Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

R4 rhein-main FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


Läge das Restaurant
Kanouhou in einem
der trendigen Frank-
furter Stadtteile mit ih-
ren monströsen Miet-
preisen, dann wäre in
diesem Lokal wahr-
scheinlich vieles an-
ders. Es liegt aber in Offenbach an der
Bernardstraße. Gäste können dort eine
produktverliebte, phantasievolle Küche
erleben, die souverän und mit pointierter
Würzung französische, arabische, italieni-
sche Elemente mal mehr, mal weniger
pur auf die Teller bringt, in einer Quali-
tät, die vielerorts teurer bezahlt werden
müsste.
Das Lokal hat Inhaber und Küchen-
chef Abdellatif Kanouhou 2012 in einer
ehemaligen Pizzeria eröffnet, die er zu ei-
nem zurückgenommen-eleganten Raum
hat umgestalten lassen. Er habe sich da-
mit einen Traum erfüllt, sagte er damals
einer Zeitung am Ort.
Das kulinarische Angebot umfasst Vor-
speisen, Hauptgerichte und Desserts, zu-
sätzlich gibt es Salate und ein paar Ge-
richte, die man in normalen und kleinen
Portionen bestellen kann. Was zu haben
ist, können die Gäste untereinander kom-
binieren zu einem Vier-Gänge-Menü,
das dann 45 Euro kostet, oder zu einem
mit drei Gängen für 36 Euro. Die kleine
Karte wechselt wöchentlich, was keine
kleine Leistung bedeutet.

Gut ist, dass der Service nicht mehr
die Strategie aus den Anfangsjahren ver-
folgt, den Gästen mitunter fast drängend
die Menüs ans Herz zu legen. Denn dass
einer mit ihnen einen durchaus guten
Schnitt machen kann, sieht er vielleicht
selbst. Vielleicht ist es ihm aber auch
egal, und die Freiheit, bei Bedarf auch
nur zwei Gänge zu essen oder sich spät
noch für ein Dessert zu entscheiden, ist
ihm wichtiger.
Noch bis nächsten Samstag serviert
das Kanouhou marokkanische Gerichte.
Immer im Oktober mache er das, sagt
der Inhaber, die Kunden liebten es. Das
mag daran liegen, dass hierzulande arabi-
sche wie auch israelische Food-Konzepte
und alle, die Traditionen der Levante ver-
arbeiten, ungemein beliebt sind. Es kann
seinen Grund darin haben, dass die nord-
afrikanische Küche mit ihren vielen Rö-
staromen und Gewürzen, die auch säuer-
liche Elemente beisteuern, oft maßvoll
exotisch, aber traditionellen europäi-
schen Essgewohnheiten nicht völlig zuwi-
derlaufend ist. Vielleicht liegt es auch ein-
fach am Kanouhou-Team.
Top in einer Auswahl verschiedener
kleiner Vorspeisen war der Salat aus Au-
berginen und Tomaten (Zaalouk) mit an-
geschmolzenem Ziegenkäse und Datteln.
Was ein Allerwelts-Kneipengericht sein
könnte, ist hier elegant und fein wegen
der sehr guten Zutaten, die in den Propor-
ti0nen perfekt aufeinander abgestimmt

sind, und auch wegen der zeitgemäßen,
der Hochküche entlehnten Präsentation.
Hervorragend gelungen war auch die
grüne Erbsenschaumsuppe (Bissara):
mit dem vollen Geschmack der Hülsen-
früchte, dabei luftig, ohne substanzlos
zu sein, mit Arganöl verfeinert und mit
einer Merguez-Praline als Einlage, die
nicht klobig-knoblauchdeftig war. Aus
diesem wie aus anderen Gerichten lässt
sich herauslesen, dass nicht überpräsen-
te Schärfe das Ziel der Küche ist, son-
dern die Verwendung von Komponen-
ten wie etwa Salzzitronen (in einer Taji-
ne mit Perlhuhn, Oliven und gesalzenen
Mandeln) als Aromengeber, die sich
nicht aufdrängen, aber nachhaltig wir-
ken. Gleiches bei der Fisch-Tajine mit
Filetstücken vom Steinbeißer in einem
Tomatenragout mit Miesmuscheln und
Zucchinifäden, eine unbeschwert daher-
kommende, gut gedachte Zusammenstel-
lung. Was die Köche können, hatte
schon das Amuse-Bouche gezeigt: ein
kleines Glas mit einer leicht ingwer-
tonigen, samtigen Karotten-Hummer-
schaum-Suppe, dazu ein Stückchen ei-
nes dezent saftigen Kichererbsen-Ku-
chens mit einem Cremeklecks obenauf,
perfekt.
Fazit: für Leute, die klassisch gemachte,
dabei unkonventionelle Gerichte mögen.
Restaurant Kanouhou, Bernardstraße 36, Offenbach.
Telefon: 0 69/98 95 62 93. Öffnungszeiten: dienstags bis
samstags von 18 Uhr an.

GESCHMACKSACHE VON JACQUELINE VOGT


Mit Ziegenkäse und Salzzitronen


W


enn in der Wiesbadener
Innenstadt ein Wild-
schwein erschossen werden
muss, bekommt Ralf Mann
einen Anruf. Ob am Sonnenberger Fried-
hof oder mitten im Kurpark, Tag oder
Nacht: Während Polizei und Feuerwehr
den Verkehr umleiten und Passanten
fernhalten, prüft Mann, ob er schießen
kann, ohne jemanden zu verletzen. Er
stellt sicher, dass keine Mauern in der
Nähe sind, an denen eine Kugel abpral-
len könnte, und versucht, so nahe wie
möglich an das Tier heranzukommen.
Außerdem muss er eine Erhöhung fin-

den, von der aus er einen guten Über-
blick hat – als Ersatz für seinen Hochsitz
im Wald. Erst dann darf er auf das Wild-
schwein schießen.
Ralf Mann ist Stadtjäger. Als Angestell-
ter der Unteren Jagdbehörde der Stadt
Wiesbaden ist es seine Aufgabe, Wild, das
sich in bebaute Gebiete verirrt, zu schie-
ßen. Mann ist seit mehr als 20 Jahren Jä-
ger aus Leidenschaft. Die Innenstadt ge-
hört allerdings erst seit wenigen Jahren zu
seinem Revier. Immer häufiger gräbt

Schwarzwild dort Grünflächen um, bricht
in Schreber- und Vorgärten ein oder be-
dient sich an Komposthaufen. Von Zäu-
nen lässt es sich dabi selten beeindrucken.
Das Ordnungsamt Wiesbaden hat in
diesem Jahr bisher 15 Fälle notiert, in de-
nen privates oder städtisches Eigentum
beschädigt wurde. Manche Schäden wur-
den allerdings auch gar nicht förmlich auf-
genommen. Die Behörde schätzt, dass
Wildschweine in Wiesbaden rund zwei-
mal monatlich Schäden anrichten. Das
sind rund ein Viertel mehr Vorfälle als im
Jahr 2018. Die Zahl der sogenannten
„Stadtschweine“, wie Anwohner die un-
liebsamen Besucher mittlerweile gerne
nennen, wächst stetig. Wie viele Schwei-
ne es tatsächlich in Hessen gibt, ist indes
schwer zu sagen. Das liegt nicht zuletzt
daran, dass die Tiere in einer einzigen
Nacht bis zu 30 Kilometer wandern kön-
nen. Weder das hessische Umweltministe-
rium noch der Landesjagdverband verfü-
gen über aktuelle Bestandszahlen. Stadtjä-
ger Mann verweist auf die hohe Vermeh-
rungsrate der Schweine: Da eine Bache
bis zu acht Frischlinge bekomme, könne
sich eine Rotte jährlich verdreifachen.
Darüber hinaus sorgen die klimati-
schen Bedingungen dafür, dass der Be-
stand in Deutschland wächst. Buchen
und Eichen tragen in den trockenen
Sommern mehr Früchte – eine wichtige
Nahrungsquelle der Wildschweine. Laut
Markus Stifter, Pressesprecher des hessi-
schen Landesjagdverbands, ist der große
Bestand allein jedoch keine ausreichende
Erklärung für das Vordringen der Tiere
in die Städte. Häufig seien auch Anwoh-
ner verantwortlich, die ihren Grün-
schnitt einfach liegen ließen, Kompost-
haufen im großen Maßstab anlegten
oder Mais für Gänse ausstreuten. Stifter
macht auch darauf aufmerksam, dass die
Städte sich immer mehr ausdehnten und
der Lebensraum der Tiere immer weiter
eingeschränkt werde.
Das Wild in der Stadt zu schießen sei
zwar eine Notlösung, häufig aber nicht
zu vermeiden, sagt Ralf Mann. Alterna-
tiv könne man mit Narkosemittel schie-
ßen; das wirke allerdings erst nach 20 Mi-
nuten. Am besten sei es, einen der Frisch-
linge zu schießen, damit die Leitbache
künftig das Gebiet meide. Noch besser,
da sind sich Jäger und Behörden einig,
sei es aber, die Tiere im Wald zu jagen.
Geboten ist dies auch aus einem weite-

ren Grund: Die Afrikanische Schweine-
pest (ASP) grassiert in zahlreichen euro-
päischen Staaten. Diese Seuche ist unge-
fährlich für den Menschen, würde aber,
sollte sie nach Deutschland einge-
schleppt werden, die Schweinezucht mas-
siv gefährden. Der Hessische Bauernver-
band fordert deshalb schon seit Beginn
2018 eine Abschussquote von 70 Prozent.
Jäger Mann schätzt, dass es nur eine Fra-
ge der Zeit ist, bis ASP auch Hessen er-
reicht. Das Umweltministerium in Wies-
baden, das rund 240 000 Hektar Wald
als staatlichen Eigenjagdbezirk verwaltet
und noch einmal 95 000 Hektar an priva-
te Jäger verpachtet, empfiehlt „eine mög-
lichst intensive Bejagung“. Nach einer ge-
änderten Richtlinie vom Juli dieses Jah-
res sollen vermehrt Bachen, die keinen
Nachwuchs führen, erlegt werden.
Stifter zufolge ist es aber gar nicht so
einfach, dieser Forderung nachzukom-
men. Der Landesverband rät ebenfalls
seit 2016 zur vermehrten Jagd. Das Pro-
blem: Es gibt für Schwarzwild keinen Ab-
schussplan, weil man nicht weiß, wo sich
die Tiere aufhalten. Deshalb sei die Jagd
beispielsweise auf Rotwild viel leichter als
auf Schwarzwild, sagt Stifter. Und ob
eine Bache eine Rotte mit Nachwuchs
führe, sei oft schwierig zu erkennen. Hin-
zu komme, dass es überhaupt nur in weni-

gen Nächten, bei ausreichend Mond-
schein, hell genug sei, um zu jagen. Nicht
zuletzt seien weder der Dachverband
noch seine 53 Jagdvereine in Hessen wei-
sungsbefugt. Das bedeute, letztendlich
entscheide der Revierpächter, wie viel
Wild geschossen werde. Es gibt also viele
gute Gründe, warum die Abschusszahlen
hinter den Erwartungen zurückbleiben.
Im Jagdjahr zwischen April 2018 und
März 2019 wurden rund 35 000 Schweine
weniger erlegt als im Jahr zuvor. Das liegt
aber im Bereich der ganz normalen
Schwankungsbreite, wie Stifter sagt.
Der Landesjagdverband versucht nun,
revierübergreifend sogenannte Drückjag-
den zu organisieren, bei denen mit Hun-
den und lauten Rufen das Schwarzwild
aus dem dichten Buschwerk gescheucht
und dann geschossen wird. Man versuche,
diese Technik zu verfeinern, sagt Stifter.
Bis es den Jägern gelingt, die Zahl der
Wildschweine in Hessen deutlich zu ver-
ringern, wird Ralf Mann aber wohl wei-
ter in der Stadt jagen. Erst vor wenigen
Tagen haben Anwohner 15 Schweine in
der Nähe des Wiesbadener Thermalbads
gesichtet. Wenn der Winter so mild
wird, wie Mann erwartet, werden wohl
auch die meisten der neugeborenen
Frischlinge überleben und sich im nächs-
ten Jahr weiter vermehren.

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Gut 20 Wildschweine waren in der Nacht zum
vergangenen Freitag in der Wiesbadener
Innenstadt. Landes- und Stadtpolizei verfolgten
die Rotte, die unbehelligt in den Kurpark
entkam und nicht mehr gesichtet wurde.
Ein Vorfall von vielen ähnlichen. Nicht immer

geht so etwas gut aus, auch nicht für die Tiere.


Von Helena Weise


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dafür, wenn es sich in
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Straße unten zum Beispiel...
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