FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG
Rhein-main
FRANKFURTER ZEITUNG
- OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE R1
C
hristina Kampmann und ich wol-
len Vorsitzende der SPD werden.
Bei diesem einzigartigen Prozess
mit 23 Regionalkonferenzen und einem
Mitgliedervotum haben wir unseren Bei-
trag zu leisten versucht, unsere Partei
kraftvoll, diskussionsfreudig, zuversicht-
lich und spannend zu präsentieren. Uns
war ziemlich rasch klar: Die Regionalkon-
ferenzen sind ein beschwerlicher, aber
notwendiger Weg zur Wahl des SPD-Vor-
sitzes. Die großen Bewährungsproben
warten jedoch erst mit dem Amtsantritt
auf die neue Spitze der ältesten Partei
Deutschlands.
Die vergangenen Wochen zählen si-
cher zu den spannendsten und fordernds-
ten in meiner bisherigen politischen Ar-
beit. Ich habe meine Partei, der ich seit 32
Jahren angehöre, von ihren besten und
bisweilen auch schwierigsten Seiten ken-
nengelernt. Alle Konferenzen waren
gleich, aber dann doch wieder ganz an-
ders. In einigen Regionen geht man eher
sparsam mit Applaus um, in anderen spen-
det man gerne kräftig und anhaltend Bei-
fall. An vielen Orten werden Fragen
freundlich gestellt, bisweilen schenkt man
sich aber auch nichts. So bunt und vielfäl-
tig wie unser Land ist eben auch die
SPD. Wir hätten uns noch lebendigere
und kritischere Debatten gewünscht.
Aber das war aufgrund des starren For-
mats kaum möglich.
Besonders erfreulich war die große Un-
terstützung, die uns zuteil wurde. Mit so
viel Begeisterung von Jung und Alt, Frau-
en und Männern hatten wir nicht gerech-
net. Vor allem viele junge Mitglieder zei-
gen sich von einzelnen Vorstandsempfeh-
lungen, ein bestimmtes Team zu unter-
stützen, völlig unbeeindruckt. Ihr Interes-
se, ihre Offenheit und Diskussionsfreude
haben mich sehr bewegt.
Zu den Merkwürdigkeiten der media-
len Berichterstattung gehörte es, dass bei
Christina Kampmann und mir immer
wieder unsere Professionalität im Auftritt
kritisch hinterfragt wurde. Von Kandidie-
renden für den Vorsitz einer so wichtigen
Partei wie der SPD muss man erwarten
können, dass sie rhetorisch ebenso zu
überzeugen wissen wie mit ihrem Auftre-
ten. Bei uns gab es weder Trainer noch
Choreographen. Ein Team auf Augenhö-
he zeichnet aber aus, dass es sich ab-
stimmt und Gemeinsamkeiten ausleuch-
tet. Die SPD muss immer den Anspruch
erheben, Wahlen gewinnen zu wollen
und zu können. Dies zu betonen und mit
eigenen Erfolgen zu untermauern, sollte
für Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten selbstverständlich sein. Christina
Kampmann und ich haben daher nie ein
Geheimnis aus unseren Wahlerfolgen als
Abgeordnete gemacht.
Aus den Reihen der Mitbewerberin-
nen und Mitbewerber, die noch niemals
zu einer Volkswahl angetreten oder gar
eine gewonnen haben, wurde uns das ne-
gativ ausgelegt. Aber auch hier gilt die
Devise: Wenn nicht einmal mehr die
SPD über eigene Erfolge spricht, wer soll-
te es denn sonst tun?!
Unsere Mitglieder stellten im Wesentli-
chen drei Fragen: Welche Programmatik
braucht die SPD, um wieder stark zu wer-
den? Mit welcher Haltung wollt ihr die
SPD führen? Und wie ist die SPD organi-
satorisch neu aufzustellen? Für mich sind
diese Fragen unauflösbar miteinander ver-
bunden. Und genau da liegt einer der
Konflikte, die im Netz und auf den Kon-
ferenzen offen ausgetragen werden. Die
einen wollen nur über Inhalte, andere hin-
gegen eher über Umgang und Haltung
sprechen. Eine inhaltliche Neuausrich-
tung hilft uns jedoch kaum weiter, solan-
ge wir nicht anständig und respektvoll
miteinander umgehen. Wenn ich mich
mit Menschen unterhalte, die sich der
SPD durchaus verbunden fühlen, werde
ich genau das immer gefragt: Wie kann
die SPD, die für sich in Anspruch nimmt,
Partei der Solidarität zu sein, nur so unso-
lidarisch mit ihren eigenen Leuten umge-
hen?
Ein organisatorischer Umbau der SPD
bewirkt nichts, wenn wir es nicht schaf-
fen, die Türen und Fenster der SPD
sperrangelweit für hart arbeitende Men-
schen zu öffnen, die mitten im Leben ste-
hen, unsere Ideale teilen, aber sich der-
zeit von der Partei nicht angesprochen
fühlen. Auf den Regionalkonferenzen hat
die SPD ihr progressives Profil geschärft.
Gut so. Jetzt muss es uns noch gelingen,
als linke Volkspartei wieder Sprachrohr ei-
ner bunten, vielfältigen Gesellschaft zu
werden, die sich breiter aufstellt und kein
Nischendasein zu führen trachtet. Das
geht nur mit Herz und Haltung.
Mit der früherennordrhein-westfälischen Familien-
ministerin und derzeitigen Landtagsabgeordneten
Christina Kampmann bildet Michael Roth eines von sechs
jeweils mit Frau und Mann besetzten Kandidatenduos
für den Vorsitz der Bundes-SPD. Der 49 Jahre alte Roth
ist seit Dezember 2013 Staatsminister (Parlamentarischer
Staatssekretär) für Europa im Auswärtigen Amt.
D
er hessische Schuldenberg
und die bayrischen Glet-
scher haben eines gemein-
sam: sie schmelzen. Von den
Eisfeldern in den Alpen wird
allerdings möglicherweise
schon Ende dieses Jahrhunderts nichts mehr
zu sehen sein, während sich die Verbindlich-
keiten des Landes Hessen wohl sehr viel lang-
samer auflösen werden. Wenn es mit dem
von Finanzminister Thomas Schäfer (CDU)
vor drei Jahren eingeleiteten Schuldenabbau
im bisherigen Tempo weitergeht, ist das Bun-
desland frühestens in 400 Jahren aus den ro-
ten Zahlen raus, die sich derzeit noch auf fast
43 Milliarden Euro summieren.
Doch selbst diese bittere Erkenntnis ist
nur die halbe Wahrheit, denn zu den explizi-
ten Schulden kommen die in Jahrzehnten auf-
getürmten Verpflichtungen hinzu, Pensio-
nen und Beihilfen für aus dem Dienst ausge-
schiedene Beamte zu zahlen. Die rechneri-
schen Rückstellungen für diese Zwecke belau-
fen sich auf deutlich mehr als die 43 Milliar-
den Euro Altschulden. Im Landeshaushalt
taucht diese Summe allerdings nicht auf, weil
sie nicht im jeweiligen Jahr, sondern erst
über Jahrzehnte hinweg sukzessiv ausgezahlt
werden muss.
Fast fünf Jahrzehnte lang, beginnend im
Jahr 1970, wurden in Hessen von Regierun-
gen unterschiedlichster Couleur Schulden
aufgehäuft. Anfang der neunziger Jahre
stand Hessen bereits mit 15 Milliarden Euro
in der Kreide, innerhalb von anderthalb Jahr-
zehnten hatte sich dieser Betrag verdoppelt,
und im Jahr 2012 wurde die 40-Milliarden-
Euro-Grenze überschritten (siehe obenste-
hende Graphik). Schuldenmachen schien
mithin zu einem notwendigen Übel, wenn
nicht sogar zu einem nachgerade selbstver-
ständlichen Bestandteil der hessischen Poli-
tik geworden zu sein.
Vor drei Jahren dann die Wende: Dank un-
erwartet stark fließender Steuereinnahmen
kam Hessen 2016 erstmals wieder ohne neue
Schulden aus. Mehr noch: Zum ersten Mal
nach 47 Jahren zahlte das Land sogar Alt-
schulden zurück. Von dem auf mehr als 43
Milliarden Euro angewachsenen Schulden-
berg konnten 200 Millionen Euro abgetra-
gen werden. Kein Wunder, dass Finanzminis-
ter Thomas Schäfer (CDU) von einem „his-
torischen Tag“ sprach, der auch der in der
Verfassung verankerten Pflicht zur dauerhaf-
ten Konsolidierung der Landesfinanzen zu
verdanken sei.
„Die Schuldenbremse wirkt“, sagte er da-
mals. Nicht zuletzt, weil sich im Jahr 2011 fast
70 Prozent der Hessen in einer Volksabstim-
mung für eine solch strenge Vorgabe ausge-
sprochen hätten, sei es ihm möglich, Haus-
haltsdisziplin zu wahren.
Derzeit indes probt der Finanzpolitiker
Schäfer den Spagat: Er will Schulden tilgen.
Und gleichzeitig will er die Investitionen er-
höhen. Schäfers Entwurf für den Landeshaus-
halt 2020 sieht vor, dass von den derzeitigen
Altschulden in Höhe von 42,6 Milliarden
Euro im nächsten Jahr rund 100 Millionen
Euro (gut 0,2 Prozent) getilgt werden. Das
ist nur noch die Hälfte der Summe, die für
diese Zwecke ursprünglich vorgesehen war.
Zugleich sollen bis zu 2,48 Milliarden Euro
für Investitionen zur Verfügung stehen, in die-
sem Jahr waren es 2,32 Milliarden. SPD und
FDP drängen den Minister, deutlich mehr
Schulden als vorgesehen abzubauen. „Ein Fi-
nanzminister, der unter derart günstigen Rah-
menbedingungen gerade mal 100 Millionen
Euro übrig hat, um alte Schulden zurückzuzah-
len, macht offensichtlich etwas falsch.“ Das
sagt Marius Weiß, der finanzpolitische Spre-
cher der größten Oppositionsfraktion im Hes-
sischen Landtag, der Sozialdemokraten.
Die Linkspartei folgt dieser Argumentation
nicht, sie fordert das Gegenteil. Angesichts
von Wohnungsnot und Lehrermangel, von In-
frastrukturmängeln und Klimawandel dürfe
die CDU/Grünen-Regierung nicht am „Fe-
tisch der schwarzen Null“ festhalten. Und
auch in der schwarz-grünen Koalition zweifelt
schon mancher, ob es richtig sei, ausgerechnet
in einer Zeit, in der Kredite nahezu zinslos
zur Verfügung stehen, mit aller Macht auf
Haushaltskonsolidierung zu setzen.
Insgesamt steigen die Ausgaben des Lan-
des Hessen im nächsten Jahr um 6,7 Pro-
zent. Finanzminister Schäfer hob bei der
Vorlage des Etatentwurfs hervor, dass mit
den Mehrausgaben ein zusätzlicher finanziel-
ler Impuls zur Unterstützung der konjunktu-
rellen Entwicklung gegeben werde, die im
Moment schwächele. „Wir legen jetzt bei
den Ausgaben ordentlich zu“, sagte Schäfer;
allein 168 Millionen Euro würden im nächs-
ten Jahr in den Klimaschutz investiert.
„Auch das stärkt Hessen“, sagt er. Bei der Fi-
nanzierung solcher Mehrausgaben profitiere
das Land von der vorausschauenden Finanz-
politik früherer Jahre.
Die „schwarze Null“, also ein Haushalt
ohne neue Schulden, bleibt nach den Wor-
ten des Finanzministers allerdings eine „zen-
trale Priorität“ der Politik der schwarz-grü-
nen Landesregierung. Die Verringerung der
Altschulden wird also wohl bis auf weiteres
zumindest in Trippelschritten fortgesetzt.
Bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr
2023 plant Schäfer nach eigenen Angaben wei-
ter mit einem jährlichen Abbau von 100 Mil-
lionen Euro.
Noch bis zum 25. Oktober läuft die Urwahl für den neuen
SPD-Vorsitz. Die Erfolgsaussichten des Nordhessen
Michael Roth stehen dabei gar nicht so schlecht. Hier
zieht der Mann aus Bad Hersfeld seine persönliche Bilanz
des Kandidaten-Schaulaufens der vergangenen Wochen.
Über Jahrzehnte
hinweg wurden in
Hessen Schulden
angehäuft:43,6
Milliarden Euro
waren es 2015.
Seitdem verliert
der Berg an Höhe,
allerdings im
Schneckentempo.
Von Ralf Euler
„Alles gleich und
doch ganz anders“
Spitzenkandidat: Europa-Staatsminister
Michael Roth will die SPD retten. Foto Imago
Quelle:
Hessischer Rechnungshof
F.A.Z.-Grafik Brocker
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Haushaltsschulden
des Landes Hessen
in Milliarden Euro (jeweils Jahresende)
Schuldenfrei
in 400 Jahren