur Liebe? Mehr
als genug, wenn Mut mehr wäre als
ein Traum. Der deutsche Schaffner
sagt noch einmal sein „dzień do-
bry“, zu den Polen, die den Zug
nun übernehmen. Er steht am
Bahnsteig, schaut zum Speisewa-
genfenster. Die Sonne scheint, ein
letztes Lächeln. Doch die Scheibe
spiegelt, und er sieht nur sich. Der
Zug fährt an, und er schaut ihm
nach, zu lange. Ihm bleibt die Sehn-
sucht und das Seufzen von zu viel
Zweifeln, zu viel Zögern. Er sieht
dem Zug nach, dann den Schienen,
nickt noch einmal, dreht sich um.
Vielleicht ja hätten sie sich gut
verstanden, denkt er, schaut auf und
schüttelt heftig dann den Kopf.

DAS


LÄCHELN
LEANDER STEINKOPF

I


n der Nacht waren die Männer mit
ihren Jeeps in den Nationalpark ein-
gedrungen. Sie campten wild, spran-
gen vor Morgengrauen über die
Pforte zum Klettersteig und kraxelten
die Westflanke des Uluru hinauf – des
weltberühmten Inselbergs im Herzen
Australiens, den manche noch „Ayers
Rock“ nennen. Von oben beobachteten
sie, wie die anderen Besucher in Bussen
und Autos warten, bis das Parktor öffnet,
um sich dann auf Aussichtsplattformen
am Fuße des Berges zu verteilen. Inmit-
ten von Dünen mit Spinifex-Gras und
dürren Akazien lässt sich hier jeden Mor-
gen der „glow“ erleben: diese magischen
Minuten, in denen der Uluru aus dem
Schlaf erwacht. Erst schneidet die Däm-
merung seine charakteristische Silhouet-
te wie einen Scherenschnitt aus der Land-
schaft. Dann übernimmt die aufgehende
Sonne die Show: Meter für Meter krie-
chen ihre Strahlen die Felswand hoch,
tünchen sie von Ockergrau über Rosa in
tiefes Rot, bringen nach und nach die Fal-
ten und Narben zum Vorschein, die
Wind und Regen ihr über Millionen Jah-
re einmassiert haben.
Während die Besucher das Farben-
spiel mit ihren Handys einfingen, ließen
die Männer am Gipfel Kameradrohnen
fliegen. Fanden sie es cool, so viele Park-
regeln wie möglich zu brechen? Der Ran-
ger, der der Gruppe ein saftiges Bußgeld
verpasste, nicht. „Die Leute drehen kom-
plett durch“, erzählt er am nächsten Tag.
„Gestern kippten welche die Chemieklos
ihrer Wohnwagen in die Natur, heute
brechen sie sogar ein. Zum Glück ist der
Wahnsinn bald vorbei.“
Der Wahnsinn, das ist der Massenan-
sturm, der den Uluru seit ein paar Mona-
ten heimsucht und dieser Tage alle Re-
korde bricht: Im 18 Kilometer entfernten
Yulara – in normalen Zeiten ein ent-
spanntes Resort mit Hotels, Restaurants
und einem Campingplatz – sind sämtli-
che Betten, Zelt- und Parkplätze besetzt,
der Supermarkt leergekauft, die Müllcon-
tainer voll. Kilometerweit reiht sich auf
der Straße zum Nationalpark ein Cam-
pervan an den anderen. Die Besucher ha-
ben nur eines im Kopf: Sie wollen noch
einmal auf den Uluru, bevor der Kletter-
steig am 26. Oktober, kommenden Sams-
tag, für immer geschlossen wird.
Das Datum ist seit zwei Jahren be-
kannt, der Grund für die Schließung viel
länger – zumindest den Australiern, die
die Mehrheit der Last-minute-Besucher
stellen. Alle anderen erfahren ihn spätes-
tens auf dem Schild, das die lokalen
Anangu-Aborigines direkt vor dem Steig
aufgestellt haben, unmöglich, es zu über-
sehen. „Bitte klettern Sie nicht“ steht in
sechs Sprachen darauf. „Wir, die Anan-
gu, haben als traditionelle Besitzer des
Landes Folgendes zu sagen: Der Uluru
ist in unserer Kultur heilig. Er ist ein
Ort großer Weisheit, und unsere Traditi-
on verbietet es, ihn zu erklettern. Zu vie-
le Menschen sterben oder verletzen sich
dabei, was bei uns große Trauer auslöst.
Wir laden Sie stattdessen ein, ihn zu um-
wandern und so ein tieferes Verständnis
für den Ort zu gewinnen.“
Doch dafür sind die Kletterer nicht ta-
gelang durchs Outback angereist. Sie
wollen den Uluru nicht verstehen, son-
dern bezwingen. Aus 328 Metern Höhe
die Weite des Roten Zentrums bewun-
dern, ihren Kindern ein „Wow-Erleb-
nis“ bieten, noch schnell einen Punkt
der „bucket list“ abhaken. Und vielleicht
auch klarmachen, dass man sich als wei-
ßer Australier von den Aborigines nichts
vorschreiben lässt; auch nicht hier auf
Land, das die Anangu seit über 40 000
Jahren besiedeln und das ihnen seit Mit-
te 1985 wieder offiziell gehört.
Und so stellen sich in aller Frühe im-
mer mehr Menschen mit ihren Sonnen-
hüten und Wasserflaschen an – von ein
paar Dutzend Menschen am Tag im
Juli wuchs die Schlange auf über tausend
Anfang Oktober. Und hoffen, dass kein
Wind aufkommt. Dann nämlich bleibt
der „climb“ aus Sicherheitsgründen zu.
Man muss kein Aborigine sein, um

den Steig auch ohne Kletterer als Frevel
am Berg zu empfinden: Über knapp an-
derthalb Kilometer wurden 138 Pfosten
grob in den blanken Fels getackert;
1964 war das, ohne Einverständnis der
Anangu. An den Pfosten hängt eine Ei-
senkette zum Festhalten, der Weg ist
steil. Geben die Ranger ihn frei, warten
die Leute zum Teil stundenlang in pral-
ler Sonne. Dann quetschen sie sich in ei-
ner schwitzenden Traube hoch zum
Gipfel, knipsen ihre Fotos und kehren
um – wenn alles gut geht.
„Fast täglich verletzt sich jemand“, er-
zählt der Ranger, dessen Name hier un-
genannt bleibt, weil die Parkbehörde
ihm kein Gespräch mit Journalisten er-
laubt. „Sie verlieren ihr Zeug, einige er-
leichtern sich unterwegs. Wir Ranger
müssen dann Hilfe leisten und den
Dreck wegmachen, obwohl wir das alles
zutiefst ablehnen.“ 37 Kletterer starben
am Berg, „dazu kommen die Herzschwa-
chen, die am nächsten Tag tot im Hotel-
bett lagen“.
Eine Woche muss er noch durchhal-
ten. Und darauf vertrauen, dass die Ent-
scheidung der Parkverwaltung so fest
steht wie der Berg selbst. Im August erst
wurde ein gefährlicher Gegner ausge-
bremst: Die Australische Kommission
für Menschenrechte lehnte die Klage ei-
nes Geologen ab, der sich als Nicht-Ab-
origine diskriminiert fühlt, wenn er
nicht mehr auf den Berg darf. Die selbst-
ernannte Vorkämpferin für den Erhalt
des Steigs, die rechtspopulistische Politi-
kerin Pauline Hanson, bremste sich
selbst aus. Seit ein TV-Team im Juli film-
te, wie sie sich bei ihrem demonstrativen
Kletterversuch nach wenigen hundert
Metern aus Angst auf den Hintern
plumpsen ließ (und aufgab), ist sie unge-
wohnt kleinlaut.
Dass auf sie nun aber so viele andere
folgen, hat viele Australier schwer scho-
ckiert. Als „Polonaise von Schwachköp-
fen“ bezeichnete sie die Journalistin Hay-
ley Sorensen. Dabei zeigen die Szenen
am Uluru nur, dass eine Kerndebatte der
Australier noch längst nicht ausgefoch-
ten ist: Wie viel Respekt und Anerken-
nung ist die Mehrheitsgesellschaft bereit,
für die Traditionen und Werte der Abori-
gines aufzubringen?
Craig Woods, Anangu und einer von
acht Aborigines (vier Männer, vier Frau-
en) im Führungsrat des Nationalparks,
sieht die Sache so: „Hier haben wir offen-
bar Leute vom ganzen Kontinent versam-
melt, die denken, eine sehr kleine Min-
derheit raube ihnen ein gottgegebenes
Recht.“ Schärfere Worte kommen ihm
nicht über die Lippen. Auch die anderen
Anangu halten sich zurück, sie haben
Übung darin: Seit 1983 warten sie, dass
die Regierung ihr Versprechen einhält
und den Steig dichtmacht.
Die Parkbehörde wiederum wird nicht
müde zu wiederholen, was Sammy Wil-
son, lange Ratsvorsitzender und einer der
angesehensten Anangu-Ältesten, bereits
vor zwei Jahren erklärte: „Wenn ich in ein
anderes Land reise, und dort ist eine heili-
ge Stätte mit beschränktem Zugang, dann
betrete ich sie weder, noch steige ich
drauf, ich respektiere sie. So ist das auch
hier für uns Anangu. Wir heißen Touris-
ten willkommen. Wir stoppen den Touris-
mus nicht, nur diese eine Aktivität.“
Tatsächlich bieten der Park und das Re-
sort in Yulara diverse „Experiences“ ohne
Klettern an. Man kann den Uluru in zwei
Stunden umwandern und dabei auf Schil-
dern lesen, wie sich Wallabys über die re-
genlosen Monate retten. Man kann den
Tag damit verbringen, in den Furchen
der Felswände Gesichter oder Tierfor-
men zu suchen. Oder man kann einem
der Ranger in die Höhlen des „Mala-
Walk“ folgen, er ist benannt nach den
Vorfahren der Anangu. Dort zieren ural-
te farbige Malereien die Felsen, die sich
bei genauerem Hinsehen als Emus und
Kängurufüße entpuppen. Man erfährt,
wie der Teufelshund Kurpani und die
Schlange Liru die Geschicke der Anangu
steuerten.
Fortsetzung auf der folgenden Seite

PHÄNOMENOLOGIE


Über tausend Touristen pro Tage wollten zuletzt über den Klettersteig auf den 328 Meter hohen Uluru steigen. Nun ist Schluss damit. Foto Reuters

Wie weit dürfen Touristen gehen? Der


Uluru, das Heiligtum der Aborigines,


darf bald nicht mehr bestiegen werden


Der Stein


und


das Nichts

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