von peter fahrenholz
W
ürde man diese Geschichte
spontan glauben, wenn man
sie irgendwo hörte? Eine Frau
steigt mit 64 Jahren zum ers-
ten Mal auf ein Motorrad, übt ein bisschen
und fährt dann, ohne Motorradführer-
schein und auf einer viel zu kleinen Maschi-
ne, fast vier Monate lang um die halbe
Welt, die meiste Zeit davon völlig allein.
Klingt verrückt, würden viele sagen. Aber
es ist tatsächlich passiert: Margot Flügel-
Anhalt hat sich im vergangenen Jahr auf ih-
re 11-PS-Honda gesetzt und ist losgefahren
aus ihrem kleinen Dorf Thurnhosbach in
Nordhessen über Polen, die Ukraine, Russ-
land, Kasachstan bis nach Kirgisistan ins
Pamir-Gebirge mit seinen über 4000 Me-
ter hohen Pässen und durch Iran, die Tür-
kei und den Balkan wieder zurück.
Motorräder bis 125 Kubikzentimeter
darf man auch ohne Motorradführer-
schein fahren, wenn man seinen Autofüh-
rerschein vor 1980 gemacht hat. Egal, ob
man Motorrad fahren kann oder nicht.
Margot Flügel-Anhalt kann es anfangs
eher nicht. „Ich habe die Honda aus der Ga-
rage geschoben“, erzählt sie über ihr erstes
Erlebnis, „und bin bei der ersten Biegung
umgefallen.“ Sie nimmt ein paar Fahrstun-
den, ohne die Prüfung zu machen, übt in ih-
rer Heimat ein bisschen und unternimmt
mir ihrem Sohn eine Motorradreise nach
Schottland. Dann fährt sie los. „Wenn ich
aufbreche, bin ich einfach eins mit mir. Es
gibt nichts, was mich glücklicher macht.“
Nach ihrer Rückkehr ist viel los. Sie tritt in
Talkshows auf, schreibt ein Buch über ihre
Reise. Und es entsteht ein sehr sehenswer-
ter Dokumentarfilm über dieses unge-
wöhnliche Abenteuer, der seit September
bundesweit in bisher mehr als 140 Pro-
grammkinos gezeigt worden ist. Aber das
ist noch mal eine ganz eigene Geschichte.
Anders als viele andere Fernreisende ist
Margot Flügel-Anhalt keine Abenteurerin
und auch keine Aussteigerin, die den Zwän-
gen und Konventionen eines bürgerlichen
Lebens entfliehen will. „Ich nehm ja noch
nicht mal Drogen“, sagt sie und lacht. Die
mittlerweile 65-Jährige ist eine geerdete
Frau. Sie hat viele Jahre als Sozialpädogin
für die nordhessische Stadt Eschwege gear-
beitet, hat für eine Reihe von Menschen,
die aus verschiedenen Gründen mit ihrem
Leben nicht zurechtkommen, die Betreu-
ung übernommen, war zweimal verheira-
tet und hat zwei Söhne. Aber von Anfang
an ist sie gerne draußen, gerne unterwegs.
Als Kind hält sie sich oft im Wald auf, heute
noch schnappt sie sich immer wieder ihren
Schlafsack, um unter Bäumen zu über-
nachten. Ihr Studium unterbricht sie, lebt
ein Jahr in Casablanca, kehrt zurück, um in
Berlin weiter zu studieren, und lebt dann
17 Jahre lang dort, obwohl Städte gar nicht
ihr Ding sind. 1993 siedelt sie nach Nord-
hessen um. Ihr zweiter Mann teilt ihre Lei-
denschaft für die Natur. Als er 2012 stirbt,
läuft sie sich ihre Trauer auf langen Wande-
rungen heraus, auf dem Jakobsweg, in den
Alpen. Immer etappenweise, während ih-
rer Urlaube. Sie spürt, dass ihr das nicht
reicht. „Es war mein großer Wunsch, mal
richtig lange unterwegs zu sein.“
Die Idee zu einer solchen Reise reift,
und von Anfang an ist klar, dass es nach Os-
ten gehen soll, denn so kann sie von zu Hau-
se starten, ohne erst irgendwohin fliegen
zu müssen oder schon nach kurzer Zeit an
Europas Grenzen zu stoßen. Der erste Plan
klingt mindestens so verrückt wie die Rei-
se, die sie dann tatsächlich gemacht hat:
Sie will mit einem Muli durch Russland
wandern. Also ruft sie bei der Bundeswehr
an, Abteilung für Tragtierwesen. Ob sie
vielleicht ein pensioniertes Maultier be-
kommen könnte. Aber die Bundeswehr
gibt keine außer Dienst gestellten Maultie-
re ab. Die hätten ihren Ruhestand ver-
dient, sagt ihr ein Oberfeldwebel.
Danach wird relativ schnell klar, es soll
mit dem Motorrad losgehen. „Mit dem Au-
to, das wäre ja nichts Aufregendes.“ Sie
wollte schon früher auf zwei Rädern fah-
ren, aber zwei Motorradunfälle ihres Soh-
nes hatten ihr Respekt eingeflößt. Der Re-
spekt ist geblieben. Motorradfahren ist an-
spruchsvoller als Autofahren. Man muss
mit der rechten Hand Gas geben oder die
Vorderradbremse ziehen, mit der linken
Hand kuppeln, mit dem linken Fuß schal-
ten, mit dem rechten Fuß die Hinterrad-
bremse betätigen. Und zugleich auf die
Straße achten. Oder auf die Piste, wenn es
keine Straße mehr ist.
Dann geht es ums Offroadfahren, und
da kann jeder Stein, den man übersieht, je-
de Rinne, in die man gerät und jedes Schlag-
loch, das tiefer ist als gedacht, schnell zum
Sturz führen. Fragt man Experten, wird
schnell klar, dass Margot Flügel-Anhalt
hier ein gezieltes Training zu Hause gutge-
tan hätte. „Der schlimmste Fehler ist,
wenn man direkt vor sein Motorrad guckt“,
sagt etwa Wolfgang Klentzau. Zehn bis
15 Meter müsse man vorausschauen, das
sei das Entscheidende. Klentzau ist ein er-
fahrener Motorradreisender. 2015 war er
mit zwei Freunden in Sibirien, in diesem
Jahr in Kirgisistan. Er zählt auf, was man al-
les dabeihaben sollte, wenn man sich in sol-
che Gegenden wagt: Lenkkopflager, Radla-
ger, Gabelsimmerringe, Öl, ein Kupplungs-
reparaturset, Kabelbinder, eine Tüte mit
diversen Schrauben. „Und du solltest auf je-
den Fall Reifen wechseln können und das
entsprechende Werkzeug dabeihaben.“
Margot Flügel-Anhalt hat vier Ersatzhe-
bel für Bremse und Kupplung, zwei Ersatz-
schläuche für die Reifen, ein bisschen
Werkzeug und das Handbuch ihrer Honda
dabei, das sie immer wieder liest. Und sie
hat Glück, nicht das einzige Mal auf ihrer
Reise. Ihr Motorrad lässt sie nicht im Stich,
wird zu einer Art Gefährte, mit dem sie
auch spricht. „Die Honda hatte keinerlei
technische Probleme“, sagt sie.
Die Tage vor der Abreise schläft sie
schlecht, alle möglichen Gedanken gehen
ihr durch den Kopf. Sie bekommt die Skep-
sis ihres Umfeldes mit. „Vielleicht bin ich
verrückt“, denkt sie. Aber abbringen lässt
sie sich nicht. „Ich fand das schon eine ex-
trem unkonventionelle Idee, ohne Führer-
schein, mit einem so kleinen Motorrad“,
sagt Johannes Meier. Der 45-Jährige ist im
Hauptberuf Pfarrer und arbeitet im Lan-
deskirchenamt der nordhessischen Lan-
deskirche. Er kennt Margot Flügel-Anhalt
aus einer gemeinsamen Theatergruppe.
Genau wie Paul Hartmann. Der 21-Jährige
studiert Filmproduktion in Ludwigsburg.
Die beiden überzeugen Margot Flügel-An-
halt, dass es doch eine tolle Idee wäre, ei-
nen Film über die Reise zu drehen. Aber sie
haben gerade mal zwölf Tage Zeit, viel zu
wenig für so eine lange Reise. Also be-
schließt man, sich zweimal für wenige Ta-
ge zu treffen. Den Rest soll Margot Flügel-
Anhalt selbst filmen, mit dem Handy und
ihrer Helmkamera. Sie bekommt einen
Schnellkurs im Filmen. Mit dem Handy im-
mer im Querformat aufnehmen, schärfen
ihr die beiden ein. Die ersten Aufnahmen
schickt sie im Hochformat. Aber am Ende
bringt sie mehr als 220 Stunden Videoma-
terial mit. Zusammen mit dem Material
der Filmemacher entsteht daraus der Do-
kumentarfilm „Über Grenzen“.
Und die beiden sind der zweite große
Glücksfaktor der Reise. Denn genau an
den Tagen im Pamir, als es auf einmal sehr
kritisch wird, sind sie mit dabei. Am Kyzyl-
Art-Pass, der mehr als 4000 Meter hoch
ist, schlägt das Wetter um, es schneit, und
die Staubpiste verwandelt sich in eine
Schlammwüste. Immer wieder rutscht
Margot Flügel-Anhalt im Schlamm aus.
Paul Hartmann springt dann aus dem Be-
gleitfahrzeug und hilft ihr, das schwer be-
packte Motorrad wieder aufzurichten. We-
nig später stürzt sie und quetscht sich den
Fuß. Weiterfahren geht nicht. Fast wie En-
gel kommen zwei polnische Motorradfah-
rer vorbei, Vater und Sohn. Der Sohn ist Sa-
nitäter, holt seinen Notfallkoffer heraus
und bandagiert den Fuß fachmännisch.
Die Hilfsbereitschaft ist ohnehin das beste
Sicherheitsnetz in Zentralasien. Nicht nur
die Reisenden helfen sich gegenseitig,
auch bei den Einheimischen kann man dar-
auf zählen, dass sie Wildfremden beisprin-
gen. Margot Flügel-Anhalt ist davon im-
mer wieder beeindruckt. Nach längerer Be-
ratung beschließt man, dass Paul Hart-
mann, der noch nie Motorrad gefahren ist,
die Maschine zum nächsten Etappenziel
fahren soll. Der schlanke Hartmann passt
von der Figur her in Margots Motorradkla-
motten. Irgendwie geht die Sache gut.
Auch auf der Rückreise in Iran sind die
beiden ein paar Tage dabei. Die Filmse-
quenzen dieser Etappe sind besonders ein-
drucksvoll. Denn Margot Flügel-Anhalt ist
hin- und hergerissen von diesem schwieri-
gen Land. Einerseits die überwältigende
Herzlichkeit der Menschen. Andererseits
die überall spürbaren Repressionen eines
Systems, das vor allem die Rechte der Frau-
en beschneidet. Als Margot Flügel-Anhalt
die Grenze zur Türkei überquert, legt sie
als Erstes das verhasste Kopftuch ab, das
sie in Iran tragen musste.
Aber sie möchte unbedingt wieder hin.
„Wenn ich zu Hause bin, überfällt mich so-
fort eine unendliche Sehnsucht.“ Die nächs-
te Reise ist längst geplant, in wenigen Ta-
gen geht es los. Zunächst mit dem Auto, ei-
nem fast 25 Jahre alten Mercedes. Über die
Türkei und Iran nach Indien, Myanmar und
Thailand. Dort will sie sich ein Motorrad
mieten (den Motorradführerschein hat sie
inzwischen) und durch den Dschungel nach
Laos fahren. Und wenn der betagte Benz un-
terwegs den Geist aufgibt? „Das kann pas-
sieren.“ Dann will sie überflüssiges Gepäck
nach Hause schicken und mit Bus, Bahn
oder Schiff weiterreisen. „Solange ich mich
bewegen kann, gehe ich weiter.“ Gut drei
Monate will sie unterwegs sein.
Die letzte große Reise wird das aber
noch nicht sein. Denn ihren eigentlichen
Traum kann sie sich erst erfüllen, wenn sie
zu Hause ihre Betreuungsaufgaben abge-
geben hat: ohne jedes Zeitlimit wegzufah-
ren. „Ob das drei Monate dauert oder drei
Jahre, keine Ahnung.“ Ihr Fernweh ist un-
endlich groß. „Eigentlich will ich gar nicht
zurück“, sagt sie. Eine Reise ohne Wieder-
kehr? „Ich kann mir vorstellen, dass sie das
macht, ich kann mir bei Margot prinzipiell
alles vorstellen“, sagt Pfarrer Johannes Mei-
er. Immer wieder aufbrechen, das ist für
Margot Flügel-Anhalt das Schönste. „Es
geht ja nicht darum, alt zu werden, son-
dern darum, zu leben“, sagt sie.
DEFGH Nr. 240, Donnerstag, 17. Oktober 2019
REISE
Mit elf PS
nach Kirgisistan
Vom Glück, unterwegs zu sein: Margot Flügel-Anhalt
ist alleine 18 000 Kilometer auf dem Motorrad von ihrem Dorf
in Hessen aus durch Zentralasien gefahren
Vier Ersatzhebel und
zwei Schläuche hat sie dabei.
Aber die Honda hält durch
Ihr Traum ist es, ohne jedes
Zeitlimit wegzufahren: „Ich
will eigentlich nicht zurück.“
Junges Gemüse
Auf den Dächern von Paris gibt es viele
Gärten. Die Ernte kann man verkosten 31
Alter Wald
Der Hainich sieht im Herbst fantastisch
aus– aber der Eindruck täuscht 30
Margot Flügel-Anhalt ist gerne allein unterwegs.
Doch als im Pamir das Wetter umschlägt, hat sie Glück:
Just in diesen Tagen ist ihr Filmteam dabei und hilft ihr,
das Motorrad aus dem Schlamm zu wuchten. Dass sie
in Iran ein Kopftuch tragen muss, stört sie enorm.
FOTOS: FILMDOKU „ÜBER GRENZEN“