60 wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42
I
ch hatte ein Objekt im Bild“, erzähl-
te Gennadiy Borisov. „Es bewegte
sich in eine Richtung, die leicht von
der des Asteroidengürtels abwich.
Ich nahm die Koordinaten auf und ver-
glich sie mit der Datenbank des Minor
Planet Centers. Tatsächlich, es war ein
neues Objekt.“ So berichtete der Ama-
teurastronom der russischen Nachrichten-
agentur RIA Novosti von seiner Entde-
ckung eines neuen Kometen am 30. Au-
gust dieses Jahres. Kometen sind durch
den Weltraum ziehende Brocken aus ge-
frorenen Gasen, Gesteinen und Staub.
Die weitaus meisten bilden die sogenann-
te Oortsche Wolke. Dort umkreisen sie
die Sonne in so großen Entfernungen,
dass sie für Beobachter auf der Erde in
der Regel unsichtbar bleiben. Wenn sie
sich aber begegnen, kommt es zuweilen
vor, dass sich ihre Umlaufbahn dadurch
in einer Weise ändert, die sie näher an
die Sonne – und damit an die Erde – her-
anführt. Das geschieht keineswegs selten.
In der Datenbank der amerikanischen
Weltraumbehörde Nasa sind mehr als
3500 gesichtete Kometen verzeichnet. Bo-
risovs neuer Komet schien aber unge-
wöhnlich zu sein. „Am 8. September 2019
um 4.15 Uhr wurden wir von unserer Soft-
ware ,Interstellar Crusher‘ alarmiert“,
schrieben Piotr Guzik und MichałDra-
hus vom astronomischen Observatorium
der Universität Krakau sowie vier weitere
Koautoren jetzt in Nature Astronomy.
Nach Analysen jenes Computerpro-
gramms bewegte sich das Objekt offen-
bar auf einer hyperbolischen Bahn.
Also nicht auf einer Ellipse, wie alle bis-
her registrierten Kometen. Ellipsen sind
in sich geschlossene Figuren. Körper, die
sich auf Bahnen dieser Form um die Son-
ne bewegen, sind an deren Gravitations-
feld gebunden. Hyperbolische Bahnen da-
gegen sind nicht geschlossen, sondern
kommen aus den Tiefen des interstella-
ren Raums. Borisovs Komet stammt da-
mit nicht aus der Oortschen Wolke unse-
rer Sonne, sondern aus einem anderen
Sternsystem. Die Nachbarschaft der Son-
ne durcheilt er jetzt nur ein einziges Mal,
wobei er von ihrem Schwerefeld etwas ab-
gelenkt wird und es danach auf Nimmer-
wiedersehen verlässt.
Solche interstellaren Kometen wurden
lange vorausgesagt, aber bis vor kurzem
war noch nie einer gesichtet worden.
Noch 2009 schätzten Forscher die Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass das derzeit in
Chile im Bau befindliche Large Synoptic
Survey Teleskope mit seinen 8,4 Metern
Durchmesser jemals einen Himmelskör-
per aus einem fremden Sonnensystem be-
obachtet, auf weniger als ein Prozent.
Doch dann kam ’Oumuamua. Der auf
das hawaiianische Wort für „Kundschaf-
ter“ getaufte Himmelskörper wurde vor
zwei Jahren auf einer hyperbolischen
Bahn entdeckt und ist damit der erste in
unserem Sonnensystem gesichtete Him-
melskörper interstellarer Herkunft. Aller-
dings war ’Oumuamua kein Komet, son-
dern ein steinerner Asteroid: In Sonnen-
nähe verdampfte von seiner Oberfläche
daher kein Eis, um einen typischen Ko-
metenschweif zu bilden. Die Entdeckung
’Oumuamuas ließ die Schätzungen für
die Wahrscheinlichkeit der Beobachtung
interstellarer Objekte drastisch steigen,
und zwar auf etwa ein Objekt pro Jahr.
Die Zeit war damit reif für die Idee
der Forschungsgruppe um Guzik und
Drahus. Die polnischen Astronomen hat-
ten einen Algorithmus entwickelt, eben-
jenen „Interstellar Crusher“, der sie auf
mögliche hyperbolische Bahnen neuer
Himmelskörper in der Datenbank des Mi-
nor Planet Center aufmerksam machte.
„Die Entdeckung von ’Oumuamua war
nur möglich dank der automatisierten
Überwachung des Himmels mit Pan-
STARRS“, einem auf Hawaii stationier-
ten Teleskop-System, erklärt Guzik. Frü-
here Überwachungssysteme hätten dafür
nicht die nötige Sensitivität gehabt. An-
ders sei das bei dem jetzt gesichteten Ko-
meten gewesen, der als zweites interstella-
res Objekt nun den Namen „2I/Borisov“
trägt. Der sei so hell, dass er auch schon
vor zwanzig Jahren hätte entdeckt werden
können. „Die Koinzidenz der beiden Fun-
de innerhalb von zwei Jahren war also
eine Kombination von Glück und techni-
schem Fortschritt“, sagt Guzik. Wichtig
sind diese Entdeckungen deswegen, weil
sie Astronomen Hinweise darauf liefern
können, wie typisch oder wie speziell un-
ser eigenes Sonnensystem unter den ande-
ren Sternsystemen ist. ’Oumuamua war
mit seiner abnorm langgestreckten Form
ein extremer Sonderling. 2I/Borisov dage-
gen unterscheidet sich nach bisherigen
Beobachtungen nicht von einem Kome-
ten solarer Herkunft: etwa einen Kilome-
ter groß ist er und von rötlicher Farbe.
Guzik schließt daraus, dass es zumindest
einige Sternsysteme gibt, die unserem in
gewissem Maße ähnlich sind.
Noch mehr über solche Fragen ließe
sich sicher in Erfahrung bringen, könnte
man eine Raumsonde zum Kometen
2I/Borisov schicken. Wie realistisch ein
solches Unternehmen wäre, haben briti-
sche Wissenschaftler um Andreas Hein
untersucht. Nach ihren Berechnungen ist
der günstigste Starttermin freilich schon
verpasst – er wäre im Juli vergangenen
Jahres gewesen. Eine Chance gebe es al-
lerdings noch: Würde man im Jahre 2030
eine Rakete Richtung Jupiter starten, sie,
vom Schwerefeld des Planeten abgelenkt,
zurück zur Sonne fliegen lassen und ihr
von dort mittels eines zusätzlichen Rake-
tenschubs eine ausreichend hohe Be-
schleunigung verleihen, so ließe sich der
Komet im Jahre 2045 einholen, sofern die
wissenschaftliche Nutzlast nicht mehr
wiegt als drei Kilogramm.
Die Reise einer Sonde zum Kometen
2I/Borisov wäre spektakulär, aber in die-
ser Form wohl etwas voreilig. Denn in
Anbetracht der neuen Erkenntnisse über
die Häufigkeit solcher interstellaren Ein-
dringlinge von einem Objekt pro Jahr
wäre es wohl sinnvoller, einfach den
nächsten abzuwarten. Das ist eines der
Ziele des im Juni dieses Jahres begonne-
nen Programms „Comet Interceptor“
der europäischen Weltraumorganisation
ESA. Von 2028 an will man damit in der
Lage sein, neue Kometen rechtzeitig mit
einer Raumsonde abzufangen.
Lange vorher, nämlich am 28. Dezem-
ber 2019, wird 2I/Borisov den Punkt sei-
ner größten Nähe zur Erde erreichen –
seine Entfernung wird dann etwa 300
Millionen Kilometer oder einen Erd-
bahndurchmesser betragen. Mit dem
bloßen Auge wird man den Kometen
auch dann nicht beobachten können.
Dazu sei ein Teleskop von mindestens
zwanzig Zentimeter Durchmesser erfor-
derlich, schreibt der Freizeitastronom
Bob King in seinem Blog.
Gut gerüstete Amateure haben auch in
der Vergangenheit schon immer wieder
wichtige Beiträge zur akademischen As-
tronomie geliefert. So zum Beispiel der
Amerikaner Clyde Tombaugh, dessen
selbstgebaute Teleskope ihm zu einem
Job am Lowell Observatory in Arizona
verhalfen, wo er 1930 den Pluto entdeck-
te. Seinen Bachelor und Master in Astro-
nomie hatte er erst nach diesem Erfolg er-
worben. Auch Gennadiy Borisov war in
Astronomenkreisen bisher alles andere als
ein Unbekannter. Als Teleskopingenieur
an dem auf der Krim gelegenen Observa-
torium des Sternberg-Instituts für Astro-
nomie hatte er zuvor mit seinen selbstge-
bauten Geräten schon sieben Kometen
entdeckt. Natürlich habe er seine Suchauf-
gabe fortgesetzt und nach dem achten ge-
sucht, sagte er dem russischen Internet-
magazin „Fontanka.ru“ in einem Inter-
view. Die Bedeutung der Amateurastrono-
mie sieht er allerdings schwinden. „Nor-
malerweise entdecken Amateure einen
bis drei Kometen pro Jahr. Im Jahr 2013
waren wir zu siebt. Doch 2016 war ich der
Einzige, der einen Kometen entdeckte.
Mit jedem Jahr wird es weniger. Es gibt
immer mehr riesige Teleskope. Für Ama-
teure bleibt bald nichts mehr übrig.“
I
n modernen demokratischen Ge-
sellschaften gewinne das Erbe wie-
der eine bedeutsame Rolle für die
Verteilung von Wohlstand und Ge-
sundheit. Manche Kinder erbten die
Vorteile ihrer Eltern: Sie starteten kör-
perlich und geistig gesünder ins Le-
ben, haben höhere kognitive und sozia-
le Kompetenzen als benachteiligte Kin-
der. Es bedürfe stärkerer politischer
Maßnahmen, um die zunehmende
Konzentration von Wohlstand einzu-
dämmen. Diese These stammt von der
Soziologin Jianghong Li, die am Wis-
senschaftszentrum Berlin (WZB) zu
Fragen der sozialen Determination der
Gesundheit von Kindern forscht. Be-
merkenswert ist hier zweierlei: Erstens,
dass Li behauptet, das Erbe gewinne
„wieder“ eine bedeutsame Rolle bei
der Wohlstandsverteilung. War es ein-
mal nicht so? Und zweitens die doppel-
te Bedeutung des Erbens: als intergene-
rationelle Verteilung von Wohlstand
als auch Gesundheit. Aber seit wann
sind Soziologen für die Vererbung von
körperlichen Eigenschaften zuständig?
Am Berliner Wissenschaftszentrum
hat man jetzt eine ganze Ausgabe der
WZB-Mitteilungen der Frage interge-
nerationeller Übertragungen gewid-
met. Die Beiträge von Li und ihrem
Kollegen Jan Paul Heisig fallen dabei
besonders auf, weil sie sich explizit mit
dem Verhältnis von Soziologie und Bio-
logie beschäftigen. Dass Wohlstand so-
zial vererbt wird, also in Form von Be-
sitz und sozialen Chancen, ist soziolo-
gisch unproblematisch. Die genauen
Umstände, wie das geschieht, zählen
schon immer zu den zentralen Aufga-
ben der empirischen Sozialforschung.
Dass andererseits die biologische Aus-
stattung eines Menschen dessen soziale
Chancen massiv mitbestimmt, wird da-
gegen von der Soziologie kaum thema-
tisiert. Oder wie Heisig es formuliert:
In der sozialwissenschaftlichen For-
schung hätten „die Gene“ bislang eine
überraschend geringe Rolle gespielt.
Aus „historischen Gründen“, raunt
Heisig, habe es da eine „gewisse Zu-
rückhaltung“ gegeben. Die will man
am WZB jetzt anscheinend aufgeben.
Warum? Weil die Soziogenomik
und das Feld der Gen-Umwelt-Interak-
tionen ein „wachsendes und faszinieren-
des Feld“ seien, so Heisig. Entspre-
chend zählt auch Li eine ganze Reihe
durchaus faszinierender Studien auf,
die etwa die Vererbung von Gesund-
heit als Humankapital nachgewiesen
haben, genauso wie die von Intelligenz,
Persönlichkeitsmerkmalen und Verhal-
tensmustern. Aber reicht das, um die
historisch genannte Zurückhaltung hin-
ter sich zu lassen? Wenn man sozusa-
gen das Erbe der Sozialwissenschaften
für diese Zusammenarbeit nicht ver-
schleudere, ja. Dann könne es zu einer
erfolgversprechenden Zusammenar-
beit von Soziologie und Biologie kom-
men, also wenn man darauf bestehe,
Vererbung nicht deterministisch zu ver-
stehen, meint Heisig. Auch nicht ihre
biologischen Komponenten. Es gehe
vielmehr um eine „probabilistische Be-
ziehung“, also um Wahrscheinlichkei-
ten. Es gebe Risikofaktoren, die ver-
erbt würden. Manche Kinder bekämen
Chancen und Möglichkeiten vererbt.
Andere, müsste man wohl ergänzen, ha-
ben diese eben nicht. Aber wir verstün-
den auch immer mehr, gerade im Aus-
tausch mit der Biologie, „dass die Rolle
der Gene eben auch nicht ein für alle
Mal gesetzt ist“. Ob sich die geerbten
genetischen Anlagen überhaupt entwi-
ckeln, hänge auch von Umweltfaktoren
ab, schreibt Heisig. Oder wie es Li
sieht: Intelligenz sei formbar. Mathe-
matische Fähigkeiten seien formbar.
Natur sei also kein Schicksal.
Programmatisch klingen solche For-
meln immer sehr mitreißend. Wenn es
konkret wird, geht es dann doch eher
um kleine Schritte. Da scheint dann
jede Disziplin ihren Teil der Erklä-
rungsleistung von sozialen Chancen
ganz traditionell allein zu bestreiten.
So zitiert Li eine Studie, wonach „die
Gene etwa die Hälfte der Verbindung
zwischen dem sozioökonomischen Sta-
tus der Herkunftsfamilien und dem
akademischen Erfolg der Kinder erklä-
ren“. Etwa die Hälfte – das klingt fast
wie eine probabilistische Kompromiss-
formel. Und wenn Li als sozialpoliti-
sches Gegenmittel zur genetischen Aus-
stattung die frühkindliche Förderung
der mathematischen Fähigkeiten emp-
fiehlt, ist das auch nicht unstrittiger als
ihre Forderung, soziale Gleichheit
durch die Erhöhung der Erbschafts-
steuer zu fördern. Warum man als Sozi-
alwissenschaftler eine Zusammenarbeit
mit Humangenetikern braucht, um auf
solch revolutionäre Ideen zu kommen,
bleibt auch nach den Vorstößen der
WZB-Forscher rätselhaft. Ob man
sich ihnen anschließen möchte, sei da-
hingestellt. Heisig behauptet forsch,
man wolle jetzt den Zusammenhang
von sozialem Status und Gesundheit
weniger beschreiben, sondern ent-
schlüsseln. So zitiert er etwa eine däni-
sche Studie, wonach die Nähe zu Grün-
flächen in der Kindheit das Risiko psy-
chischer Erkrankungen im Erwachse-
nenalter mindere, und verkündet, dass
man das jetzt am WZB auch für den
„deutschen Kontext“ erforschen wolle.
Ja musste der Junge besser doch nicht
an die frische (deutsche) Luft? Son-
dern nur das dänische Kind? Herr Dr.
Heisig, entschlüsseln Sie!
J. Li: Wohlstand und Intelligenz für alle. Lebenschan-
cen müssen nicht vom Elternhaus abhängen, in:
WZB-Mitteilungen, Heft 165, September 2019. J. P. Hei-
sig: Geld und Gene. Bei der Frage, wie Gesundheit
vererbt wird, begegnen sich Soziologie und Biologie,
in: WZB-Mitteilungen, Heft 165, September 2019.
D
as Schöne – und hinsichtlich
der Arbeitsproduktivität zuwei-
len Gefährliche – an der On-
line-Enzyklopädie Wikipedia ist, dass
die einzelnen Artikel nicht aus reinem
Fließtext bestehen, sondern zahlreiche
Begriffe und Schlagworte wiederum
mit einem eigenen Wikipedia-Beitrag
verlinkt sind. Auf diese Weise kann
man sich von Artikel zu Artikel han-
geln und findet nebenbei interessante
Dinge heraus, nach denen man eigent-
lich gar nicht gesucht hat.
Es gibt ein Online-Spiel, bei dem
dieser Sachverhalt gewissermaßen auf
links gedreht wird: Hier müssen Sie
diesen Weg nämlich ganz bewusst ge-
hen und den Weg von einem Wikipe-
dia-Artikel zu einem anderen in mög-
lichst wenigen Schritten gehen, wobei
Sie zusätzlich noch in Echtzeit gegen
andere Besucher der Website spielen.
Starten Sie die Seite http://www.thewikiga-
me.com/group und Sie bekommen zu-
fällig vorgegebene Start- und Zielsei-
ten angezeigt, beispielsweise „Tom Jo-
nes“ und „Copyright“. Klicken Sie auf
„Play now!“, daraufhin wird der Wiki-
pedia-Eintrag zu Tom Jones angezeigt.
Sie müssen nun dort verlinkte Wörter
finden, die zu anderen Seiten führen,
von wo aus Sie sich dem Thema
„Copyright“ immer weiter annähern,
bis Sie den dezidierten Artikel zu
„Copyright“ erreichen. Die oder der
Schnellste gewinnt, viel Spaß dabei.
Nun unser Rätsel: Mit welchem
englischsprachigen, fünfsilbigen Wort
bezeichnet man den oben genannten
Effekt, auf der Suche nach einer be-
stimmten Sache gewissermaßen zufäl-
lig oder durch glückliche Fügung eine
völlig andere, neue Erkenntnis gewon-
nen zu haben? Senden Sie Ihre Lö-
sung bitte an [email protected]; un-
ter allen richtigen Einsendungen verlo-
sen wir einen ebook-Einkaufsgut-
schein im Wert von 25 Euro. Einsende-
schluss ist der 23. Oktober 2019, 21
Uhr. Das Lösungswort des Rätsels der
vergangenen Woche lautet: „Gund-
remmingen“, gewonnen hat Stephan
Huerkamp aus Berlin. Herzlichen
Glückwunsch!
N
icht die Schätze sind es, die ein
so unaussprechlichesVerlangen
in mir geweckt haben,..., fern ab
liegt mir alle Habsucht: aber die blaue
Blume sehn’ ich mich zu erblicken.“ Die
Frühromantiker wären wohl maßlos ent-
täuscht, meine Deutschlehrerin ,SteWa‘
würde sich die Haare raufen angesichts
dieser unpoetischen Interpretation, aber:
Auf meinem Balkon wäre Heinrich von
Ofterdingen fündig geworden, oder zu-
mindest die Autoren Novalis und Joseph
von Eichendorff, Letzterer dichtete 1818:
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
Im Rheingau zog es die Dichter zu den
Brentanos, und wären sie zurück in die
Zukunft nach Frankfurt gereist, hätten
ein paar Pflanzkästen ihre Sehnsucht er-
füllen können. Darin versuchte ich erst
blau leuchtenden Rittersporn zu ziehen,
und als ich einsehen musste, dass der
Staude dort nicht nur der Platz zum Wur-
zeln, sondern außerdem die Sonne fehlte,
stieg ich erfolgreich auf Hortensien um.
Die gedeihen prächtig, treiben zur Freu-
de aller Nachbarn stets Dutzende Blüten-
stände auf kleinem Raum, und dass sie in-
zwischen vom Blau zum zarten Rosa ge-
wechselt sind, ist schrecklich kitschig,
aber leider normal. Mit Alaun zu hantie-
ren wie ein blausüchtiger Gärtner würde
mir nicht einfallen, der Griff zum Alumi-
niumsalz scheint mir für Balkonien zu
übertrieben. Die Geschichte dahinter ist
jedoch so faszinierend wie das Farbspiel
selbst, denn Metalle spielen eine entschei-
dende Rolle, wenn Blüten tiefblau und
nicht violett oder dunkelrot blühen. Von
seltenen Ausnahmen abgesehen, nutzen
Pflanzen keine Strukturen, wie Schmet-
terlinge auf ihren Flügeln, sondern orga-
nische Pigmente in Kombination mit
Co-Pigmenten nebst Metallionen, die
beim Menschen nun mal einen starken
Eindruck in Blau hinterlassen. Es sind
komplexe Arrangements von Molekülen
namens Delphinidin oder Cyanidin.
Wiedie Blaufärberei und deren Wahr-
nehmung in der Natur gelingt, welche
Mechanismen der Physik, Chemie und
Biologie dafür nötig sind und wie schwie-
rig es war, den Geheimnissen von Lein,
Kornblume, Prunkwinde, Blaukraut und
Rittersporn oder auch von Färberwaid
undIndigo feraauf die Spur zu kommen,
lässt sich in einem neuen Sachbuch nach-
lesen: In „Blau. Wie die Schönheit in die
Welt kommt“ macht sich der Wissen-
schaftsjournalist Kai Kupferschmidt auf
eine persönliche Suche – nach blauen Blu-
men, aber über Lapislazuli, Ringwoodit,
lebende Opale, Blaumeisen, Cyanwasser-
stoff, Jeans, Küchenexperimente, Labor-
besuche, Sprachtücken, Anilin, Retinal,
E133, Ultramarin und das erstaunliche
YInMn-Blau ist auch so einiges zu erfah-
ren. Letzteres besteht aus den Elementen
Mangan, Indium, Yttrium sowie Sauer-
stoff und wurde vom Autor im Labor des
Entdeckers einmal selbst gebacken. An-
hand von Anekdoten, Reportagefragmen-
ten und Forschungsgeschichten gelingt es
Kupferschmidt, die Wissenschaft vom
Blau unterhaltsam und anschaulich zu er-
klären. Ob Elektronensprünge oder Ge-
netik in der Rosenzucht: der Journalist
macht schwierige Materie leicht verständ-
lich und konnte mit Blick auf blaue Chry-
santhemen einen Moment im Sinne von
Novalis erfahren. Die Welt muss romanti-
siert werden, forderte dieser und meinte
ihre qualitative Potenzierung, so finde
man den ursprünglichen Sinn wieder.
Literaturhinweis:
Kai Kupferschmidt, „Blau. Wie die Schönheit in die Welt
kommt“, Hoffmann und Campe, 2019, gebunden, 26 Euro.
VON HÖLZKEN
AUF STÖCKSKEN
VON JOCHEN REINECKE
IM GESPRÄCH
Die gesellschaftswissenschaftliche Erforschung
sozialer Ungleichheiten entdeckt die Biologie
Von Gerald Wagner
AB IN DIE BOTANIK INS NETZ GEGANGEN
Ferner Besuch
SOZIALE SYSTEME
Illustration Charlotte Wagner
Die Entdeckung des zweiten interstellaren Eindringlings war
eine freudige Überraschung für die Astronomie. Jetzt würde man
zu gerne eine Raumsonde hinschicken.Von Ludwig Hruza
Wenn das Erbe
ins Geld geht
Der Komet 2I/Borisov, aufgenommen vom Hubble Space Telescope am 12. Oktober. Da war er 420 Millionen Kilometer entfernt. Foto Nasa/Esa
GESUCHT: DIE
BLAUE BLUME
VON SONJA KASTILAN
Von ’Oumuamua gibt es keine guten Fotos, dafür aber dieses Gemälde. Foto Eso