Herbst
im
Urwald
Der Hainich in Thüringen ist
der größte Laubwald in Deutschland.
In dieser Jahreszeit sieht er
fantastisch aus – aber der
Eindruck täuscht
von dominik prantl
D
a liegt nun der Wald in seiner gan-
zen gewaltigen Chamäleonhaf-
tigkeit, langsam von Grün ins
Gelb und Rot changierend; von
hier oben wirkt er wie eine große bunte
Blätterinsel inmitten eines Meeres aus
braunen Ackerflächen. Dietrich Reiche
sagt: „Dieses Jahr ist der Herbst wegen der
Trockenheit schon drei Wochen eher da.“
Es klingt nicht so, als wäre er deshalb son-
derlich begeistert.
Reiche steht gerade auf dem Turm des
Baumkronenpfads im Nationalpark Hai-
nich, 40 Meter über dem Boden, als Natio-
nalpark-Ranger kennt er diese Perspekti-
ve. Die nur schemenhaft durch die grauen
Regenwolken zu erkennenden Hügel im Sü-
den gehören zum Thüringer Wald; so steht
es zumindest auf einem kleinen Schild.
Auf der anderen Seite ist der geografische
Mittelpunkt Deutschlands ausgeschrie-
ben, nur zehn Kilometer Richtung Norden,
in der Nähe von Niederdorla.
Hier, ziemlich genau im Zentrum
Deutschlands also, liegt der Hainich, mit
16 000 Hektar das größte zusammenhän-
gende Laubwaldgebiet Deutschlands.
7500 Hektar davon sind seit 1997 als Natio-
nalpark ausgewiesen, ein „Urwald mitten
in Deutschland“, wie es über den Hainich
gerne heißt. Im sehenswerten Besucher-
zentrum zu Füßen des Baumkronenpfades
illustrieren Zahlen die Bedeutung dieses
Biotops: 55 Baumarten, 188 Vogel-, 52 Säu-
getier- und 34 Ameisenarten. Im Artenbe-
richt 2010 sind insgesamt 5782 Tierspezi-
es für den Nationalpark gelistet. Experten
glauben, dass es bis zu 10000 sind, natür-
lich vor allem Insekten. Das kann vielleicht
nicht ganz mit dem Regenwald am Amazo-
nas konkurrieren, aber für ein Wochenen-
de genügt der Reichtum allemal. Zudem
gibt es mit der hier in guter Stückzahl ver-
tretenen Wildkatze ein omnipräsentes
Symboltier, mit dem sich die Anliegen des
Nationalparks an die Besucher sichtlich
besser verkaufen lassen als mit Schwefel-
porling, Reitters Strunk-Saftkäfer oder
auch der Schabrackenspitzmaus.
Wenn Ranger Reiche über die brücken-
artige Konstruktion des Baumkronen-
pfads führt – „da, schauen Sie, ein Wasch-
bär im alten Baumstumpf, wo sonst oft
ein Mittelspecht sitzt“ –, dann sieht er
auch immer noch vieles, das ihm gefällt.
Alleine auf diesen knapp 540 Metern
durch die Kronen des Waldes kommt man
an fast einem Dutzend Baumarten vorbei,
auf Augenhöhe gewissermaßen, zehn bis
24 Meter über dem Boden. Sommerlinde,
Winterlinde, Stieleiche, Elsbeere. Und
wenn der Wind in die Äste fährt, beginnen
die Bäume zu tanzen und zu rauschen, als
gäbe es eine große Party für den Wald.
Wirklich Grund zum Feiern hat er aber
nicht.
Denn die unheilvollen Zeichen mehren
sich, selbst hier, wo die üblichen Ärgernis-
se wie Sturmschäden und Borkenkäfer
dank der gesunden Waldstruktur und dem
geringen Nadelwaldanteil so gut wie keine
Rolle spielen. Aber dort, diese Esche zum
Beispiel, „der gefährdetste Baum in
Deutschland“ (Reiche) wegen des durch
eine Pilzart verursachten Eschentriebster-
bens. Oder da, die Rotbuche, der „Mutter-
baum von Deutschland“, wie Reiche meint.
Im nächsten Atemzug schwärmt er dann
von der Buche, als handele es sich um ein
Wunderkind. „Die ist so talentiert, die
steht auf Kreide auf Rügen, auf Sandboden
in Mecklenburg und auf sauren Böden in
Hessen.“ Im Hainich liege der Anteil der
Rotbuche bei 50 bis 60 Prozent. Sie ist auch
der Grund, weshalb knapp 5000 Hektar im
Jahr 2011 als Unesco-Weltnaturerbe ausge-
zeichnet und damit irgendwie auch an die
gesamte Menschheit abgetreten wurden.
Bei diesem hochgewachsenen Exemplar
zu Reiches Linken allerdings, „da hoffe ich
mal, dass sie überlebt“. Die Blätter sind zer-
schrumpelt und braun, und das nicht we-
gen des Herbstes. „Das sind Trockenschä-
den“, sagt Reiche. Auf einem grellgelben
Schild unten am Waldboden steht die War-
nung: „Vorsicht Bruchgefahr“. Reiche sagt:
„Der Wald hat sich durch die letzten beiden
heißen Sommer massiv verschlechtert.“
Nun ist der Ranger beileibe niemand,
der zum Alarmismus neigt. Im Grunde fin-
det er das Prinzip des Wandels an sich eher
gut, so wie damals vor 30 Jahren, als die
Mauer fiel. Reiche ist in der DDR in einer
nicht ganz so systemtreuen Familie aufge-
wachsen. 1973 begann ganz in der Nähe
des 2005 eröffneten Baumkronenpfades
seine Waldkarriere als Forstarbeiter. Er
war damit gelegentlich so etwas wie der na-
türliche Feind der Bäume. Seinem Vorge-
setzten beim Nationalpark habe er beim
Dienstantritt vor rund neun Jahren auch
schon erklären müssen, dass er dem
Drang, die Kettensäge anzusetzen, durch-
aus widerstehen könne. „Hatte ich lange
genug“, sagt er, und meint damit Ketten-
säge wie DDR.
Allerdings hat der Hainich den Status
als Nationalpark und Welterbe auch ein
bisschen dem Kalten Krieg zu verdanken.
Der Wald rutschte ja erst durch die Wieder-
vereinigung von der Peripherie ins Herz
der Nation. Zuvor hatten Teile davon den
sowjetischen Streitkräften und der Natio-
nalen Volksarmee als Übungsgelände ge-
dient. Vom Aussichtsturm des Hainich-
blicks zum Beispiel sind noch die Schnei-
sen zu sehen, die einst Panzer walzten. Auf
der Fahrt dorthin, vorbei an einer zur
Umweltbildungsstation umfunktionierten
ehemaligen Garage für Militärfahrzeuge,
meint Reiche eher beiläufig: „Hier Schieß-
bahn zwei, da haben sie mit Panzerfäusten
und Maschinengewehren geschossen.“
Der Großteil des schon seit Langem ex-
tensiv bewirtschafteten Waldes hatte den-
noch eine recht entspannte Zeit. Hunderte
Jahre alte Buchen und Eichen wachsen
dort zum Teil ganz ohne Haltungsschäden
gen Himmel. Bläst mal der Sturm einen
der teilweise kerzengeraden Stämme um,
stehen unten schon die jungen Sprösslinge
parat, wie gierig darauf wartend, die ent-
standene Lücke zu schließen, während der
Gefallene als Totholz allen möglichen Orga-
nismen als Lebensraum dient. Anderswo
erobert sich der Wald freie Flächen zurück
oder ersetzt ehemalige Monokulturen. So
wie am Craulaer Kreuz, wo der Fichten-
forst im Jahr 2000 geerntet wurde. Inzwi-
schen steht der Mischwald dort wieder
knapp zehn Meter hoch. „Weide, Buche, Ei-
che, Kirsche, Spitzahorn“, und wenn Rei-
che die Laubbäume so aufzählt, scheint
mitzuschwingen: Pfeif auf die Fichte!
Die Erklärung zum Nationalpark und
zum Weltnaturerbe gab aber nicht nur der
Natur die Freiheit, wild werden zu dürfen.
Sie setzte die Gegend zugleich auf die tou-
ristische Landkarte. Anne-Katrin Ibarra
Wong von der Welterberegion Wartburg-
Hainich, welche immerhin auch Martin Lu-
ther und das ganze Drumherum zu bieten
hat, meint: „Aus Marketingsicht spielt der
Nationalpark eine noch größere Rolle als
der kulturelle Bereich.“ Alleine der für
mehr als vier Millionen Euro eingerichtete
Baumkronenpfad lockt dabei jährlich
rund 200 000 Besucher. Etwa ein Fünftel
davon kommt im Oktober, dem Monat der
natürlichen Laubmalerei. An guten Herbst-
tagen stehen jene, die das Dach des Waldes
sehen wollen, nicht selten in der Schlange.
Ziemlich sicher profitiert der Hainich
dabei auch von der neu entflammten Be-
geisterung der Deutschen für ihren Wald.
Zwischen Hessen und Usedom beginnen
sich sogenannte Heilwälder und Wald-
bademeister im Angebot der örtlichen Kur-
orte zu verwurzeln, Hotels werben mit
Wilder Waldküche und Baumtherapien,
Autoren schreiben vom Wood Wide Web
oder dem geheimen Leben der Bäume. In
der Waldakademie des deutschen Lieb-
lingswaldmeisters Peter Wohlleben kann
man sich zum Waldführer ausbilden las-
sen oder nur ein Pilzseminar für Anfänger
belegen. Selbst im bodenständigen Hai-
nich gibt es ein Waldresort mit Burnout-
Ratgeber und Shinrin-yoku (japanisch für
Waldbaden). Und Reiche bestätigt sämtli-
che Studien über die positive Wirkung des
Waldes auf das Immunsystem, wenn er
meint, er sei seit seinem Dienstantritt als
Ranger vor neun Jahren nie wirklich
krank gewesen.Während der Mensch also
den Wald immer mehr als Erholungsziel
für Ausflügler und Naturklinik für die Aus-
gebrannten entdeckt, kämpft manch ein
Baum heute selbst mit dem Stress.
Jener der Buche lässt sich auch messen
und früh erkennen, zum Beispiel an ihrem
gesteigerten Fortpflanzungsdrang. „In
den vergangenen 20 Jahren konnten wir
beobachten, dass wir alle zwei bis drei Jah-
re eine Mast hatten. Da war der ganze Bo-
den voller Bucheckern. Sonst ist das alle sie-
ben Jahre der Fall“, sagt Andreas Henkel.
In der Nationalparkverwaltung in Bad Lan-
gensalza ist er für Naturschutz und For-
schung zuständig; der Park ist schließlich
auch ein riesiges Waldlabor. Im Gespräch
zerlegt Henkel den Hainich in Raster und
Probepunkte, er erzählt von Grundwasser-
projekten und Biodiversitäts-Explorato-
rien zur biologischen Vielfalt. Aber auch er
muss eingestehen: „Durch die beiden ver-
gangenen Sommer wurde das Wissen über
den Wald über den Haufen geworfen. Wir
hätten nicht gedacht, dass die Trockenheit
die Buche so mitnimmt.“
Dabei waren weniger die geringen Nie-
derschläge als vielmehr die hohen Tempera-
turen für die Trockenheit verantwortlich.
Gab es zwischen 1950 und 1980 noch etwa
drei Tage pro Jahr mit Temperaturen von
mehr als 30 Grad Celsius im Hainich, waren
es in den vergangenen zehn Jahren 14 und
2018 sogar 29 Tage gewesen. Und wer in
der Nationalparkverwaltung auf eine Karte
mit den sogenannten Vitalitätsänderungen
der Waldflächen zwischen Juli 2018 und Ju-
li 2019 blickt, kapiert ziemlich schnell, dass
der Burn-out der Buchen vielleicht ernster
zu nehmen ist als der von so manchem Ge-
schäftsführer. In knapp einem Drittel des
Waldes zeigte die Wasserarmut innerhalb
nur dieses einen Jahres bereits Wirkung.
Was das für die Rotbuche langfristig be-
deutet, ist freilich noch nicht ganz klar.
Henkel sagt – und es klingt wie ein Verspre-
chen: „Wir beobachten das. Wir sind ge-
spannt.“ Reiche, seit einigen Jahren Groß-
vater und kurz vor der Pensionierung,
sagt: „Ich hab schon die Hoffnung, dass
meine Enkelkinder noch lange was davon
haben.“ Er meint den Wald, die Wildkatze,
die Rotbuche. Aber ganz sicher ist er sich
da natürlich nicht.
Bisher erschienen: Mit dem Bus nach Stockholm
(19.9), Radtour durch Holland (26.9.), zu Fuß nach
Italien(2.10.). Die Serie im Netz: sz.de/thema/Rei-
sen_ohne_Flug
Während der Mensch den Wald
als Naturklinik nutzt, sind
manche Bäume gestresst
A4
THÜRINGEN
Werra
5km
SZ-Karte: Mainka/Maps4News
Eisenach
Bad
Langensalza
Mühlhausen/Thüringen
Gotha
Hütscheroda
Nationalpark Hainich
Baumkronenpfad
Teil 4
NationalparkHainich
R
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FLUG
Der knapp 540 Meter
langeBaumkronenpfad
des Hainich-Nationalparks
ist besonders im Oktober
beliebt, wenn die
Blätter der Bäume
sich verfärben.
Ranger Dietrich Reiche
führt Gruppen durch
den Wald. Dabei trifft er
weit häufiger auf das
für den Lebenskreislauf
wichtige Totholz als
auf die Wildkatze,
das Symboltier
des Parks.
FOTOS: RÜDIGER BIEHL (2),
THOMAS STEPHAN (2), PRANTL
Anreise: Mitdem Zug nach Eisenach oder Bad Langen-
salza, zum Beispiel von München aus in drei bis drei-
einhalb Stunden. Von dort mit dem Hainichbus (Linie
150) zum Baumkronenpfad oder nach Hütscheroda.
Baumkronenpfad:Im Oktober von 10 bis 19 Uhr, im
November und Dezember bis 16 Uhr geöffnet. Eintritt
für Erwachsene elf Euro, Kinder zwei bis vier Euro,
Tel. 036 03 / 82 58 43, http://www.baumkronen-pfad.de
Wildkatzendorf:Im Oktober noch täglich bis 18 Uhr
geöffnet, Erwachsene sieben Euro, Fütterungszeiten
auf http://www.wildkatzendorf.com, Tel. 03 62 54 / 86 51 80
Übernachtung:Das Hotel zum Herrenhaus in Hüt-
scheroda liegt direkt am Nationalpark Hainich, ÜN im
DZ mit Frühstück ab 41,50 Euro pro Person, Telefon:
03 62 54 / 72 00, http://www.hotel-zumherrenhaus.de
30 REISE Donnerstag, 17. Oktober 2019, Nr. 240 DEFGH
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