FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 rhein-main R5
Nach vier Stunden und 16 Autoren haben
am Bücherstand vor dem Sendesaal des
Hessischen Rundfunks in Frankfurt be-
sonders viele den Erzählband „Malinois“
gekauft und ihn vom Autor Lukas Bär-
fuss gleich signieren lassen. Der Schwei-
zer Autor war an diesem von Catherine
Mundt und Alf Mentzer souverän mode-
rierten Abend jener Autor, bei dem man
am meisten aufmerkte ob seiner klugen
und unprätentiösen Beobachtungen der
bewegten Weltenläufe von Trump bis
zum Brexit. Wenn die Politik wieder lang-
weiliger werde, seufzte Bärfuss während
der ARD-Radiokulturnacht der Bücher,
gehe es uns allen vielleicht besser. Sollte
sein Buch mit 13 Erzählungen dieselbe
geistige Frische und Originalität besitzen,
die der Erzähler bei seinem Auftritt be-
wies, haben die Käufer gewiss nicht dane-
bengegriffen. Für Bärfuss spricht darüber
hinaus, dass er in Darmstadt bald mit
dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird,
dem immer noch bedeutendsten Litera-
turpreis der Republik. Die Juroren dort
dürften alle seine Bücher gelesen haben,
wir vertrauen ihrem Urteil.
Ginge es allein nach dem Auftritt ei-
nes Autors in der Büchernacht, müsste
man unbedingt auch den Roman „Ein
Hummerleben“ des norwegischen
Schriftsteller Erik Fosnes Hansen käuf-
lich erwerben, der vom Niedergang ei-
nes mondänen Hotels in den norwegi-
schen Bergen handelt. Hansen, der zwei
Jahre seines Lebens in Stuttgart ver-
bracht hat, schauspielerte in unfassbar gu-
tem Deutsch aus dem Stegreif jene Sze-
ne, in der die Eltern ihren bestürzten
und wehrlosen Sohn Sedd, die Hauptper-
son des Romans, darüber aufklären, dass
sie nun in eine weit entfernte Stadt um-
ziehen müssten. Das Werk handelt von
dem Konkurs des Hotels, den die Er-
wachsenen einfach verdrängen. Doch, so
Hansens fast existentialistische Erkennt-
nis: „Zahlen sind gnadenlos.“
Der dritte Autor, der einen fesselnden
Auftritt hinlegte, der erfolgreiche Krimi-
Autor Heinrich Steinfest, hat sich dieses
Mal auf das philosophisch-essayistische
Glatteis begeben und eine „Gebrauchsan-
weisung fürs Scheitern“ geschrieben. Er
stellt fest, dass sogar Gott gescheitert ist,
denn wenn er seine Schöpfung betrachte,
könne er keinesfalls einen Erfolg erken-
nen. Dass das Scheitern zum Leben ge-
hört, wissen wir inzwischen alle. Doch
entscheidend ist nach Ansicht des Autors,
ob man erbärmlich oder grandios schei-
tert. Steinfest jedenfalls, von Jugend an
ein Hypochonder, übt sich mittlerweile
als „Besserscheiterer“. Das scheint nicht
die schlechteste Rolle zu sein, wie man an
seinem literarischen Erfolgen sieht.
Kann man vom Schriftsteller auf sein
Werk schließen? Natürlich nicht, obwohl
dies im Moment beim frischgebackenen
Literatur-Nobelpreisträger Peter Handke
gerade wieder mit Leidenschaft betrieben
wird, der ob seiner Liebe zum serbischen
Volk und seinen nationalistischen Verfüh-
rern nun von literarischen Freischärlern
aus allen Richtungen unter Feuer genom-
men wird. Wir alle sollten in dieser De-
batte von unserem hohen moralischen
Ross heruntersteigen und die Irrtümer be-
trachten, die wir selbst in unserem Leben
begangen hätten, mahnte der Literaturkri-
tiker Scheck, der mit „Schecks Kanon“
ein Buch über die 100 wichtigsten Werke
der Weltliteratur auf den Markt geworfen
hat. Es geht um „Krieg und Frieden“,
aber auch um „Tim und Struppi“, was
Mentzer zu der Frage brachte, warum
Scheck nicht „Asterix“ gewählt habe. Tat-
sächlich habe er damit geliebäugelt, be-
kannte der Autor, sich am Ende aber für
den Belgier Hergé entschieden, weil der
als Zeichner und Autor in seinem künstle-
rischen Leben eine geistige Wende vom
Kolonialisten zum aufgeklärten Zeitge-
nossen vollzogen habe.
Nicht alle Autoren sind Stimmungs-
kanonen wie Scheck. Colson Whitehead
etwa wirkt ernst und zurückhaltend, ob-
wohl der Pulitzer-Preisträger ein Super-
star der Literatur ist und sein neues Werk
„Die Nickel Boys“ über den schreckli-
chen Sadismus und Rassismus in einer
amerikanischen Besserungsanstalt der
sechziger Jahre schon jetzt zum Bestseller
avanciert ist. Gewissenhaft schilderte
Whitehead im Sendesaal, wie er bei der
Recherche des authentischen Falls vorge-
gangen ist.
Der „Pausenclown“ in diesem Jahr war
Axel Hacke, Kolumnist der „Süddeut-
schen Zeitung“. Sein Buch „Wozu wir da
sind“ werden wir freilich nicht kaufen.
Die Episoden, die Hacke während seiner
Zwischenauftritte eitel vortrug, konnte
man nur eingeschränkt als „Handreichun-
gen für ein gelungenes Leben“ bezeich-
nen. Vielleicht hat HR2-Kultur, sofern
der Sender auch als Wort-Welle überlebt
und weiterhin die Buchnacht für die
ARD ausrichten darf, im nächsten Jahr
mehr Glück bei der Wahl des Serien-
unterhalters. HANS RIEBSAMEN
D
ieMesse macht müde. „Wo ist
die Halle mit den Betten“, twit-
tert Miku Sophie Kühmel, als es
aufs Wochenende zugeht. Aber die Fi-
scher-Autorin ist schon seit Montag in
Frankfurt und hat auf der Bücherschau
Termin auf Termin gehabt. Die Besu-
cher, die am Samstag auf die Messe drän-
gen, haben nur eine einzige Frage: Wo ist
die Halle mit dem Spaß? Fest entschlos-
sen, eine gute Zeit zu haben, schieben sie
sich langsam durch die Gänge. Kinder,
Karren, Krücken, Rollatoren. Rollkoffer,
Gespräche, Signierschlangen, Toiletten-
schlangen. Es ist warm, es ist laut. Dass
die Buchmesse gelegentlich Opfer for-
dert, bemerkt nur Jutta Ditfurth. Eine
Meise ist gegen eine Fensterscheibe der
ARD geflogen und liegt nun tot auf der
Mauer. Ditfurth hat das Tierchen be-
merkt und ein Bild gemacht, das sie auf
Twitter postet.
Bei Arte sitzen die Besucher derweil
auf dem Fußboden, um dem nordrhein-
westfälischen Ministerpräsidenten Armin
Laschet und seiner Ehefrau Susanne, ei-
ner gelernten Buchhändlerin, zuzuhören.
Laschet war einst Verleger. Vier Jahre
lang hat er im Einhard-Verlag neben dem
Aachener Münster Kunsthistorisches und
Titel rund um den Dom, die Stadt und
die Region gemacht. „40 Meter Luftlinie
zum Thron Karls des Großen“, sagt der
Moderator. Bis ins Kanzleramt ist es et-
was weiter, aber in Laschets seligem Rück-
blick auf frisch eingesandte Manuskripte
steckt schon das künftige Regierungsober-
haupt, das wohlwollend die Gesetzentwür-
fe junger Unionsminister verbessert und
darauf lauscht, was das Volk ihm an unver-
langt eingesandten Meinungsäußerungen
so vorlegt: „Dieses Abwägen und das Zu-
trauen in etwas, das man noch gar nicht
erkennen kann, das kann man da schon
verspüren.“
Ein paar Gänge weiter hat Michael Im-
hof „Der Adel und seine Burgen und
Schlösser in Europa“ herausgebracht.
Gleich nebenan am Stand der Petersbur-
ger Eremitage, einst einem Schloss nicht
von schlechten Eltern, sitzen wie jedes
Jahr Mitarbeiter mit dem Charme sowjeti-
scher Hausmeister. Kein Kunde weit und
breit. Vielleicht sollte das Museum auf sei-
nen Buchumschlägen mehr Bilder der lä-
chelnden Queen verwenden, so wie Im-
hof. Vor dem Stand der Zeitschrift „Jun-
ge Freiheit“ begrüßt ein älterer Herr we-
nig später eine junge Frau in dem, was er
die „spannendste Sackgasse der Buchmes-
se“ nennt. Das ist Ansichtssache, aber er
fragt sie interessiert nach ihrer Tiermüt-
ze, die ein weißes Kaninchen oder eine
Katze darzustellen scheint, das Schnäuz-
chen niedlich oben auf der Stirn, die Pfo-
ten hängen links und rechts auf die Schul-
tern herunter. Tragen Leserinnen des An-
taios-Verlags das jetzt? Oder begegnet der
leicht verkniffene Ernst der neuen Rech-
ten der links-grün-versifften Welt des di-
vers-spielerischen Cosplays?
Im Fair Shop vor Halle 4.1 gibt es für
11,95 Euro jedenfalls den Eigelbfisch zu
kaufen, mit dessen Hilfe Anhänger der
Identitären Bewegung oder der Antifa
das Gelbe vom Ei von seinem Rest tren-
nen können, ohne mit Eiweiß und Scha-
len jonglieren zu müssen. Das Maul des
Goldfischs saugt das Dotter einfach ein.
Ist aber aus Plastik. Also ganz gegen
Klimaschonung und Nachhaltigkeit, ei-
nen Messetrend. Am Stand des Haupt
Verlags heißt eine Neuerscheinung „Ver-
flickt und zugenäht – Kleidungsstücke
ausbessern und verschönern“. Gleich da-
neben jedoch: „Tomatenlust.“ Die Natur
als Gegenstand des Genusses hat noch
lange nicht ausgedient. Das eingewander-
te Raubtier hingegen scheint, anders als
der Flüchtling, in der Mitte der Gesell-
schaft angekommen: „Das Leben unse-
rer Wölfe – Beobachtungen aus heimi-
schen Wolfsrevieren“ liegt einen Stapel
weiter. Und bei den „Abonauten – Dein
Gin Abo“ werden Klimafrage und
Schwelgen endgültig zusammengeführt:
„Save The Planet, It’s The Only One
With Gin“, sagt ein Plakat. „Hier Mit-
bringsel shoppen“ und „Kauf dich glück-
lich“, mahnt es gleich daneben. Die Wer-
beoffensive funktioniert: „Schau mal,
Gin Tonic to go“, sagt eine Besucherin.
Sie bleibt dann aber doch nicht stehen.
Auch der erstmals schon am Samstag
gestattete Buchverkauf verläuft sogar bei
den großen Verlagen zivilisiert. Schluss-
verkauf ist anders. Messerabatt gibt es
nur auf das Nichtbuch: zwanzig Prozent
auf Spiele bei Ravensburger. Rafik Scha-
mi erzählt nicht weit entfernt von seinem
neuen Krimi und den Etikettefragen der
Gegenwart: „Wenn man über Terroris-
mus reden will, dann muss man sehr ge-
nau sein.“ Man dürfe nicht so tun, als
würden Terroristen als Gewalttäter gebo-
ren. Eine Bühne weiter beim ZDF sitzt
Norman Ohler und wirbt für „Harro und
Libertas“, sein erzählendes Sachbuch
über die Widerstandsgruppe Schulze-
Boysen. Auch im Gespräch ist von Harro
die Rede. Jetzt duzen wir sie also. Den
Claus, den Henning, den Adam. „Mitrei-
ßend und saftig“ schreibe Ohler, lobt die
Moderatorin: „Da sind Cliffhanger drin.“
Anders erzählt Terézia Mora um die
Ecke beim Deutschlandfunk. Die Träge-
rin von Büchner-Preis und Buchpreis hat
ihren Helden Darius Kopp in ihrem neu-
en Roman in den sicheren Hafen gesteu-
ert. Er habe seinen Frieden mit sich ge-
macht: „Er ist der, der er ist, und schämt
sich nicht dafür.“ Wie die Besucher der
Buchmesse.
Ein Esoteriker ist er nicht. Peter Wohl-
leben ist Forstwirt und Bestsellerautor.
Aber sein Verlag Ludwig in München
weiß eben, wie er die Verkaufszahlen
steigern kann: mit dem Wörtlein „ge-
heim“ in jedem Titel. Leser sehnen
sich nach der Aufdeckung von Myste-
rien, seien es die im Vatikan oder die
im deutschen Wald. Gegen romanti-
sche Waldtümelei würde sich der Förs-
ter aus der Eifel verwahren, und das
mit Recht: Er ist auch in Schweden
und Polen unterwegs und in Kanada,
wo es gilt, den westlichen Regenwald
der indigenen Völker vor der Holzin-
dustrie zu schützen. Wohlleben, der
sich vor vier Jahren mit seinem Buch
„Das geheime Leben der Bäume“ ei-
nen Namen gemacht hat, weil er den
Lesern aufs Maul schaut, ist seitdem
auf allen Kanälen präsent: nicht als
Waldversteher, sondern als souveräner
Kenner der komplexen Zusammenhän-
ge des „Wood Wide Web“.
Im Gesellschaftshaus des Frankfur-
ter Palmengartens sprach er beim
„Bookfest“ der Buchmesse jetzt über
sein neues Werk „Das geheime Band
zwischen Mensch und Natur“. Ohne
eine einzige Zeile zu lesen und unter-
stützt von einem ebenso informierten
wie gebildeten Publikum brachte er die
Erkenntnisse der Wald-Grundlagen-
forschung über die Sinne und das Be-
wusstsein der Bäume in einem Frage-
Antwort-Spiel unter die Leser. Was ist
der Unterschied zwischen Pflanze und
Tier? Die Mobilität? Nein. Das Be-
wusstsein? Nein. Die Photosynthese?
Ja. Pflanzen stellen ihre Nahrung selbst
her. Die wenigsten fressen Tiere. „Ein
Ranking macht keinen Sinn“, folgerte
Wohlleben und berief sich auf den Phi-
losophen Emanuele Coccia, der be-
hauptet habe, Pflanzen müssten im
Ranking oben stehen.
Damit stünde die aristotelische Ord-
nung der Welt auf dem Kopf. Wohlle-
ben ist aber nicht nur mit Philosophen
im Bunde, sondern auch mit Hirnfor-
schern. Pflanzen haben an ihren Wur-
zelspitzen gehirnähnliche Strukturen.
Das haben Forscher herausgefunden,
die mit Betäubungsmitteln an ihnen ex-
perimentieren. Indem sie den Schmerz
unterdrücken, halten sie das Bewusst-
sein der Pflanze wach. Bewusstsein?
Neuronen müssen nicht im Kopf ste-
cken, sie können auch über den ganzen
Körper verteilt sein, wie wir vom Okto-
pus wissen. Pflanzen haben aber nicht
nur Strukturen, die Schmerzempfinden
und Bewusstsein vermuten lassen. Dass
sie atmen können, ist längst bekannt,
dass sie dank Linsenzellen auch sehen
können, erst seit kurzem. Jetzt hat man
sogar ihren „Herzschlag“ entdeckt: nur
ein Bild für das Sich-Ausdehnen und
Zusammenziehen des Stammes, um im
Frühjahr, wenn es noch keinen Unter-
druck durch schwitzende Blätter gibt,
das Wasser aus dem Boden nach oben
zu pumpen. Atmen und Schwitzen, Sau-
erstoff und Verdunstungskälte der Bäu-
me ist unser Glück: Wer keine Bäume
in seiner Straße hat, so sagen es Studi-
en, stirbt früher.
Und wenn es kein Wasser mehr
gibt? Auch die Bäume im Klimawandel
sind ein Thema in Wohllebens Buch.
Nur dass der Forstwirt nicht für Wie-
deraufforstung plädiert wie die um ihre
Profite bangende Forstwirtschaft, son-
dern dafür, es dem Wald zu überlassen,
welche Bäume er nachwachsen lässt.
Wie in Brandenburg, wo auf einer abge-
brannten Fläche die jüngst nachge-
pflanzten Jungkiefern gerade verdurstet
sind, Jungpappeln sich aber von selbst
angesiedelt haben – Pionierbäume
eben, die hart im Nehmen sind.
„Nicht der Wald stirbt, sondern die
Baumplantagen.“ Wohlleben wettert ge-
gen die tonnenschweren Harvester, die
den Boden verdichten und damit den
Wassertank der Bäume plattfahren.
„Die Fachleute wissen das genau, aber
sie schieben die Verantwortung auf das
Klima.“ Mittlerweile wisse man, dass es
in Berlin 15 Grad wärmer ist als in ei-
nem Buchenwald im Kreis Barnim:
„Jede Buche schwitzt täglich 500 Liter
Wasser aus.“ Alter Wald puffere die Ex-
treme ab. Dafür aber müsse man die al-
ten Bäume auch im Wald stehen lassen.
Wohlleben plädiert für 20 Prozent
Waldschutzgebiete: „Den Rest müssen
wir so schonend bewirtschaften, dass es
die Natur gar nicht merkt.“ Der Tau-
sendsassa unter den Förstern hatte sein
Publikum überzeugt: Die Menschen-
schlange am Büchertisch nahm kein
Ende. CLAUDIA SCHÜLKE
Nun ist es da: Auf der
Buchmesse hat das
Publikumswochenende
begonnen. Gestern war viel
los, heute geht es weiter.
Von Florian Balke
Herr Laschet und die tote Meise
Ausnahmsweise mal keine Cosplayerin: Eine Frau in samischer Tracht macht Fotos im norwegischen Gastlandpavillon. Foto Frank Röth
Gelungene Hummer
DieARD-Radiokulturnacht der Bücher im HR-Sendesaal
Aussichtsreich: Lukas Bärfuss erhält Anfang
November den Büchner-Preis. Foto dpa
Bäume des Lebens
Peter Wohlleben spricht im Palmengarten
Aristoteles steht auf dem Kopf: Peter Wohl-
lebenhat ein neues Buch dabei. Foto dpa